Marc Hieronimus (Hg.)
Historische Quellen im DaF-Unterricht
• • • • •
••••••••••• ••••••••••
Band 86
Materialien
Deutsch als Fremdsprache
liversitätsdrucke Göttingen
Copyright«) malerial
Marc Hieronimus (Hg.)
Historische Quellen im DaF-Unterricht
Tins work is licensed under the
Creative Commons License 3.0 "by-nd",
allowing you to download, distnbute and print the
document in a few copies for private or educational
use, given that the document stays unchanged
and the creator is mentioned.
You are not allowed to seil copies of the free version.
©
SOME RIGHTS RESERVED
erschienen als Band 86 in der Reihe „Materialien Deutsch als Fremdsprache
in den Universitätsdrucken im Universitätsverlag Göttingen 2012
Marc Hieronimus (Hg.)
Historische Quellen
im DaF-Unterricht
Materialien
Deutsch als Fremdsprache
Band 86
Universitätsverlag Göttingen
' 7 } 7
2012
Copyrighted malerial
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliofhek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über
<http:/ /dnb.ddb.de> abrufbar.
Die „Materialien Deutsch als Fremdsprache" sind eine Reihe des Fachverbands
Deutsch als Fremdsprache e.V. (FaDaF), in der Tagungsergebnisse, Dissertationen und
andere wichtige Einzeldarstellungen aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache
veröffentlicht werden.
http:/ /www.fadaf.de/ de/Publikationen/mat_daf/
fadaf
Schriftleitung: Annett Eichstaedt; Annegret Middeke
Dieses Buch ist nach einer Schutzfrist auch als freie Onlineversion über die Homepage
des Verlags sowie über den OPAC der Niedersächsischen Staats- und
Universitätsbibliothek (http:/ /www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar und darf gelesen,
heruntergeladen sowie als Privatkopie ausgedruckt werden. Es gelten die
Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Es ist nicht gestattet, Kopien oder gedruckte
Fassungen der freien Onlineversion zu veräußern.
Satz und Layout: Marc Hieronimus
Umschlaggestaltung: Franziska Lorenz
Titelabb.: Lern Riefenstahl bei Dreharbeiten (Bundesarchiv Bild 146-1988406-29)
© 2012 Universitätsverlag Göttingen
http: / /univerlag.uni-goettingen.de
ISBN: 978-3-86395-061-3
ISSN: 1866-8283
Inhalt
Einleitung III
Uwe Koreik
Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht —
zur Arbeit mit historischen Quellen 1
Thomas Roth
Historische Quellen im Internet 15
Jürgen Nielsen-Sikora
Fotografie als historische Quelle? 59
Wolfgang Koller
Der Film als historische Quelle 77
Jens Grimstein
Zeitgeschichtliche Filmszenen für den DaF-Unterricht —
Praktische Beispiele und Erfahrungen 91
Beatrice Wiegand
Historische Audio- und Videodokumente im DaF- /Phonetikunterricht -
Vorschläge und Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis 103
Jens Grimstein
Formen der Arbeiterliteratur für den DaF- und Deutsch-Unterricht 115
Arndt Kremer
Namen schildern -
Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht 135
Joachim Sistig
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien 177
Marc Hieronimus
Plakate im DaF-Unterricht 209
Autoren 237
Copyrighted malerial
Copyrighted malerial
Einleitung
Marc Hieronimus
Die Kombination von Titel und Titelbild des vorliegenden Bandes mag manche
Fachkraft für Deutsch als Fremdsprache stutzen machen: Das ist doch die
Riefenstahl, beim Dreh eines dieser Propagandastreifen?! Da gibt man sich alle
Mühe, den Lernern den Reichtum der Geschichte und Gegenwart der deutsch-
sprachigen Länder aufzuzeigen und ihre hartnäckigsten Vor- und Fehlurteile zu
korrigieren, hält sich also gar nicht allzu lange mit dem deutschen Trauma der NS-
Zeit auf — und dann prangt da gleich auf dem Cover ein Foto aus just dieser
Epoche!
Nun, zunächst handelt es sich bei dem Set-Foto um eine historische Quelle,
sogar um eine Meta-Quelle, wenn der Ausdruck erlaubt sei: Wir sehen Leni
Riefenstahl in jungen Jahren bei der Arbeit am Olympia-Film, der selbst Auskunft
über Vergangenes erteilt. Die historisch vorbelastete Lehrkraft wird unschwer auch
an diesem Foto von der Riefenstahl ihre Ästhetik wieder erkennen: der klare, helle
und doch ein wenig „wilde" Himmel, die Inszenierung von Ernst und Arbeit, von
Uninszeniertheit, vor allem das Erhabene der Froschperspektive, die das Publikum
zur Hauptfigur wie zu einer Göttin oder zumindest einer „ganz Großen"
aufschauen lässt — hat sie nicht an anderer Stelle ihre Kameras buchstäblich einge-
graben, um Hitler und die Seinen möglichst imposant zeigen zu können?
Das ist aber nicht der Blick der afrikanischen Deutschschülerin oder des chine-
sischen Studenten im Anfängerkurs. Auch fortgeschrittene Lerner werden beim
Betrachten des Fotos nicht unbedingt an Aufmärsche und Konzentrationslager
denken, sondern sich zum Beispiel fragen, warum auf diesem offenkundig „alten"
Bild eine Frau die Kamera führt, wo im Film wie in so vielen anderen Berufen
Copyrighted malerial
IV
Marc Hieronimus
doch bis heute die Männer den Ton angeben, werden sich für ihr Aussehen, ihre
Kleidung, ihre Arbeitstechniken interessieren, Geschmacksurteile äußern können
und vieles mehr.
Das Titelbild ist eine historische Quelle, die ebenso gut Einleitung, Illustration
oder Gegenstand einer Unterrichtsstunde oder -sequenz zu Aspekten des Dritten
Reichs sein kann wie zu, sagen wir: Kleidungsstücken (also Wortschatz), Lokal-
präpositionen (Grammatik), Vermutungen (mündlicher Ausdruck) oder anderem.
Man sieht: Historische Quellen sind vielfach einsetzbar.
Was versteht man aber eigentlich unter einer „historischen Quelle"? „Man hat
seit jeher versucht, die Fülle der historischen Quellen durch Gliederung übersicht-
licher und greifbarer zu gestalten. Um die Art, wie solche Einteilung am zweck-
mäßigsten und logisch am einwandfreiesten zu geschehen habe, ist in der
geschichtstheoretischen Literatur eine umfangreiche und voraussichtlich auch end-
lose Diskussion entstanden", heißt es in Ahasver von Brandts Klassiker zum
Thema (Brandt 13 1992: 49). Das Bemühen, eine absolute Ordnung mit ebensolcher
Gültigkeit finden, erscheint ihm müßig, „sei es nun, dass sie vom Stoff (Stein,
Metall, Pergament, Papier), von der Aussageform (Gerät, Bild, Schrift, Sprach-
form) oder von der Zwecksetzung (,Literatur', Recht, Verwaltung) ausgeht, oder
aber den Aussagewert zum Kriterium der Einteilung macht." Schließlich seien die
Quellen „nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der historischen Er-
kenntnis" (Brandt: 50). Es ist festzuhalten: Auch Knochen, Geräte, Steine, selbst
Bauwerke sind historische Quellen.
J.G. Droysen und E. Bernheim haben folgende Unterscheidung etabliert:
„Überreste: Alles, was unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben ist. Tra-
dition: Alles, was von den Begebenheiten übriggeblieben ist, hindurchgegangen
und wiedergegeben durch menschliche Auffassung." In ähnlicher Weise spricht
H.L. Mikoletzky von „willkürlicher" und „unwillkürlicher" Überlieferung (Brandt:
52).
Von Brandt fährt fort: „Unabsichtlich dient uns jede Quelle, die, ,unmittelbar
von den Begebenheiten übriggeblieben', in ihrer Entstehung nicht den Zweck
historischer Unterrichtung der Mit- oder Nachwelt verfolgt, sondern entweder aus
anderer Zwecksetzung oder zweckfrei entstanden ist." Dazu gehören Sachüber-
reste wie Gebäude, Kunstwerke, Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Gerät,
Kleidung, Möbel, Waffen, Wappen, Münzen, körperliche Überreste; dann ab-
strakte Überreste wie Institutionen Rechts- und Verfassungszustände in münd-
licher Überlieferung, Sitten und Gebräuche, Sprachen und Sprachformen, Orts-
und Flurnamen und vieles mehr; schließlich „das gesamte Schriftgut, das aus ge-
schäftlichen oder privaten Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart entstanden ist,
dessen Zweck mithin eine geschäftliche, rechtliche, politische, wirtschaftliche oder
persönlich-private Dokumentation ist" (Brandt: 53) — und was sich also in Archi-
ven befindet.
„Tradition" sind dagegen im weitesten Sinne „literarische" Quellen, und zwar
sowohl „primär mündlich überlieferte, wie Mythen, Sagen, historische Lieder,
Copyrighted malerial
Einleitung
V
genealogische oder historische Erzählungen" wie die schriftlich fixierten, z.B. „An-
nalen, Chroniken, Biographien, Memoiren, Autobiographien, zeitgenössische
Geschichtsdarstellungen aller Art." Auch ein großer Teil der Publizistik sei hierzu
zu rechnen (Brandt: 54).
Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen größtenteils auf eine DAAD-
Fachtagung an der Universite de Picardie Jules Verne (UPJV) Amiens im März
2011 zurück. Ihr lag eine simple Überlegung zugrunde: Im Sprach- und Landes-
kundeunterricht sind Medien unerlässlich. Gegenüber den vorgefertigten Pro-
dukten der einschlägigen Verlage und Internetplattformen haben historische Quel-
len aber einen großen Mehrwert, indem sie als Lern- und im weiteren Sinne Bil-
dungsmedien mit Wiedererkennungswert gewissermaßen en passant Kultur ver-
mitteln und Anknüpfungspunkte an landeskundliche und medienwissenschaftliche
Themen bieten.
Die Artikel der Beiträger zeigen auf sehr überzeugende Weise, wie vielfältig die
Quellen und ihre Einsatzmöglichkeiten sind; sie sprechen für sich und bedürfen
also nicht der für Einleitungen durchaus üblichen Vorankündigung. Vielmehr sei
hier abschließend auf einige Lücken des Bandes hingewiesen.
Literatur als historische Quelle ist Gegenstand der Kulturwissenschaften, die
sich mit Dingen wie historischen Zukunftsvorstellungen, Geschlechter-, Technik-,
Krankheits- und anderen Diskursen beschäftigen; jede Stoff- und Motivgeschichte
nutzt Literatur als historische Quelle, indem sie etwas über die Ausformungen
ihres Stoffes oder eben Motivs zu einer und durch eine bestimmte Zeit aussagt.
Anders gesagt: Der Nutzen von Literatur als historische Quelle ist konstitutiv für
die Literaturwissenschaft und kann schon deshalb nur bedingt Gegenstand eines
Artikels im vorliegenden Rahmen sein; Jens Grimstein zeigt am Beispiel des
Unterbereichs der Arbeiterliteratur zahlreiche Einsatzmöglichkeiten für den DaF-
Unterricht auf.
Comics werden trotz aller Anerkennung weniger „Meisterwerke" in Feuilleton,
Wissenschaft und Unterricht bis heute eher stiefmütterlich behandelt. Als einzig-
artige historische Bild- /Textquellen können sie auch im Geschichts-, Deutsch und
DaF-Unterricht eingesetzt werden; zwei der Beiträger haben sich an anderer Stelle
eingehend mit dem Thema beschäftigt (Sistig 2002; Hieronimus 2009; 2010).
Auch Zeitungen sind eine wichtige und gut einsetzbare Quelle, zunächst für
Stimmungslagen, nicht zuletzt aber auch durch ihre privaten und gewerblichen An-
zeigen (vgl. z.B. Hieronimus 2006). Das Projekt der „Zeitungszeugen", also der
kommentierten Wiederveröffentlichung von Zeitungen aus der NS-Zeit inklusive
Werbung und Propagandaposter, zeugt durch seinen Erfolg vom anhaltenden Inte-
resse für diese Quellenart. Ein interessanter Nebenaspekt der Arbeit mit diesen
und allgemein Schriftquellen wie Urkunden und Briefen ist die Begegnung mit alten,
dem ungeübten Leser nicht unmittelbar zugänglichen Hand- und Druckschriften
wie Sütterlin oder Fraktura.
Darüber hinaus liegt es im Ermessen und Interesse jeder Lehrkraft, auch gegen-
ständliche Quellen als Anschauungs- und Lehrmaterial zu verwenden, handele es sich
Copyrighted malerial
VI
Marc Hieronimus
nun um Münzen, Kleidung und andere Dinge des Alltags, fachspezifische Gegen-
stände wie etwa Werkzeug und stilgeschichtlich Interessantes aus der Angewand-
ten Kunst, oder Abbildungen repräsentativer und also mehr oder minder berühm-
ter Artefakte der europäischen Geschichte. Eins möge der geneigte Leser davon-
tragen: Man kann nicht nur über alles reden — man kann auch mit allem unter-
richten!
Der Band 86 der Reihe MatDaF konnte nur durch die Mitarbeit und Unter-
stützung zahlreicher Personen und Institutionen zustande kommen. Der Dank des
Herausgebers gilt in chronologischer Reihenfolge dem DAAD und der UPJV für
die finanzielle und logistische Unterstützung; den Beiträgern für ihre spannenden
Vorträge und fast sämtlich fristgerecht eingereichten Beiträge; dem FaDaF und
besonders Annegret Middeke und Annett Eichstaedt für die geduldige Betreuung
des Buchprojekts; und nicht zuletzt Bertrand Delville für die zuverlässige Über-
windung aller technischen Hindernisse.
Literatur
Brandt, Ahasver von ( 13 1992): Werkzeug des Historikers. Stuttgart, Berlin, Köln:
Kohlhammer.
Hieronimus, Marc (2006): Krankheit und Tod 1918. Vom Umgang mit der Spanischen
Grippe in Frankreich, England und dem Deutschen Reich. Münster: Lit- Verlag.
Hieronimus, Marc (2009): Geschichtscomics im DaF-Unterricht. In: Nieradka,
Magali Laure; Specht, Denise (Hrsg.) (2009): Fremdkörper? Aspekte der
Geisteswissenschaften in der Auslandsgermanistik und im DaF-Unterricht. Münster: Lit-
Verlag, 101-114.
Hieronimus, Marc (2010): Hitler is fun. Sixty Years of Nazism in Humorous
Comics. In: Buttsworth, Sara; Abbenhuis, Maartje (Hrsg.) (2010): Monsters in the
Mirror. Representation of Nazism in Post-War Populär Culture. Westport,
Connecticut: Praeger, 75-100.
Sistig, Joachim (2002): Invasion aus der Vergangenheit. Das Deutschlandbild in
frankophonen Bandes Dessinees. Frankfurt/Main: Peter Lang.
Copyrighted malerial
Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht -
zur Arbeit mit historischen Quellen
Uwe Koreik
1 Landeskunde und Geschichte im DaF-Unterricht
Die Vermittlung historischer Themen im DaF-Unterricht — insbesondere auch
wenn es um den Einsatz historischer Quellen geht — ist im Kontext der Diskussion
um die Landeskunde und die Landeskundevermittlung sowie ihren Anteil und ihre
Bedeutung für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache zu verorten. „Es ist
seit langem schon unbestritten, dass Sprachvermittlung immer auch Kulturver-
mittlung bedeutet, weil das Erlernen einer Sprache immer auch zugleich den Zu-
gang zu einer neuen Welt, anderen Werten und Wertvorstellungen, anderen Ein-
stellungen und Verhaltensweisen eröffnet. Für die Vermittlung kultureller Inhalte
über Land und Leute des Zielsprachenlands hat sich seit den 1960er Jahren im
Sprachunterricht und in der Sprachlehrerausbildung als Begriff Landeskunde durch-
gesetzt und bis heute hartnäckig gehalten" (Koreik 2011). Dabei verdeutlicht die
Tatsache, mit welchen unterschiedlichen Begriffen der kulturkundliche Vermitt-
lungsbereich innerhalb der Philologien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts be-
zeichnet wurde (Realienkunde, Kulturkunde, Landeskunde, Landeswissenschaft,
Kulturstudien u.a., vgl. Koreik; Pietzuch 2010, Altmayer; Koreik 2010) zugleich,
welche unterschiedlichen Kernkonzepte damit jeweils auch intendiert waren. Von
der reinen Faktenvermittlung (gerne polemisch als „Stadt, Land, Fluss" charakteri-
siert) über den kommunikativen Ansatz, bei dem Alltags Verhaltens weisen im Vor-
dergrund standen, bis zum interkulturellen Anspruch seit den späten achtziger
Jahren, bei dem mit dem Ziel, sich und andere besser zu verstehen, eine kulturelle
Copyrighted malerial
2
Uwe Koreik
Kompetenz angestrebt wird, reichen die großen Trendlinien, die zumeist jedoch in
vermischten Formen auftraten und auftreten. Immer jedoch spielte das Thema
„Geschichte" bei der Vermittlung kultureller Inhalte eine mehr oder weniger große
Rolle. 1
1.1 Ziele und Bedingungsfaktoren bei der Vermittlung historischer
Themen
„Landeskunde ist in hohem Maße auch Geschichte im Gegenwärtigen" heißt es in
den ABCD-Thesen (1990: 307). Daraus ergebe sich „die Notwendigkeit, auch his-
torische Themen und Texte im Deutschunterricht zu behandeln. Solche Themen
sollten Aufschluß geben über den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft, über unterschiedliche Bewertungen sowie über die Geschichtlichkeit
der Bewertung selbst" (ebd.). In drei Sätzen sind damit sehr hohe und komplexe
Ansprüche formuliert, die sich je nach Zielgruppe und dem gegebenen sprachli-
chem Niveau nur begrenzt werden einlösen lassen. Gerade auch bei der Einbezie-
hung historischer Themen in den Unterricht in Deutsch als Fremd- bzw. -Zweit-
sprache spielen zahlreiche Faktoren wie Lernort, Vermittlungsinstitution (und ihre
Lehrziele bzw. die Curricula), Vorbildung, Zusammensetzung der Lernergruppe
(im Hinblick auf Alter, Nationalität, Geschlecht), die Motivation für den Sprach-
erwerb, die vorhandenen Medien, die Qualifikation und auch die Begeisterungsfä-
higkeit der Lehrenden eine bedeutende Rolle.
Die Frage nach dem Gegenwartsbezug hat der Historiker Heinrich-August
Winkler, natürlich nicht mit Bezug auf den DaF-/DaZ-Unterricht, sondern mit
Blick auf die Geschichtswissenschaft kürzlich folgendermaßen beantwortet: „Die
entscheidende Frage der Geschichtswissenschaft lautet aus meiner Sicht nicht so
sehr, frei nach Ranke, wie es eigentlich gewesen ist, als vielmehr, warum es eigent-
lich so gekommen ist. Das heißt, wir sollten auch fragen, wie unsere Gegenwart
entstanden ist, warum sich unsere Geschichte so und nicht anders entwickelt hat"
(Winkler 2011). Die gleichen Fragestellungen sind auch für den DaF-/DaZ-Unter-
richt relevant.
In der zitierten ABCD-These (vgl. Koreik 2010: 1478-1479), die sich in ihrem
Aussagegehalt in zahlreichen späteren Veröffentlichungen im Fach widerspiegelt,
wird nicht nur auf die Bedeutung des Zusammenhangs von Vergangenheit und
Gegenwart verwiesen, sondern ebenfalls ein geradezu prognostisch anmutender
Blick in die Zukunft gefordert sowie vor allem eine Verständnissicherung für die
Relativität der Bewertung geschichtlicher Ereignisse und Prozesse erwartet. Der
gewagten Forderung nach dem Blick in die Zukunft verweigern sich in der Regel
die Historiker, sondern beziehen meist ähnlich wie Winkler (2011) in diesem Fall
mit Verweis auf Schlegel Position: „Zunächst einmal hat Friedrich Schlegel wahr-
1 Zum Thema Geschichte in DaF-Lehrwerken: Koreik 1995; Koreik 2010; Maijala 2004; Maijala
2007; Thimme 1994; Thimme 1996.
Copyrighted malerial
Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht - zur Arbeit mit historischen Quellen
3
scheinlich recht mit seinem berühmten Bonmot, dass die Historiker rückwärts
gekehrte Propheten sind. Für mich ist die Frage weniger, was kommen wird, son-
dern, auf welche Zukunft wir hinarbeiten sollten" (ebd.).
Aus der Geschichte lässt sich zwar vielleicht Einiges lernen — der Umgang mit
der Weltwirtschaftskrise in der ausgehenden ersten Dekade des 21. Jahrhunderts
zeigt, dass zumindest zunächst in gewisser Weise aus den Erfahrungen von 1929
gelernt wurde - jedoch einen konkreten Zusammenhang zur Zukunft herzustellen,
ist eben nicht nur eine Forderung, der sich die Fachwissenschaftler verweigern,
sondern auch eine Aufgabe, deren Umsetzung im Sprachunterricht allenfalls Ge-
sprächsanlässe — gelegentlich allerdings sogar sehr interessante — bieten dürfte,
welche lediglich zu Spekulationen einladen.
Die Relativität geschichtswissenschaftlicher Darstellungen hingegen hat nicht
nur einen hohen erkenntnistheoretischen Stellenwert, sondern ist zudem je nach
Zusammensetzung der Lernergruppe von einiger Brisanz, da Lerner nicht selten
aus Lernkulturen kommen, in denen Geschichtskenntnisse weitgehend unhinter-
fragt als positivistisch gesichertes Wissen vermittelt werden. Dabei ist eindeutig,
„[...] dass Geschichte immer wieder aus einem bestimmten Blickwinkel wahrge-
nommen und überliefert wird" (Sauer 7 20 08: 17). Und dieser Blickwinkel kann
zunächst auch ein national vermittelter sein, bei dem Schulbücher, traditioneller
Geschichtsunterricht und die jeweilige mediale Vermittlung das Geschichtsbild
prägen.
Die Auswertung neu zugänglicher Quellen, neue oder anders gewichtete ge-
schichtswissenschaftliche Ansätze und ein damit sich verändernder Blickwinkel
sowie auch jeweils vorherrschende gesellschaftspolitische Strömungen führen nicht
selten dazu, dass historische Ereignisse und Prozesse neu bewertet werden und
sich eine andere Lehrmeinung durchsetzt, wie beispielsweise die Nachwirkung der
„Fischer- Kontroverse" um das Ausmaß der deutschen Schuld am Ausbruch des 1.
Weltkriegs deutlich gezeigt hat. Eine derartige Meta-Ebene der Betrachtung lässt
sich im Landeskundeunterricht allenfalls in Ansätzen realisieren, allerdings kann
,,[m]ithilfe multiperspektivischer Zugänge (bei der Auswahl der Themen, bei der
Auswahl und Bearbeitung historischer Quellen, bei der Bewertung von Ereignis-
sen, ...) [versucht werden] historische und gegenwärtige Konflikte von verschie-
denen Seiten zu betrachten und sich dabei der Relativität der eigenen (nationalen,
geschlechtsspezifischen, sozialen, ...) Sichtweise bewusster zu werden" (Grabe
2004: 25).
Als Zielsetzung für die Vermittlung historischer Inhalte, durchaus auch auf den
DaF-/DaZ-Kontext übertragbar, formuliert Winkler sehr klar: „[...] nicht die An-
häufung von Wissen ist das, was wir den Studierenden vermitteln sollten, sondern
die Erkenntnis von Zusammenhängen, die Fähigkeit, einzelne Erscheinungen in
einen größeren Kontext einzuordnen. Das setzt in allererster Linie Problemver-
ständnis voraus, die Fähigkeit, nach Motiven, Handlungsspielräumen und Alterna-
tiven der Akteure zu fragen. Das ist die Grundlage jedes historischen Urteils. Das -
Copyrighted malerial
4
Uwe Koreik
glaube ich — ist ein Zugang zur Geschichte, der uns auch offen macht für die Her-
ausforderungen der Gegenwart" (ebd.).
Für die Einbettung historischer Themen in den DaF-/DaZ-Unterricht, in dem
Sprachvermittlung immer auch eine gewisse Rolle spielt, gilt es bestimmte Voraus-
setzungen zu beachten bzw. sie zu schaffen.
Einmal abgesehen davon, dass die gewählten Themen möglichst einen Aktua-
litätsbezug aufweisen (häufig lassen sich Entwicklungslinien herstellen) oder einen
Erkenntniswert vermitteln sollten, der im Kontext zur Gesamtausbildung der Ler-
nergruppe steht, gilt es bei der Auswahl der Texte das sprachliche Niveau der Ler-
nergruppe im Blick zu haben. Der Schwierigkeitsgrad der Texte — und das gilt ins-
besondere bei historischen Quellen — darf das durchschnittliche Sprachvermögen
der Lernergruppe nur begrenzt übersteigen. Eine veraltete Lexik, Begriffe mit einer
speziellen zeitgebundenen Konnotation sowie syntaktische Besonderheiten, die
nicht mehr der aktuell verwendeten deutschen Sprache entsprechen, erschweren
nicht nur das Textverständnis, sondern werfen auch die Frage auf, welcher Gewinn
für die Sprachausbildung erreicht werden kann. Diese Frage wird unterschiedlich je
nach Lernergruppe zu beantworten sein. Handelt es sich beispielsweise um eine
Gruppe Studierender an einer ausländischen Hochschule, die als Studienfach auch
Geschichtswissenschaft hat, wird man kaum Grenzen ziehen wollen; handelt es
sich jedoch um Studierende, die die deutsche Sprache „lediglich" im Rahmen einer
Zusatzqualifikation neben weniger affinen Studienfächern erlernen wollen, gilt es
für die Lehrkraft, eine Güterabwägung zu treffen und die Materialauswahl im
Zweifels fall zugunsten der sprachlichen Weiterverwendbarkeit zu treffen. Werden
mehrere historische Quellentexte in einer Reihe hintereinander behandelt, gilt es
nach Möglichkeit auf die inhaltliche und sprachliche Progression zu achten, bei der
im Idealfall auf beiden Ebenen schrittweise das Anspruchsniveau gesteigert wird.
Die häufig vorgebrachte Forderung nach einer kontrastiven oder gar interkul-
turellen Perspektive lässt sich bei historischen Themen nicht selten leicht einlösen,
weil es in der Weltgeschichte immer wieder eine Ungleichzeitigkeit des Ähnlichen
gibt, was bedeutet, dass historische Ereignisse und Prozesse immer auch im Zu-
sammenhang mit vergleichbaren Abläufen zu anderen Zeiten in anderen Ländern
oder gar Kulturkreisen betrachtet werden können. Eine derartige Vorgehensweise
ist allerdings sehr anspruchsvoll, und das Problem dabei ist dann meistens die
mangelnde Kompetenz Lehrender wie Lernender (vgl. Koreik 1998).
In den bereits zitierten ABCD-Thesen heißt es an anderer Stelle: „Primäre
Aufgabe der Landeskunde ist nicht die Information, sondern Sensibilisierung sowie
die Entwicklung von Fähigkeiten, Strategien und Fertigkeiten im Umgang mit
fremden Kulturen. Damit sollen fremdkulturelle Erscheinungen besser einge-
schätzt, relativiert und in Bezug zur eigenen Realität gestellt werden. So können
Vorurteile und Klischees sichtbar und abgebaut sowie eine kritische Toleranz ent-
wickelt werden" (ebd.). Wenn man einmal von der hehren Hoffnung ein wenig
Abstand nimmt, dass sich Vorurteile und Klischees, wenn sie denn sichtbar ge-
macht wurden, auch leicht abbauen ließen, bleibt die Diskrepanz zwischen Infor-
Copyrighted malerial
Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht - zur Arbeit mit historischen Quellen
5
mationsvermittlung und Sensibilisierung bzw. Entwicklung von Fähigkeiten, Stra-
tegien und Fertigkeiten. Damit wird 1990 ein Trend festgeschrieben, der als Hin-
tergrund die Erkenntnis hat, dass sich die Totalität der gesellschaftlichen Wirklich-
keit sowieso nicht im landeskundlichen Unterricht erfassen bzw. abbilden und
vermitteln lässt, was auch auf die Vermittlung von Geschichtsthemen zutrifft. Im
Sprachunterricht kann keineswegs die gesamte deutsche Geschichte nebenbei ver-
mittelt werden, und auch in speziellen Landeskundeveranstaltungen zur deutschen
Geschichte, wie es sie in manchen Ländern nach wie vor im Rahmen des Germa-
nistikstudiums gibt, kann die Geschichte von den Germanen bis ins 20. Jahrhun-
dert nur in Form meist eher oberflächlichen Faktenwissens vermittelt werden,
wobei häufig die Ereignisgeschichte mit den Aspekten Politik-, Diplomatie- und
Militärgeschichte im Vordergrund steht und wichtige Themenstränge der Wirt-
schafts- und Sozialgeschichte in der Regel eher vernachlässigt werden. Selbst für
den schulischen Geschichtsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland heißt es:
„Die vollständige Behandlung der Geschichte ist weder möglich noch wünschens-
wert. Die Zahl der Themen ist prinzipiell unendlich und es kommt auf begründete
Auswahl an" (Sauer 7 20 08: 19).
Das spätestens seit der Veröffentlichung der ABCD-Thesen häufig propagierte
Ziel ist es deswegen vielmehr, stärker themenorientiert und exemplarisch zu arbei-
ten, gleichzeitig damit die Wahrnehmung und Reflektion zu schulen und dabei die
traditionelle Faktenvermittlung deutlich in den Hintergrund treten zu lassen. Der
Tendenz, die Wissensvermittlung als völlig untergeordnetes Ziel im Fremdspra-
chenunterricht zu sehen, ist jedoch Schücking bereits 1927 mit folgenden Argu-
menten entgegen getreten: „Es klingt sehr gut: Nicht Kenntnis, sondern Erkennt-
nis! Nicht Wissen, sondern Fähigkeit zur Fragestellung! Aber Erkenntnis setzt
zunächst einmal eine gewisse Kenntnis, die Fähigkeit zur Fragestellung setzt auch
Wissen voraus" (Schücking 1927: 10). Galt lange Zeit die Vermittlung von Wis-
sensbeständen über Land und Leute im DaF-/Daz-Unterricht in der
Landeskundediskussion seit der „kommunikativen Wende" als verpönt und wurde
als reine Faktenkunde gebrandmarkt, auch wenn diese Art des Landeskundeunter-
richts in weiten Teilen der Welt — auch bis ins Extreme gesteigert — weiter betrie-
ben wurde, so ist inzwischen eine Rückbesinnung auf den Wert von auch Infor-
mationen vermittelndem, Hintergründe beleuchtendem und nicht nur rein kom-
munikativ ausgerichtetem Landeskundeunterricht erfolgt. Für DaF-Lehrwerke aus
Estland, Finnland, Frankreich, Großbritannien und Norwegen konstatiert Minna
Maijala die „Rückkehr der Geschichte in die europäischen Deutschlehrwerke" und
stellt zugleich fest, „dass der kognitive Ansatz der Landeskunde in den Mittelpunkt
des Fremdsprachenunterrichts gerückt ist" (Maijala 2004: 345). Weitgehend auf
Faktenvermittlung ausgerichtete Geschichtskapitel sind in Deutschland seit 2005 in
speziellen Lehrwerken für Deutsch als Zweitsprache entstanden, die speziell in
Integrationskursen eingesetzt werden. Einer der vier Themenschwerpunkte lautet
„Überblick über die jüngere deutsche Geschichte", wobei bis jetzt allerdings nicht
umfassend untersucht worden ist, inwieweit damit tatsächlich eine Horizonterwei-
Copyrighted malerial
6
Uwe Koreik
terung erreicht wird, oder — wovon leider auszugehen ist - ob nur Fakten für den
anschließenden Orientierungstest auswendig gelernt (und dann bald auch wieder
vergessen) werden.
Ein anderer viel versprechender Ansatz wird in dem von Schmidt und Schmidt
(2007) herausgegebenen Lehrwerk „Erinnerungsorte. Deutsche Geschichte im
DaF-Unterricht" verfolgt. In Anlehnung an das Konzept des französischen Histo-
rikers Pierre Nora finden sich hier zu dreizehn deutschen „Erinnerungsorten"
Unterrichtseinheiten, welche „exemplarisch Wege in und durch die deutsche Ge-
schichte [eröffnen]" und als Zusatzmaterialien für den Sprach- und Landeskunde-
unterricht konzipiert sind (Schmidt; Schmidt 2007: 6).
Die zwei dem Buch beigefügten CD-Roms bieten eine Fülle an Zusatzmateria-
lien — auch Hörtexte, sowie historisches Quellenmaterial — und ermöglichen eine
vielschichtige Herangehensweise, wie sie für den Einsatzort Bulgarien in muster-
gültiger Weise und mit der Möglichkeit des Perspektivenwechsels (Fornoff 2009)
ausgearbeitet wurde. In einem modernen in den Sprachunterricht integrierten Lan-
desunterricht, in dem historische Themen behandelt und die Arbeit mit histori-
schen Quellen in den Vordergrund geraten, werden auch in Zukunft mehrere
Faktoren Berücksichtigung finden müssen: Adressatenspezifik und Lehrziel-
/Curricula-Bezug sowie Prüfungs- und Testorientierung, wenn sie institutionell
vorgesehen ist. Es wird immer wieder eine Gratwanderung zwischen einem stärker
informierenden, einem kommunikativ ausgerichteten, gar zur Lernerautonomie
hinführenden, einem auf Interaktion setzenden und auf interkulturelle Lernziele
hinarbeitenden Unterricht geben, dessen Schwerpunktsetzung, abgesehen von
institutionellen Vorgaben, maßgeblich von der jeweiligen Lehrkraft vorgenommen
werden muss (vgl. Koreik 2011).
Auch wenn seit den 1970er Jahren in der deutschen Geschichtsdidaktik für die
Schule die Arbeit mit historischen Quellen im Mittelpunkt steht und sie sich auch
für die Vermittlung historischer Themen im DaF-/DaZ-Unterricht alleine wegen
ihres Authentizitätscharakters und des darin enthaltenen Lernpotentials anbietet,
gilt auch für den Sprachunterricht zu historischen Themen: „Geschichtsunterricht
kann nicht nur aus Quellenarbeit bestehen. Wer sie betreiben will, braucht fast
immer, zu Beginn oder im Laufe seiner Untersuchung ein Vorwissen, einen be-
stimmten Rahmen historischer Kenntnisse" (Sauer 7 2008: 110).
2 Zur Arbeit mit historischen Quellen im Sprachunterricht
Gpgenoorth und Schulz ( 6 2001: 40) greifen in ihrer „Einführung in das Studium
der Neueren Geschichte" zur Klärung des Begriffs „Quellen" die viel zitierte De-
finition von Kirn auf: „Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsa-
Copyrighted malerial
Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht - zur Arbeit mit historischen Quellen
7
chen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann", 2 um ange-
sichts dieser weit gefassten Definition weitere Erklärungen und Differenzierungen
vorzunehmen. Nachvollziehbar erläutern sie, warum z.B. erhaltene Kleidung aus
den letzten Jahrhunderten uns als Gegenstände die Bedingungen der jeweiligen
Zeit besser verdeutlichen als überlieferte Beschreibungen oder Abbildungen auf
Gemälden, oder dass fremdsprachliche Bestandteile in der deutschen Sprache als
Tatsachen (z.B. Italienisch in der Fachsprache der Musik im 17. und 18. Jahrhun-
dert bei Bach oder Haydn) Zeitumstände verdeutlichen.
Wichtig auch für den Sprachunterricht ist die auch von ihnen vorgenommene
Unterscheidung in „Primär-" und „Sekundärquellen" (41), die sich grob damit
erklären lässt, dass Quellen, die Bezug auf eine ihr zugrunde liegende Quelle neh-
men, als Sekundärquellen bezeichnet werden. Erst wenn das ursprüngliche Quel-
lenmaterial nicht mehr vorhanden oder rekonstruierbar ist, bekommt eine Sekun-
därquelle, in der Ursprungsmaterial verarbeitet ist, zumindest partiell den Charakter
einer Primärquelle.
Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit bietet das Begriffspaar „Quel-
len/Literatur", welches bei Opgenoorth; Schulz (41) am Beispiel der „Westfäli-
schen Friedensverträge von 1648" und Dickmanns Buch „Der westfälische
Friede" verdeutlicht wird. Während der Vertragstext eine Quelle darstellt, ist Dick-
manns Darstellung eine Interpretation und damit Literatur. Letztlich ist die Unter-
scheidung aber abhängig von der wissenschaftlichen Fragestellung. Will man die
Positionen deutscher Historiker zu den Westfälischen Friedensverträgen Ende der
1950er untersuchen, wird Dickmanns Erstauflage von 1959 zur Quelle.
Zunächst hilfreich ist auch die traditionelle Unterscheidung in „Tradition" und
„Uberrest", wenn man sich vor Augen führt, dass Quellen, die entstanden sind, um
gezielt der Nachwelt Kenntnisse zu übermitteln (z.B. Erlebnis- oder Reiseberichte
o.a.), anders zu werten sind als Quellen, die ohne diese Intention entstanden sind
(z.B. Rechnungen, Inventarlisten u.a.). Aber auch diese Kategorisierung der Quel-
len ist nicht trennscharf, sondern „hat einen Schönheitsfehler" (Opgenoorth;
Schulz: 43), da der Begriff „Überrest" insofern als der weitere Begriff zu werten
sei, als auch Traditionsquellen den Charakter von Uberresten bekämen, wenn we-
niger der Inhalt als vielmehr die Gegebenheiten der Entstehung in den Blick ge-
rückt würden. Erst recht seien die Grenzen seit dem Beginn der Neuzeit zuneh-
mend verschwommen, als Quellen insbesondere aus dem Bereich der Publizistik
zum Einen als Berichterstattung für die Zeitgenossen diente (also Überrest), zum
Anderen aber auch als Überlieferung gesellschaftspolitischer Sachverhalte (also
Tradition). Deutlicher noch urteilt Schulze ( 2 1 991 : 33) über die traditionelle Ein-
teilung in Tradition und Überrest: „Ich halte die Unterscheidung für ebensowenig
sinnvoll wie die Unterscheidung willkürlicher und unwillkürlicher Überlieferung.
Sie kann sogar gefährlich sein, weil solche Einteilungen möglicherweise die weitere
2 Einen informativen und prägnanten Uberblick über Quellenarten bietet http://www.uni-
konstan2.de/FuF/Philo/ Geschichte/Tutorium/Themenkomplexe/ Quellen/ Quellenarten/ quellenar-
ten.html.
Copyrighted malerial
8
Uwe Koreik
Nutzung präjudizieren können. Vielmehr muß gelten, daß alle Quellen den glei-
chen kritischen Verfahren unterzogen werden müssen, um sie zum Sprechen zu
bringen. Die innere und äußere Kritik muß unbeeinflußt von a priori-Kategorisie-
rungen angewendet werden."
2.1 Textquellen
Als Textquellen benennt Sauer ( 7 20 08: 187): „Akten, Annalen, Aufrufe, Augenzeu-
genberichte, Biografien, Briefe, Chroniken, Dramen, Flugblätter, Epen, Gedichte,
Gesetzestexte, Grabinschriften, Lebensbeschreibungen, Legenden, Memoiren,
Memoranden, Protokolle, Reden, Reiseberichte, Romane, Tagebücher, Urkunden,
Verträge, Zeitungen" und weist darauf hin, dass die Liste keineswegs erschöpfend
sein müsse. Nimmt man Textquellen der jüngsten Geschichte hinzu, müssen Beg-
riffe wie Blog, Twitter, Facebook, E-Mails, SMS, Google-Protokolle (Wikileaks)
u.a. fallen.
Bei der Arbeit mit Textquellen im DaF-/DaZ-Unterricht stehen zunächst die glei-
chen Grundfragen im Vordergrund wie sie in der Geschichtsdidaktik benannt
werden (vgl. Sauer 7 2008: 190):
Verfasser/in des Texts (Amt, Stellung, soziale Schicht, Beziehung zum er-
wähnten Ereignis, Kenntnisstand)
Entstehung der Quelle (Wann, wo, weshalb wurde der Text verfasst?, zeit-
licher Abstand zum Ereignis?
Quellengattung (Art, welche Aussagen kann man erwarten?, Art der
Verbreitung des Texts)
Thema und Aussage (welches Ereignis wird erwähnt und was wird mitge-
teilt)
Adressaten und Intention (wer wird angesprochen, warum, mit welcher
Absicht, aus welcher Perspektive wird geschrieben, Bericht?, Urteil?, Ar-
gument? Was soll bei den Adressaten erreicht werden?
Darstellungsweise (sprachliche und rhetorische Mittel)
Gerade der letzte Punkt ermöglicht im Sprachunterricht — wenn passend und ge-
wünscht — eine intensivere Befassung mit der Sprache selbst, wenn man sich die
dazu gehörigen Unterpunkte bei Sauer (190) vergegenwärtigt: „[...] Satzgestalt
(Satzart, -länge, -Stellung), allgemeine Wortwahl (alltäglich, gewählt, konventionell),
Argumente, Begriffe und ihre besondere Bedeutung, traditionelle Muster (Topoi),
rhetorische Mittel (Symbole, Allegorien, Metaphern, Wiederholungen, Wortspiele,
Lautmalereien usw.)". Allein hierdurch dürfte klar geworden sein, dass die Arbeit
mit historischen Quellen im DaF-/DaZ-Unterricht recht anspruchsvoll ist.
Gleichzeitig ist jedoch auch deutlich, dass die Quelle alleine letztlich nicht aus-
reicht, um Lernern eine ausreichende Interpretation zu ermöglichen. Informatio-
nen über den/die Verfasser/in, Überblickswissen über den Zeitkontext und ggf.
Copyrighted malerial
Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht - zur Arbeit mit historischen Quellen
9
Auskünfte über eine spezielle Textgattung (z.B. Flugblatt) sind erforderlich, um
eine angemessene Aufschlüsselung und Einordnung einer historischen Quelle zu
ermöglichen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Lerner der deutschen Sprache
nicht immer eine schulische Sozialisation durchlaufen haben, in der eine textkriti-
sche Auseinandersetzung mit historischen Quellen eingeübt worden ist. Umso
erhellender kann allerdings eine derartige Auseinandersetzung mit historischen
Quellen im Sprachunterricht ausfallen.
Für den Einsatz historischer Schriftquellen im DaF-/DaZ-Unterricht darf man
sich auch durchaus vor Augen führen, welche didaktischen Einsatzmöglichkeiten
für den schulischen Geschichtsunterricht in Deutschland diskutiert werden (vgl.
Sauer 7 20 08: 1 91 f): die Präsentation einer Textquelle in unsystematisch angeord-
neten Teilstücken, die erst durch genaues Lesen in eine kohärente Reihenfolge
gebracht werden können, das Weglassen des Schlusses einer Textquelle, die von
den Lernern sinnvoll ergänzt werden soll, zunächst fehlende Informationen über
den/die Verfasser/in der Textquelle, um einen geschärften Blick für die direkten
und ggf. indirekten Intentionen des Textes zu erarbeiten, oder das Weglassen aller
Angaben zur historischen Situation, um auf der Basis von Vorkenntnissen und
genauem Lesen die Rekonstruktion des historischen Kontextes einzufordern.
Noch kreativer sind Sauers Vorschläge zur Manipulation der Textquelle: Das Ein-
fügen von Anachronismen, die es herauszufinden gilt, das Versehen des Textes mit
Lücken oder Schwärzungen, um durch die dann nötigen Ergänzungen die Textlo-
gik nachzuvollziehen, oder das Einfügen von „gefälschten" Textpassagen, um zu
erarbeiten, mit welchen Intentionen „Fälscher" nachträglich den historischen Text
verändert haben. Ob man im DaF-DaZ -Unterricht zu derartigen kreativen, für
viele sicherlich zu „verspielten" Methoden greift, wird sicherlich sehr von der Ler-
nergruppe abhängen, wie auch von der Bereitschaft der Lehrkraft, auch — z.B. im
Rahmen universitärer Veranstaltungen - unkonventionelle Wege zu beschreiten.
Auf jeden Fall können strukturierende Aufgaben wie die Gliederung des Textes in
einzelne Abschnitte, das Einfügen von Teilüberschriften oder die Markierung von
Schlüsselwörtern hilfreiche Arbeitsschritte sein, um eine Textquelle zusammenfas-
send (mündlich oder auch schriftlich) auszuwerten, wobei abschließend ohne eine
entsprechende Kontextualisierung nicht auszukommen sein wird.
2.2 Tonquellen
Für zahlreiche Ereignisse der neueren Geschichte stehen auch relativ leicht erhält-
liche Tondokumente zur Verfügung 3 (z.B. zur NS-Zeit oder zur Geschichte der
3 Tondokumente für verschiedene Phasen der deutschen Geschichte finden sich beispielsweise auf
den Seiten von LeMO (Lebendiges virtuelles Museum Online), einem Gemeinschaftsprojekt des
Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin, des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland (HdG) in Bonn und des Fraunhofer Instituts für Software- und Systemtechnik (ISST) in
Berlin, (http:/ /www.dhm.de/lemo/home.html). Vgl. auch den Beitrag von Beatrice Wiegand im vor-
liegenden Band.
Copyrighted malerial
10
Uwe Koreik
BRD und der DDR). Diese historischen Tonquellen können selbstverständlich
isoliert eingesetzt werden, haben dann allerdings auch den Charakter von Hörver-
stehensübungen, wobei manche Reden mehrfach gehört werden müssen, um wirk-
lich vollständig verstanden zu werden. Diese Tondokumente können allerdings
auch im Zusammenhang mit den bereits anhand einer Transkription erarbeiteten
Texten eingesetzt werden und verstärken so das Authentische bei der Arbeit mit
historischen Quellen.
2.3 Bildquellen
Von besonderer Bedeutung bei der Arbeit an historischen Themen im Sprachun-
terricht sind Bildquellen, weil sie zum einen bestimmte Fertigkeiten für die Inter-
pretation voraussetzen und keineswegs einfach für sich sprechen sowie zum ande-
ren vielfältige Möglichkeiten der Versprachlichung ohne vorgegebene Sprachmus-
ter bieten, folglich einen kreativen Umgang mit Sprachproduktion ermöglichen
(Bildunterschrift finden, Bildbeschreibung, Bildinterpretation, Kommentar usw.).
„Bilder sind nicht nur bloße Jllustration' des bisher schon durch Texte erschlosse-
nen Wissens. Sie stellen eine eigene Quellengattung dar und bieten einen spezifi-
schen und eigenständigen Zugang zur wissenschaftlichen Erforschung von Ge-
schichte" (Schlaak, o.J.). Bilder bieten zwar einen anschaulichen Zugang auch zu
einem historischen Thema, präsentieren jedoch immer auch einen sehr reduzierten
Ausschnitt aus zumeist sehr komplexen Vorgängen und bedürfen für ihre Inter-
pretation in der Regel eines nicht unerheblichen Maßes an Vorarbeit zum Umgang
mit Bildquellen. „Ein Missverständnis gilt es grundsätzlich zu vermeiden: Bilder,
auch Fotos, dürfen nicht als Abbildungen der Wirklichkeit gelesen werden, son-
dern als deren Interpretation, als Auseinandersetzung des Künstlers mit der erleb-
ten Wirklichkeit, als ,visueller Bestandteil' zeitgenössischer Diskurse" (Büttner,
2007). Dabei ist die Vielfalt der Bilder und Fotos, die gewinnbringend auch im
DaF-/Daz-Unterricht eingesetzt werden können, um historische Themen zu be-
handeln oder einzuleiten, nahezu unüberschaubar. „Die unterschiedlichsten Bild-
gattungen kommen als historische Quellen in Frage. Sie lassen sich einerseits nach
Bildtechniken, Präsentations- und Verbreitungs formen unterscheiden: die Malerei
mit Gemälde, Wandbild oder Buchmalerei; der Holzschnitt als Buchillustration
oder als Flugblatt; der Kupferstich und die Lithografie, genutzt zum Beispiel für
Plakate, Bilderbögen oder Ansichtskarten; die Fotografie und - nimmt man drei-
dimensionale Bildwerke hinzu - die Plastik" (Sauer 2005: 1).
Erst seit Mitte der 1980er Jahre hat sich in der Geschichtswissenschaft eine histori-
sche Bildforschung entwickelt, die aber in den letzten zehn Jahren immer wichtiger
geworden und als Teilbereich der Geschichtswissenschaft wie auch im Unterricht
nicht mehr wegzudenken ist (z.B. Sauer 2000; Burke 2003; Jäger 2009). Ein sehr
gutes Analyse-Modell (Büttner, 2007) reicht von einer vor-ikonographischen
Beschreibung über eine ikonographische Analyse bis zu hin zu den Fragen nach
dem Bild als Kommunikationsmittel mit folgenden Unterpunkten:
Copyrighted malerial
Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht - zur Arbeit mit historischen Quellen
1 1
Mitteilungsabsicht
Adressaten
Funktionen des Bildes (liturgische, didaktische, soziale, rechtliche, propa-
gandistische)
War das einzelne Bild Teil eines Bildprogramms?
War das Bild repräsentativ für seine Zeit?
Was hier bei Büttner in historicum.net nur auf Bilder bezogen scheint, gilt in glei-
cher Weise für Fotos. So auch die Fragen zum wirkungsgeschichtlichen Kontext:
Wer konnte das Bild sehen?
Verbreitung?
Erwartungen und Vorkenntnisse des Bildbetrachters?
War ein Bildprogramm zu seiner Zeit erfolgreich? (weiterentwickelt / ver-
worfen?)
Spätere Wirkung, Interpretation, Veränderung, Fälschung?
Auch wenn Bilder und Fotos als eigenständige historische Quelle zu werten und zu
bearbeiten sind, können sie im DaF-/DaZ-Unterricht häufig mit Gewinn kom-
plementär zu Textquellen eingesetzt werden. Dabei darf allerdings nicht unberück-
sichtigt bleiben, dass es Bilder sind, die am ehesten im Gedächtnis haften bleiben.
2.4 Filme als historische Quellen
Einen ganz besonderen Bereich stellt der Film als historische Quelle dar. 4 Sei es
der Dokumentarfilm, eine propagandistisch angelegte Wochenschau aus der NS-
Zeit oder auch der Spielfilm, in dem Zeitströmungen transportiert werden, welche
als Quellengattung eigener Art interpretiert werden können (z.B. Hey 2001). Film-
material entwickelt im Unterricht sehr leicht eine Eigendynamik und ist, auch wenn
heutzutage alle Lerner über sehr viel Filmseherfahrung verfügen, aufgrund der
Komplexität, die Lernern in der Regel nicht bewusst ist, am schwierigsten zu bear-
beiten. Am sinnvollsten ist es oft — wenn zum Thema möglich — , eine Filmsequenz
nach der Textarbeit ergänzend zu zeigen, um unterschiedliche Zugänge zur Inter-
pretation eines historischen Themas zu ermöglichen.
4 Eine gute Zusammenstellung der relevanten Fachliteratur (Stand 2006) findet sich von Hilke
Günther-Arndt unter: http:/ /www.historicum.net/lehren-lernen/geschichtsdidaktik/medien-histori-
schen-lernens/visuelle-quellen-und-darstellungen/ art/4_Filme/html/ artikel/3003/ ca/ -
flfb0e926202946b5b5032475377a21e/. Vgl. auch die Beiträge von Wolfgang Koller und Jens Grim-
stein im vorliegenden Band.
Copyrighted malerial
12
Uwe Koreik
3 Schlussbetrachtung
„Geschichte hat es stets mit - wie der einschlägige didaktische Begriff lautet -
Alteritätserfahrung, also der Erfahrung von Andersartigkeit zu tun: Wer sich mit
vergangenen Zeiten befasst, begegnet dem Fremden" (Sauer 7 20 08: 76); so lautet
die Feststellung eines deutschen Geschichtsdidaktikers. Wenn man sich die beson-
dere Situation des DaF-/DaZ-Unterrichts vor Augen führt, in dem nichtdeutsche
Lerner bemüht sind, die deutsche Sprache zu erlernen bzw. deren Handhabung zu
perfektionieren und gleichzeitig Erkenntnisse über kulturelle Gegebenheiten und
Hintergründe des Zielsprachenlands erfahren wollen bzw. sollen, dann ist offen-
sichtlich, dass hier zunächst eine doppelte Verfremdung greift: die der zeitlichen
wie auch die der kulturellen Fremde. Zugleich ist jedoch auch klar, dass es hin-
sichtlich der zeitlich bedingten Fremde die Ähnlichkeit des Ungleichzeitigen oder
auch (fast) Gleichzeitigen und hinsichdich kultureller Unterschiede die Ähnlichkeit
des vermeintlich Anderen geben kann, was bedeutet, dass das Fremde gar nicht so
fremd sein muss, wenn ein Bewusstsein für die jeweils eigene Geschichte (welches
im Unterricht sogar herbeigeführt werden kann) den Blick auf die behandelten
historischen Quellen schärft und auch erweitert.
Auf jeden Fall bietet der Einsatz historischer Quellen im DaF-/DaZ-Unter-
richt die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Authentischem, was einen Reiz
an sich darstellt. Zudem eröffnet die Arbeit mit historischen Quellen eine themati-
sche Vielfalt, die gerade auch angesichts der inzwischen im Internet zur Verfügung
gestellten Quellen 5 eine komfortable und flexible Unterrichtsgestaltung ermöglicht.
Wird dann noch ein angemessenes Verhältnis von Beiträgen der Lehrkraft, not-
wendigen Hintergrundinformationen, Eigenarbeit der Lerner, zusätzlicher Recher-
che und nach Möglichkeit ein Zugang über verschiedene einander ergänzende
Quellenarten eingehalten, kann die Arbeit mit historischen Quellen nicht nur Spaß
machen, sondern ein Erkenntnispotential eröffnen, das weit über den punktuellen
Erwerb von Tatsachenwissen über das Zielsprachenland hinausgeht.
Literatur
ABCD-Thesen zur Rolle der Landeskunde im Unterricht (1990): Deutsch als
Fremdsprache 27(2): 306-308.
Altmayer, Claus; Koreik, Uwe: Geschichte und Konzepte einer Kulturwissenschaft
im Fach Deutsch als Fremdsprache. In: Krumm, Hans-Jürgen et. al., 1377-
1390.
5 Einen guten Überblick über Quellen und Editionen bietet: http://www.historicum.net/de/lehren-
lernen/internet-im-geschichtsstudium/archive-quellen-editionen/ und der Beitrag von Thomas Roth
im vorliegenden Band.
Copyrighted malerial
Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht - zur Arbeit mit historischen Quellen
13
Büttner, Sabine (2007): Bilder als historische Quellen, in: historicum.net, URL:
http:/ / http://www.historicum.net/lehren-lernen/arbeiten-mit-
quellen/bilder-als-quellen/.
Burke, Peter (2003): Augen^eugenschaft. Bilder als historische Quellen. Berlin:
Wagenbach.
Fornoff, Roger (2009): Erinnerungsgeschichtliche Deutschlandstudien in
Bulgarien. Theoriekonzepte - unterrichtspraktische Ansätze -
Lehrerfahrungen. In: Informationen Deutsch als Fremdsprache 36,6, 499-517.
Grabe, Daniela (2004): Immer dieselbe Geschichte? Konfliktbearbeitungsmetho-
den im DaF-Unterricht. In: Hans-Jürgen Krumm und Paul R. Portmann-
Tselikas (Hrsg.), Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge %u Deutsch als
Fremdsprache 8, 25-38. Innsbruck etc.: Studienverlag.
Hey, Bernd (2001): Zwischen Vergangenheitsbewältigung und heiler Welt. Nach-
kriegsdeutsche Befindlichkeiten im Spielfilm. In: Geschichte in Wissenschaft und
UnterrichtSl, 228-237.
Jäger, Jens (2000): Photographie. Bilder der Neuheit. Finführungin die Historische
Bildforschung (Historische Einführungen Bd. 7). Tübingen: Edition Diskord.
Koreik, Uwe (1995): Deutschlandstudien und deutsche Geschichte. Die deutsche Geschichte im
Rahmen des Fandeskundeunterrichts für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler:
Schneider.
Koreik, Uwe (1998): Deutsche Geschichte und inter kulturelles Lernen im
Landeskundeunterricht für Deutsch als Fremdsprache. In: Wolff, Armin; Blei,
Dagmar (Hrsg.): DaF für die Zukunft. Fine Zukunft für DaFl, Beiträge der 23.
Jahrestagung DaF 1995. Regensburg: FaDaF, 1997, 329-340 (Materialien
Deutsch als Fremdsprache, 44).
Koreik Uwe (2010): Landeskundliche Gegenstände: Geschichte. In: Krumm,
Hans-Jürgen et. al., 1478-1483.
Koreik, Uwe (2011): Landeskunde. In: Ahrenholz, Bernt; Oomen- Welke, Ingelore
(Hrsg.): Handbuch Deutsch als Fremdsprache (= Deutschunterricht in Theorie und
Praxis, Band 10) Baltmannsweiler: Schneider (im Druck).
Koreik, Uwe; Pietzuch, Jan Paul (2010): Entwicklungslinien landeskundlicher
Ansätze und Vermittlungskonzepte. In: Krumm, Hans-Jürgen et. al., 1441-
1454.
Krumm, Hans-Jürgen; Fandrych, Christian; Hufeisen, Britta; Riemer, Claudia
(Hrsg.) ( 2 2010): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch.
Berlin, New York: de Gruyter.
Copyrighted malerial
14
Uwe Koreik
Maijala, Minna (2004): Deutschland von außen gesehen. Geschichtliche Inhalte in Deutsch-
lehrbüchern ausgewählter europäischer Länder. Frankfurt/ Main: Lang.
Maijala, Minna (2007): Zur Analyse von landeskundlichen bzw. geschichtlichen
Inhalten in Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache. In: Deutsch als
Fremdsprache 44(3): 174-180.
Opgenoorth, Ernst; Schulz, Günther ( 6 2001): 'Einführung in das Studium der Neueren
Geschichte. Paderborn: Schöningh.
Sauer, Michael (2000): Bilder im Geschichtsunterricht. Typen, Interpretationsmethoden,
Unterrichtsverfahren. München: Kallmeyer.
Sauer, Michael (2005): Bilder als historische Quellen, in: Bundeszentrale für
politische Bildung, http://www.bpb.de/themen/F0RC2C.html.
Sauer, Michael ( 7 20 08): Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und
Methodik. Seelze-Velber: Kallmeyer.
Schlaak, Alexander (o.J.): Bilder als historische Quelle, http://www.uni-
konstanz.de/FuF/Philo/Geschichte/Tutorium/Themenkomplexe/ Quellen/
Quellenarten/Bilder/bilder.html.
Schücking, Levin L. (1927): Die Kulturkunde und die Universität. In: Die neueren
Sprachen 1, XXXV, 1-16.
Schmidt, Sabine; Karin Schmidt (Hrsg.) (2007): Erinnerungsorte. Deutsche Geschichte im
DaF -Unterricht. Berlin: Cornelsen.
Schulze, Winfried ( 2 1991): Einführung in die Neuere Geschichte. Stuttgart: UTB.
Thimme, Christian (1994): Zeitgeschichte in Lehrwerken Deutsch als
Fremdsprache. In: Informationen Deutsch als Fremdsprache 21 (4), 456-474.
Thimme, Christian (1996): Geschichte in Eehrwerken. Deutsch als Fremdsprache und
Französisch als Fremdsprache. Ein deutsch französischer Lehrbuchvergleich. Baltmanns-
weiler: Schneider.
Winkler, Heinrich-August (2011): „Wir sind rückwärts gekehrte Propheten." In:
Spiegel-Online (http:/ / www.spiegel.de/ unispiegel/ wunderbar/ -
0,1 51 8,751 563,00.html), 32.3.2011.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
Thomas Roth
1 Geschichte und Internet
Die Etablierung des Internet 1 in den 1990er Jahren hat auch in der Geschichts-
wissenschaft entgegengesetzte Reaktionen hervorgerufen: Neben kulturkritischer
Abwehr und medienkritischen Kommentaren standen optimistische, zuweilen fast
euphorische Einschätzungen. 2 Das Internet versprach demnach:
1 Der Begriff „Internet" umfasst nicht nur Verknüpfungen im Rahmen des „World Wide Web"
(WWW), sondern zahlreiche andere Dienste (wie E-Mail, Mailinglisten, Chats, Newsgroups etc.);
„Internet" bezeichnet eher die Infrastruktur der Vernetzung, während der Begriff des „World Wide
Web" auf die abrufbaren elektronischen Dokumente verweist (s. Pscheida 2010: 9, Fn. 1). In der
Folge werden beide Begriffe aus pragmatischen Gründen dennoch weitgehend synonym verwendet;
wenn es um die Präsentation historischer Quellen geht, ist i.d.R. das WWW gemeint. - Stand für die
in den Fußnoten genannten Internetadressen ist jeweils Juli 2011. Die zitierten Webadressen können
wegen des Zeilenumbruchs zusätzliche Trennstriche enthalten.
2 Zur Diskussion um das Verhältnis von Internet, Geschichte, Geschichtswissenschaft und
Geschichtsdidaktik vgl. — auch für die folgenden Ausführungen — Alavi 2010; Burckhardt; Hohls;
Prinz 2007; Burckhardt; Hohls; Ziegeldorf 2005; Cornelißen 2008; Danker; Schwabe 2008a; Epple;
Haber 2005; Haber; Koller; Ritter 2002; Hödel 2007; Jenks; Marra 2001; Kröll 2010; Kümper 2010;
Schmale 2010; Schmale et al. 2007; Schürer 1999; Schwabe 2010; Spahn 2009; zu Internet,
Erinnerungs- und Geschichtskultur Assmann 2004: 55ff.; Assmann 2006: 243ff.; Bavendamm 2006;
Beier 2000; Dornik 2004; Dornik 2010; Hein 2005: 184ff.; Hein 2009a; Meyer 2009a; Meyer 2009b;
Zierold 2006: 166ff. Die Literatur über Chancen, Grenzen und Gebrauchsweisen des Internet ist
kaum noch überschaubar und muss hier nicht ausführlicher benannt werden. Zur
mediengeschichtlichen Einführung vgl. Bosch 2011: 227f£; Haber 2009; Hörisch 2004: 386ff.;
Pscheida 2010: 11 ff, 65ff, 245ff.
Copyrighted malerial
16
Thomas Roth
— erweiterte Möglichkeiten wissenschaftlichen Austausches durch die Verkürzung
der Kommunikationswege, die Beschleunigung der Interaktion und neue Formen
wissenschaftlicher Publikation und Edition;
— bessere Forschungsbedingungen durch die Digitalisierung analoger Informations-
träger und den Wegfall von institutionellen oder räumlichen Barrieren beim
Zugriff auf Bibliotheken und Archive;
— erweiterte Möglichkeiten historischen Erzählens durch Hypertext und Multi-
media, die (nichtlineare) Verknüpfung von Texten und Kombination mit Audio-,
Video- und Fotosequenzen;
— Impulse für die Geschichtsvermittlung und das gesellschaftliche Geschichts-
bewusstsein durch die bessere „Anbindung" breiter Bevölkerungskreise an histo-
rische Ausstellungen, ihre Einbindung in geschichtspolitische Debatten und Betei-
ligung an öffentlichen Erinnerungsprozessen;
— neue Möglichkeiten historischen Lehrens und Lernens durch Informations-
zuwächse und Interaktivität, eine verbesserte Kommunikation zwischen Lehrer
und Lerner, die Auflösung streng hierarchischer Unterrichtssituationen und ziel-
gruppenangepasste Umgebungen für individuelles, selbsttätiges, forschendes
Lernen.
Wie bei allen medientechnologischen Umbrüchen (vgl. Bosch 2011; Hörisch
2004; Vowinckel 2010) hat sich auch in Bezug auf das Internet mittlerweile eine
realistischere Einschätzung durchgesetzt. Die Geschichtswissenschaft sieht -
ähnlich wie die Fremdsprachendidaktik 3 - die allgemeinen Potenziale der neuen
Technologie, betrachtet aber auch die mit ihr verbundenen Probleme und beachtet
nun stärker die konkrete institutionelle und individuelle Nutzung des „Netzes".
Dabei zeigt sich auch, dass die erweiterten technischen Möglichkeiten zu einer
Zunahme von Daten und Veröffentlichungen, „Information overload" und Orien-
tierungsschwierigkeiten führen. Das Internet mag zur einer Ausdifferenzierung,
Pluralisierung oder gar „Demokratisierung" der Erinnerungs- und Geschichts-
kultur(en) beitragen, 4 relativiert aber auch sinnvolle Strukturen zur Bewertung, kri-
tischen Reflexion und Filterung historischen Wissens; die Vertrautheit zumal
jüngerer Nutzer mit dem „Netz" und seinen Inhalten kann nicht mit Medien-
kompetenz, geschweige denn mit historischer Methodenkompetenz gleichgesetzt
werden. Traditionelle Vermittlungs- und Unterrichts formen sind durch E-Lear-
ning, Weblogs und Wikis nicht entbehrlich geworden, während die Chancen, die
das Internet für eine hypermediale, modulare und multiperspektivische Präsen-
tation von historischen Sachverhalten bietet, oft (noch) nicht einmal genutzt
werden. Das Internet ist also nicht die - befürchtete oder ersehnte - Maschine
3 Vgl. die zahlreichen Publikationen, die seit Ende der 1990er Jahre zur Bedeutung der „neuen" oder
„digitalen Medien" im Fremdsprachenunterricht entstanden sind; die Diskussionen resümierend:
Bausch; Christ; Krumm 4 2003 : 269ff., 426ff., 430f£; Krumm et al. 2010: etwa 1199f£, 1227ff. sowie
Huneke; Steinig 5 2010: 21 Off.
4 So die gängigen begrifflichen Formeln in der Literatur, vgl. Anm. 2.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
17
einer neuen Geschichtswissenschaft, -didaktik oder Geschichtskultur, 5 sondern
Arbeitsmittel, Präsentationsplattform und Kommunikationsraum mit sehr unter-
schiedlichen Optionen, „Gebrauchsweisen" (Dörte Hein) und Akteuren. Das wird
sich auch beim Blick auf historische Quellen und Materialien im Internet zeigen.
2 Historische Quellen, Digitalisierung und Internet
Seit Ende der 1990er Jahre sind zahlreiche Initiativen zur Digitalisierung von
historischen Quellen entstanden, die nicht notwendigerweise, aber in der Regel mit
dem Internet verbunden sind (vgl. Burckhardt; Hohls; Prinz 2007: Bd.l, 69ff,
206ff., 466ff; Czmiel et al. 2005; Haber 2009: 141 ff, 164ff; Hering 2006; Jahrbuch
2007; Kruse 2008: 29ff, 43ff; Maier 2007; Sahle 2001). Zu Beginn stand die Digi-
talisierung von historischen Findmitteln und Bestandskatalogen im Mittelpunkt.
Der weltweite Zugriff auf die Verzeichnisse von Bibliotheken und Archiven, heute
eine Selbstverständlichkeit, absorbierte beachtliche finanzielle und personelle Res-
sourcen, so dass die Digitalisierung der Quellen selbst oft erst in einem zweiten
Schritt möglich war. Dabei ging es einmal darum, bisher oft entlegene Dokumente
der wissenschaftlichen „Community" zugänglich machen und Quellen für com-
putergestützte Analyse verfahren aufzubereiten, zum anderen um Erhalt und
Datensicherung bei sensiblen Beständen oder die Präsentation von herausragen-
dem Kulturgut. Antriebskräfte für die vermehrte Einbindung von historischen
Quellen ins Internet waren allerdings nicht nur Ambitionen von Wissenschaft und
Archiven, sondern auch die Bedürfnisse einer Öffentlichkeit, die sich intensiv mit
geschichtlichen Ereignissen und Verantwortlichkeiten beschäftigt, in der
historische Befunde und Deutungskonflikte eng mit kultureller Sinnstiftung und
politischen Debatten verbunden sind und „die Geschichte" mittlerweile ein eta-
bliertes Unterhaltungsmittel ist. 6
Ein großer Teil der heute im Internet zu findenden Quellen zur deutschen
Geschichte wurde von großen staatlichen Archiven und Bibliotheken zugänglich
gemacht, die — oft gefördert von Ministerien und Einrichtungen wie der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft - zunächst kostbare mittelalterliche und frühneu-
zeitliche Urkunden, wichtige kirchen-, politik- und rechtsgeschichtliche Doku-
mente, Gelehrtennachlässe, schwer erreichbare Drucke des 15.-18. Jahrhunderts
5 Jüngere Untersuchungen zum World Wide Web betonen, dass sich im „virtuellen Raum" keine
eigenständige „Erinnerungskultur" entwickle, sondern Online -Angebote andere „Erinnerungs-
medien" und -angebote ergänzten und spiegelten (vgl. Hein 2009a; Hein 2009b: 164ff.; Meyer 2009b
sowie Dornik 2004).
6 Vgl. hierzu einführend Barricelli; Hornig 2008; Bosch 2007; Bosch; Goschler 2009; Hardtwig; Schug
2009; Körte; Paletschek 2009; Paul 2010; Schwarz 2010; zur Geschichte historischer Debatten und
Auseinandersetzungen in Deutschland nach 1945 einführend Große Kracht 2005; Sabrow; Jessen;
Große Kracht 2003; Wolfrum 1999; Wolfrum 2001: 56ff.
Copyrighted malerial
18
Thomas Roth
oder frühes wissenschaftliches Schrifttum erschlossen 7 haben. Parallel dazu sind
geschichtswissenschaftliche Internet-Portale und -Journale entstanden, in denen
gelegentlich historische Dokumente präsentiert, quellenkritisch eingeordnet sowie
geschichtlich kontextualisiert und diskutiert werden. 8 Das Angebot weitet sich
dabei Schritt für Schritt: So werden inzwischen verstärkt Quellen der neueren und
neuesten Zeit im WWW publiziert. Und aufgrund der inhaltlichen und
methodischen Öffnung der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten
findet ein breites Spektrum von Quellen Berücksichtigung, vom „gesellschaftlichen
Alltag" bis zur „hohen Politik".
Wichtiger Motor für die Publikation von Quellen im Netz sind auch andere
Akteure der weit ausdifferenzierten deutschen Geschichtslandschaft. Zahlreiche
Gedenkstätten, Museen, Dokumentationsstellen und historische Initiativen suchen
die „virtuelle Öffentlichkeit" und verwenden Quellen für die institutionelle
Selbstdarstellung, die Werbung und Bindung von Besuchern oder eine vertiefende
zielgruppenorientierte pädagogische Arbeit. 9 Auch Stiftungen und Einrichtungen
historisch-politischer Bildungsarbeit nutzen das World Wide Web verstärkt, um
historische Themen mit „authentischem" Material nahe zu bringen. Der Födera-
lismus führt dabei zu einer Vervielfältigung der Angebote — zumal durch landes-
und regionalgeschichtliche Plattformen, die in vielen (Bundes-)Ländern entstanden
sind (vgl. Rettinger; Schrade 2006; Schlögl 2006; Weidner 2010). Historische
Websites, die Überblicksdarstellungen, Einführungstexte und Basisinformationen
mit exemplarischen Quellen verknüpfen, sind jedoch nicht nur auf „Land und
Leute" bezogen, sondern auch auf bestimmte Ereignisse und Erinnerungsorte. Die
in der Wissenschaft zum Teil beklagte Fixierung der Öffentlichkeit auf Jahrestage
und Jubiläen und die zunehmende „Eventisierung" von Geschichte (Handro 2009:
7 In der Regel handelt es sich um Digitalisate (also digitale „Faksimiles"), mitunter um Trans-
kriptionen, z.T. um wissenschaftlich kommentierte Editionen. Vgl. die weiterführenden Hinweise,
Erläuterungen und Links unter http://www.historicum.net/recherche/digitalisierte-quellen/textres-
sourcen; http://www.clio-online.de/ site/lang de/95/ default.aspx; http:/ / www.ub.uni-heidelberg.de/he-
lios/digi/digiallg.html; http://old.hki.uni-koeln.de/retrodig/ (Ubersicht über Retrodigitalisierungs-
Projekte mit Unterstützung der DFG); http:/ /gdz. sub.uni-goettingen.de/ (Göttinger Digitalisierungs-
zentrum); http://www.digitale-sammlungen.de/ (Münchner Digitalisierungszentrum); http://www.-
zvdd.de/ („Zentrales Verzeichnis Digitalisierter Drucke") sowie http://www.intelligent-informa-
tion.de/hintergrundsinformation/digitaiisierungsprojekte-bestandsaufnahme/.
8 Vgl. die Hinweise in Anm. 26. Zu regional- und landesgeschichtlichen Portalen vgl. Anm. 29.
9 Dabei gibt es jedoch sehr unterschiedliche Ansätze. Während sich ein großer Teil der Einrichtungen
zurückhaltend gegenüber ausgedehnten Web-Präsentionen gibt und das Internet eher selektiv nutzt,
haben sich Einrichtungen wie das Deutsche Historische Museum in Berlin oder das Haus der
Geschichte in Bonn schon frühzeitig um ihren „virtuellen" Auftritt bemüht, Sammlungsdatenbanken
zugänglich gemacht oder Ausstellungen im Netz „archiviert". Die Beteiligung am Web 2.0 und die
offensive Nutzung von Plattformen wie „Flickr", „Facebook" oder „YouTube" für die
Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit - wie sie etwa vom Anne Frank Haus, Yad Vashem oder dem US
Holocaust Memorial Museum praktiziert wird - ist noch nicht allgemein üblich. Vgl. die Beiträge der
im April 2011 durchgeführten Tagung „Digital Memory on the Net" unter http://www.bpb.de/ver-
anstaltungen/EB66Ql.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
19
79ff.) hat zuletzt mehrere Projekte begünstigt, in denen Symbolorte und Wende-
punkte deutscher Geschichte multimedial präsentiert werden. 10
Daneben versuchen auch private Unternehmen, den Bedarf an historischer
Rückschau und Selbstvergewisserung, Appeal und Aura historischer Quellen zu
nutzen. Die notorischen Digitalisierungsprojekte von Google 11 haben nicht nur
wichtige Buchbestände und Kunstobjekte 12 „übers Netz" zugänglich gemacht,
sondern den Druck auf öffentliche Einrichtungen erhöht. Projekte wie die „Deut-
sche Digitale Bibliothek" oder die digitale Bibliothek „Europeana" 13 sind demnach
auch als Gegenentwurf zum „Google Books Library Project" zu verstehen — als
Versuch, der vermeintlich drohenden „Amerikanisierung" des digitalen Gedächt-
nisses zu begegnen, 14 kommerzielle Interessen zu begrenzen und dem europä-
ischen Kulturgut eine eigene Plattform zu verschaffen (vgl. Euler 2011: 345ff.). 15
Google ist jedoch nicht der einzige privatwirtschaftliche Akteur im „Digitali-
10 Vgl. die Hinweise in Abschnitt 5.
11 Seit 2004 digitalisiert Google in Kooperation mit Bibliotheken und Verlagen Buchbestände und
macht die Digitalisate online verfügbar (derzt. unter dem Namen „Google Bücher/books.google");
dabei wurden neben älteren urheberrechtsfreien Büchern und „verwaisten Werken", wo
Rechteinhaber unauffindbar oder unbekannt waren, auch Bücher erfasst, für die noch
Urheberrechtsschutz bestand - solange die Rechteinhaber nicht widersprachen. Nach Klagen von
Betroffenen und einem 2008 entwickelten Vergleich zwischen Google und amerikanischen Verlagen
und Autoren, der dem Konzern eine Digitalisierung urheberrechtsgeschützter Bücher gegen
Entschädigung und gewisse Einschränkungen erlaubte, ist die Digitalisierungspraxis seit einem
amerikanischen Urteil vom März 201 1 zunächst in Frage gestellt. — Deutsche Buchbestände sind von
Google bisher nur vergleichsweise zurückhaltend erfasst worden, wegen des enger gefassten
deutschen Urheberrechts und größerer Skepsis der dortigen Bibliotheken und Verlage (vgl. Euler
2011).
12 Vgl. http:/ /www.googleartproject.com/. Das Projekt - laut Spiegel ein „StreetView für Museen" -
präsentiert derzeit virtuelle Rundgänge durch siebzehn weltbekannte Museen (darunter das Museum
of Modern Art, die Eremitage, die Reina Sofia oder die Alte Nationalgalerie in Berlin) und jeweils
hochauflösende Scans von einzelnen Werken der Malerei.
13 Vgl. http://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/ und http://www.europeana.eu/portal/. Die
2009 initiierte Deutsche Digitale Bibliothek und die 2007 ins Leben gerufene Europeana sind als
Portale mit umfangreichen Suchfunktionen konzipiert, über die man Zugriff auf die Daten und
digitalisierten Bestände der beteiligten Bibliotheken und Archive bekommt. Die DDB, die noch in
der Konzeptionsphase ist, wird vor allem von großen staatlichen Archiven, Bibliotheken und
Wissenschaftsinstituten getragen; an der Europeana oder Europäischen Digitalen Bibliothek wirken
derzeit Einrichtungen aus 30 Ländern (vor allem Frankreichs, Spaniens, Italiens, Griechenlands,
Deutschlands, Österreichs und des Beneluxraums) mit. Sowohl DDB als auch Europeana wollen
nicht nur Bücher und Druckwerke in den Mittelpunkt stellen, sondern Fotosammlungen, Filme und
Abbildungen von Objekten erfassen.
14 Befürchtet wird zum einen, dass die von Google betriebene Digitalisierung schwerpunktmäßig
amerikanisches Kulturgut erfasst, zum anderen, dass die digitalisierten europäischen Quellen aus
rechtlichen Gründen nur amerikanischen Nutzern zugänglich sein könnten.
15 Bisher bleibt die Europeana jedoch deutlich hinter Google zurück. Aus urheberrechtlichen
Gründen, aber auch wegen des geringeren finanziellen Einsatzes der öffentlichen Hand und
institutioneller Blockaden verfügt die Europeana bisher über deutlich weniger Digitalisate als die
Google-Datenbank. Deutsche Quellen sind bislang vergleichsweise spärlich vertreten. Vgl. die
Angaben unter http://www,spiegel.de/netzwelt/web/0,l 51 8,591 570,00.html; http://www.welt.de/-
kultur/article5004877/Literatur-kann-man-gut-ohne-Google-digitalisieren.html und http:/ /www.-
spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,753229,00.html.
Copyrighted material
20
Thomas Roth
sierungsgeschäft". Auch andere Anbieter engagieren sich auf dem Markt für
historische Stoffe und Dienstleistungen, wie vor allem der Spiegel-Konzern 16 oder
der Zenodot- Verlag mit seiner Volltextbibliothek „zeno.org". 17
Schließlich sind Initiativen der Nutzer selbst zu nennen. So kursieren vielfach
Quellentexte, gescannte Fotografien oder Filmausschnitte — teilweise unter Miss-
achtung von Urheber- oder Archivrechten - in den verstreuten Foren zu histo-
rischen Themen oder Portalen wie „Flickr" oder „YouTube". Es gibt aber auch
Bemühungen um eine koordiniertere Zusammenstellung historischer Quellen, in
erster Linie natürlich bei dem 2001 gegründeten deutschen „Wikipedia" — wo man
den Status des „Amateurhaften" zunehmend abzustreifen versucht, 18 mit dem
„Schwesterprojekt" (Cyron 2009: 262) „Wikisource" seit 2005 eine Sammlung
rechts-, politik- und kulturgeschichtlicher Quellen entwickelt und dabei mittler-
weile auf professionelle Unterstützer wie das Bildarchiv des Bundesarchivs und die
Deutsche Fotothek zurückgreifen kann (Beine 2009; Sahle 2009). 19
Das Internet etabliert sich so immer mehr als wichtiges „Gedächtnismedium"
(Assmann 2006: 243), als Struktur, die historische Quellen direkt zugänglich macht.
Dennoch gibt es auch gegenläufige Tendenzen. Kommerzielle Interessen, aber
auch berechtigte urheber-, archiv- und datenschutzrechtliche Vorbehalte (vgl.
Burckhardt; Hohls; Ziegeldorf 2005: 49ff.; Euler 2011) stehen vor allem bei
16 Der Spiegel-Verlag stellt nicht nur die früheren Ausgaben des Nachrichtenmagazins online zur
Verfügung, sondern betreibt das quellenorientierte Geschichtsportal „einestages" und ist führender
Akteur auf dem Markt für Geschichtsdokumentationen und „Histotainment" (Spiegel TV). Auch das
ursprünglich eigenständige Projekt „Gutenberg-De", das sich die Webpräsentation urheberechtsfreier
(literarischer) Texte vorgenommen hatte, ist mittlerweile vom Spiegel- Verlag aufgegriffen und an
Spiegel Online angedockt worden; vgl. http://gutenberg.spiegel.de/. Andere Medienunternehmen
wie der ZEIT-Verlag oder Gruner + Jahr agieren ebenfalls auf dem Markt für historische Inhalte und
halten Online-Angebote mit redaktionellen Inhalten, die auch vereinzelt Quellen vorstellen. Vgl. etwa
http:/ /www.zeit.de/wissen/geschichte/index oder http:/ / www.geo.de/GEO/heftreihen/geo_epo-
che/ magazinuebersicht.html.
17 Vgl. http:/ / www.zeno.org/.
18 Das zeigt sich u.a. daran, dass sich Wikipedia um Redaktionen für bestimmte Themenbereiche
bemüht, Qualitätssiegel für fundierte Artikel vergibt, die Veränderbarkeit ausgereifter Beiträge
einschränkt, Zugriffsrechte abstuft, Propagandaattacken und „Edit wars" zu unterbinden versucht.
Auf der anderen Seite versuchen Einrichtungen politisch-historischer Bildungsarbeit zunehmend auf
die Wikipedia-Artikel Einfluss zu nehmen; so möchte etwa ein Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung
die Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung auf den „richtigen" Stand bringen (vgl.
http://www.fes.de/hfz/forschung/inhalt/projekte.htm#projekt_woyke). Zur Kritik der „Professio-
nalisierungsbestrebungen" bei Wikipedia vgl. Cyron 2009; Lorenz 2009a: 296ff., 305f. bzw. Lorenz
2009b; Meyer 2009a: 279f.; Pscheida 2010: 331 ff.
19 Vgl. http:/ /de.wikisource.org. Veröffentlicht werden Quellen, die urheberrechtsfrei sind oder unter
einer freien Lizenz stehen. Das Bundesarchiv hat 2008 ca. 100.000 Fotos aus seinen Beständen für
die Nutzung über Wikisource freigegeben, so lange Archiv und Urheber genannt und die Dateien nur
zu gleichen Bedingungen weitergegeben werden (Creative-Commons-Lizenz BY-SA). Seit 2009 gibt
es eine Zusammenarbeit mit der Deutschen Fotothek der Sächsischen Landesbibliothek — Staats- und
Universitätsbibliothek Dresden, die Wikisource zunächst 250.000 Bilder zur Verfügung stellen will.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
21
zeithistorischen und massenmedialen Quellen einem schnellen Zugriff entgegen. 20
Oft benutzen Museen und Gedenkstätten Quellen, zumal Bilder, nur als „Teaser"
oder Orientierungspunkte, da das Internet Interesse wecken, aber nicht den Aus-
stellungsbesuch ersetzen und bei sensiblen historischen Themen eine visuelle
„Reizüberflutung" vermieden werden soll (vgl. Hein 2009a: 159ff, 212ff., 254, 257;
Hein 2009b: 161 ff.) . Abgesehen von grundsätzlicheren Einwänden gegen die Digi-
talisierung verfügen viele Archive, Forschungseinrichtungen und Museen nicht
über die personellen, finanziellen und technischen Möglichkeiten für eine rasche
und systematische Onlinestellung ihrer Bestände. So werden historische Quellen
meist nur exemplarisch und projektorientiert zugänglich gemacht. Dies gilt noch
mehr für die Privatinitiativen von Internetnutzern, deren Quellenerschließung oft
punktuell, impressionistisch und persönlich motiviert ist. Das Internet ist also kein
eigenständiges, umfassendes Archiv, sondern eine selektive „Benutzeroberfläche"
für die historische Überlieferung.
3 Quellensuche
Macht man sich im Internet nun auf die Suche nach historischen Quellen zur
deutschen Geschichte 21 oder brauchbaren Materialien für eine moderne, historisch
fundierte Landeskunde 22 , so wird man mit der üblichen Suche per Google (Yahoo
u.a.) schon recht weit kommen. 23 Wer dort einschlägige Begriffe wie „Ermächti-
2,1 So sind viele digitalisierte Quellen, die urheberrechtlichen Beschränkungen unterliegen oder
kommerziell vermarktet werden (v.a. Fotos und Filme), nur nach Registrierung und gegen Entgelt
recherchier- und nutzbar (also Teil des „Hidden Web/Invisible Web").
21 Im Folgenden kann die „Quellenlage" im World Wide Web nur oberflächlich und ausschnitthaft
dargestellt werden. Genauere Ausführungen zu Struktur, Aufmachung, inhaltlicher Qualität und
didaktischer Brauchbarkeit der genannten Websites müssen aus Platzgründen entfallen. Hier können
nicht nur kommentierte Linklisten weiterhelfen, sondern vor allem die Web-Rezensionen und
Intemettipps, die im Portal H-Soz-u-Kult sowie seit der Jahrtausendwende regelmäßig in den
Zeitschriften „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht", „Geschichte Lernen" und „Praxis
Geschichte" erscheinen, vgl. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezwww und
http:/ / www.praxisgeschichte.de/ unterricht/index_links.php.
22 „Modern" zielt hier auf den Ansatz einer neueren, nicht nur Fakten vermittelnden, sondern
kulturwissenschaftlich grundierten, handlungsorientierten, kommunikativen und interkulturell
ausgerichteten Landeskunde (vgl. die verschiedenen Beiträge in Krumm et al. 2010: 1378-1511 bzw.
die Artikel von Lüsebrink, Leupold und Krumm in Bausch; Christ; Krumm 4 2003: 60ff., 127ff., 138ff.
sowie Huneke; Steinig 5 2010: 84ff.; Storch 2001: 285ff.). „Modern" soll hier aber auch zeitlich
verstanden werden: Wenn Landeskunde - wie die kanonische Formulierung der ABCD-Thesen lautet
— „in hohem Maße [...] Geschichte im Gegenwärtigen" ist, so können sicher auch historische Themen
wie die Reformation und das Zeitalter der Glaubenskriege oder Absolutismus und Aufklärung
landeskundlich von Interesse sein, im Hinblick auf die historischen Grundlagen der Gegenwart
kommt jedoch schwerpunktmäßig die Geschichte des 19-21. Jahrhunderts in Betracht.
23 Einführende Hinweise für das historische Arbeiten mit Hilfe des Internet oder des World Wide
Web bieten z.B. Eder et al. 2006; Gasteiner; Haber 2010; Grosch 2002; Jenks; Marra 2001; die Suche
nach historischen Quellen steht dabei jedoch nicht (immer) im Mittelpunkt. Grundlegend zu
medienadäquaten Recherchestrategien auch Haber 2009: 66ff., 162ff.
Copyrighted malerial
22
Thomas Roth
gungsgesetz", „Thesenanschlag", „Faust", „Kommunistisches Manifest" oder
„Novemberrevolution" eingibt, erhält nicht nur Seiten mit einführenden Infor-
mationen, sondern auch direkt Zugriff auf zentrale Dokumente und Bildquellen.
Das hat vor allem mit der unaufhaltsamen Ausweitung des „Wikipedia-Uni-
versums" (Pscheida 2010) und den Suchalgorithmen von Google u.a. zu tun. 24 Ein
Grund hierfür ist aber auch, dass öffentliche Bildungseinrichtungen Strategien
entwickeln, um dafür zu sorgen, dass ihre Seiten unter den ersten Fundstellen sind
und nicht in einer Treffermenge von 368.000 untergehen - und dabei zum Teil
sogar die Zusammenarbeit mit Suchmaschinenbetreibern suchen. 25 Dennoch ist
„googeln" nicht alles. Abgesehen davon, dass man die Trefferlisten der Such-
maschinen kritisch reflektieren sollte (vgl. auch grundlegend Haber 2005: 86f),
können deren Ergebnisse bei komplexeren Themen immer noch intransparent und
unübersichtlich sein. Je weiter man sich von den großen historischen Ereignissen
und ikonischen Figuren der Geschichte entfernt, sach-, begriffsbezogen oder
zeitübergreifend sucht, desto eher muss man auch andere Wege ausprobieren.
Da übergreifende Quellenportale wie Wikisource oder Europeana derzeit noch
über ein recht lückenhaftes Angebot verfügen, bietet sich an, auch auf Empfeh-
lungen und Linklisten von Fachportalen zurückzugreifen. Zunächst zu nennen
sind hier die aus wissenschaftlicher Sicht zentralen Plattformen „Clio online",
„historicum.net" oder „Zeitgeschichte-online" 26 , aber auch geschichtsdidaktische
Angebote wie auf „Lehrer-Online" 27 Sie erschließen die Weiten des World Wide
24 Vgl. zur Bedeutung der Suchmaschinen Meyer 2009c: 180ff.; grundlegend Lehmann; Schetsche
2005; Machill; Beiler 2007; Wiedmaier 2007. Kritik findet immer wieder, dass die Suchalgorithmen
der Anbieter nicht offen liegen, das Ranking nicht transparent ist und die Trefferlisten von
inhaltlichen Vorentscheidungen und kommerziellen Interessen geprägt sind. Zur Bevorzugung
Wikipedias durch Google vgl. Lorenz 2009b: 21 7f.
25 Vgl. Meyer 2009a: 277 sowie die Beiträge der Tagung „Digital Memory on the Net" von 2011;
http:/ / www.bpb.de/ veranstaltungen/EB66Q 1 .
26 Bei Clio online findet man unter dem Menüpunkt „Web-Verzeichnis" (http:/ / www.clio-online.de-
/site/lang de/40208087/default.aspx) zahlreiche Unterverzeichnisse mit Hinweisen auf WWW-
Ressourcen, für die Quellensuche besonders hilfreich: „Materialien", „Multimedia" und „Quellen".
„historicum.net" (http://www.historicum.net/home/) bietet Themen- und Ländermodule, die
jeweils in einem Unterpunkt wichtige Quellen vorstellen und dabei ausgewählte Links bieten;
erwähnenswert auch der Bereich „Lehren & Lernen" (http://www.historicum.net/lehren-lernen/),
der einführende Hinweise zum Thema Geschichte und Internet gibt, sowie das zu historicum.net
gehörende E-Journal Zeitenblicke (http://www.zeitenblicke.de/). — „Zeitgeschichte-online" (ZOL)
bietet neben Aufsätzen, Vortragsvideos, Ausstellungsrezensionen oder Filmbesprechungen
umfassendere Themenmodule mit Hinweisen auf Online-Ressourcen und ein Verzeichnis zu „Texte
& Quellen", das kommentierte Links zur Verfügung stellt (vgl. http://www.zeitgeschichte-
online.de/go/rainbow/95/de/DesktopDefault.aspx) — allerdings weitgehend übereinstimmend mit
Clio online, dem ZOL zugeordnet ist. Unter Zeitgeschichte-online wird auch auf die Fachzeitschrift
„Zeithistorische Forschungen" verlinkt (vgl. http://www.zeithistorische-forschungen.de/-
site/40208106/default.aspx), deren Themenhefte regelmäßig interessante Beiträge zu wichtigen
Quellen und Quelleneditionen liefern. — Wichtige Informationsangebote (im Aufbau) sind auch
http://www.ieg-ego.eu/ (European History Online) und http://docupedia.de/zg/Hauptseite (Docu-
pedia-Zeitgeschichte).
27 Vgl. bei Lehrer-Online insbesondere das Verzeichnis „Unterricht", das für den Bereich Geschichte
hilfreiche Unterrichtseinheiten und Fachmedien vorstellt, Didaktisierungsmöglichkeiten thematisiert
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
23
Web thematisch, verweisen auf wichtige WWW-Quellen und multimediale An-
gebote, ermöglichen mit Hilfe eigener Suchfunktionen eine beschleunigte
Annäherung an Inhalte wie Materialien und liefern teilweise hilfreiche redaktionelle
Einschätzungen. Portale wie „Virtual Library Museen", das „Online Gedenk-
stättenforum" oder das „BAM-Portal" bieten Informationen und Linklisten für
den Rechercheeinstieg und die weitere Erkundung der Museums- und
Gedenkstättenlandschaft; zum Teil ermöglichen sie auch einen direkten Zugriff auf
digitalisiertes Sammlungsgut und themenbezogene Internetpräsentationen. 28
Wichtige Ansatzpunkte für die Recherche sind auch die Einrichtungen politisch-
historischer Bildung. Sie sind in jüngster Zeit zu wichtigen Akteuren „digitaler
Geschichtsvermittlung" geworden und bieten zum Teil zeitlich und thematisch
breit angelegte Internetdossiers mit Fachartikeln, Glossar, Literaturschau,
illustrierenden Quellen oder weiterführenden Links. 29
und kommentierte Linksammlungen zu historischen Quellen und anderen Materialien bietet.
Brauchbar auch http://www.geschichte -lernen. de/go/Hilfreiche+Links (thematisch geordnete,
kommentierte Links). Das Portal „Lernen aus der Geschichte" bündelt Materialien und Ressourcen
zum Thema NS-Geschichte und gibt dabei zahlreiche Hinweise auf andere Internetpräsentationen
und WWW-Quellen; im Verzeichnis „Lernen & Lehren" finden sich thematische Dossiers, die jeweils
auch externe Links kommentieren und einbinden, vgl. http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-
und-Lehren.
28 Vgl. http://www.historisches-centrum.de/index. php?id=272 (Virtual Library Museen, allerdings
veraltet); http://www.gedenkstaettenforum.de/ (bietet auch Links zu einzelnen Projekten oder
privaten Initiativen); http://www.bam-portal.de/ (Portal für Bibliotheken, Archive, Museen,
ermöglicht objektorientierte Suche). Hilfreich auch http://www.dhm.de/links.html (Linkadressen
von Museumsverbänden und -portalen); http://www.museumsbund.de/de/links/national/ bzw.
http:/ /www.museumsbund.de/ fileadmin/ geschaefts/dokumente/Wir_Mitgliedschaft/Museums-
verzeichnis_2009.pdf; http:/ /www.clio-online.de/site/lang de/54/Default.aspx (Museenübersicht
bei Clio online); http://www.gedenkstaetten-uebersicht.de/WebObjects/ITF.woa/wa/europa (mit
länderbezogenem Zugriff); http://www.ns-gedenkstaetten.de/ (Portal der NRW-Gedenkstätten mit
Einstieg zu Gedenkstätten anderer Bundesländer).
29 Hinter der Bundeszentrale für politische Bildung (http://www.bpb.de/), die auf diesem Gebiet
eine besonders extensive Tätigkeit entfaltet (historische Dossiers mit ergänzenden Quellen und
Verweisen auf WWW-Ressourcen finden sich im Verzeichnis „Themen \ Geschichte", allgemeine
Linktipps im Verzeichnis „Wissen"), stehen die Landeszentralen etwas zurück; sie konzentrieren sich
stärker auf Projektförderung, Schriftenvertrieb und Veranstaltungsmanagement und haben meist
reduzierte Internetangebote. Vgl. jedoch http://www.geschichte.nrw.de/; http://www.lpb-
bw.de/geschichtsdossiers.html; http://www.infoseiten.slpb.de/ sowie das gemeinsame Portal von
Bundes- und Landeszentralen http://www.politische-bildung.de/. - Ausführliche Internet-
präsentationen zur deutschen Geschichte bieten die landesgeschichtlichen Portale, die von
Bibliotheken, Landschaftsverbänden, landesgeschichdichen Ämtern oder Instituten getragen werden.
Quellen werden hier einmal illustrativ in Artikel eingebunden, zum anderen aber auch in gesonderten
Modulen vorgestellt und erläutert. Vgl. etwa http://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/;
http://lagis.online.uni-marburg.de/de/ (Hessen); http:/ / www.lwl.org/westfaelische-geschichte/-
portal/Internet/haupt.php?urlNeu= und http:/ / www.lwl.org/LWL/Kultur/ Aufbruch/ start_-
html/seite2/start2_html; http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Seiten/home.aspx (im Aufbau);
http:/ / www.vimu.info/ general_01 .jsp (Schleswig-Holstein); http:/ / www.landesarchiv-bw.de/ -
web/50999 (Baden-Württemberg, in der Konzeptionsphase); http://www.sachsendigital.de/;
http://www.ooegeschichte.at/Wir-Oberoesterreicher.l294.0.html sowie als Überblick Rettinger;
Schrade 2006; Schlögl 2006; Weidner 2010.
Copyrighted malerial
24
Thomas Roth
Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein wichtiger Lieferant für histo-
rische Materialien und Informationen. Mit dem Boom des Geschichtsfernsehens
und der Profilierung eines bildungsorientierten Kulturradios sind in den letzten
zehn Jahren etliche sendebegleitende Internetangebote entstanden, die weiter-
führende Informationen zur Verfügung stellen und sich vereinzelt sogar zu virtu-
ellen Ausstellungen entwickelt haben. 30
Die Archive und Bibliotheken als eigentliche „Hüter der Überlieferung" und
Lieferanten der Quellen treten demgegenüber etwas zurück. Sie tragen das größte
Gewicht bei der Erschließung und Digitalisierung, setzten aber mit Blick auf die
Sicherung von Kulturgut und die akademische Forschung zunächst andere Schwer-
punkte als die Hauptakteure historisch-politischer Bildungs arbeit und populärer
Geschichtsvermittlung. Ihr Augenmerk galt weniger der Präsentation von
Schlüsseldokumenten und bildhaften, „sprechenden" Quellen als vielmehr der
Aufbereitung größerer Quellenkorpora, die ideen-, kultur- und wissenschafts-
geschichtlich von Interesse, hinsichtlich Inhalt, sprachlicher Komplexität, Struktur
und Anschaulichkeit allerdings nicht für die didaktische Arbeit (geschweige denn
den Fremdsprachenunterricht) geeignet sind.
Allerdings gibt es inzwischen auch bei den Archiven eine verstärkte Wendung
zum Publikum (vgl. Jakobi 2000; Kruse 2008: 30f., 44f.; Lersch; Müller 2010;
Schmitt 2010; Storm 2010), einmal mit Archivportalen, die über Leistungen und
Bestände der überregionalen, regionalen und lokalen „Gedächtnisorte" infor-
mieren, 31 zum zweiten mit archivpädagogischen Modulen, die Dossiers für die
Bildungsarbeit, Studium und Schule bereitstellen. 32
30 Die Zahl der hierbei entstandenen, oft qualitativ guten, zumal für die Bildungsarbeit geeigneten
Angebote war groß, ist nach dem 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag (vgl. Anm. 68) aber stark
zurückgegangen. Wichtige historische Internetausstellungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
gibt es derzeit (Juli 2011) beispielsweise noch zur preußischen Geschichte (http:/ /www. preussen-
chronik.de/), zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen (http://www.deutsche-und-
polen.de/) oder zur Geschichte des Auschwitz-Prozesses (http://www.hr-online.de/website/static/-
spezial/auschwitzprozess/index.html). Besonders breit gefächert sind die Serviceangebote zur
Geschichte der DDR und der deutschen Wiedervereinigung (vgl. Anm. 99).
31 Ein bundesweites Archivportal gibt es noch nicht, jedoch haben fast alle deutschen Länder
entsprechende Angebote eingerichtet; als Beispiel http://www.archive.nrw.de/; Ubersicht unter
http:/ / www.archivschule.de/ Service/ archive-im-internet/archive-in-deutschland/ archivportale/ -
regionale-archivportale-im-internet.html.
32 Vgl. die Angebote unter http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumen-
te/index.html.de; http://www.digam.net/ (Digitales Archiv Marburg); http://www.digada.de/
(Digitales Archiv Hessen-Darmstadt). Mittlerweile haben die meisten Archive pädagogische
Angebote (vgl. http://www.archivpaedagogen.de/), während umfangreichere Online-Module noch
die Ausnahme darstellen.
Copyrighted material
Historische Quellen im Internet
25
4 Quellensorten und -gruppen
Versucht man aufgrund eines ersten Überblicks die „Quellenlage im Internet"
nach Quellensorten oder -gruppen aufzuschlüsseln, so ergibt sich folgendes Bild.
- Wer den rechtlichen und politischen Rahmen der deutschen Geschichte er-
arbeiten möchte, kann über rechtsgeschichtliche Websites, Auftritte von Ministe-
rien und anderen politischen Einrichtungen sowie Bibliotheks- und Archivseiten
neben den Verfassungen als Schlüsseltexten deutscher Staatlichkeit und „klas-
sischer" Staatsbürgerkunde auch auf das Reichs- und Bundesgesetzblatt sowie die
wesentlichen Gesetzbücher zurückgreifen. 33 So lässt sich die rechtliche Ent-
wicklung des 19.-20. Jahrhunderts für den Bereich des Deutschen Reiches (aber
ebenso für Österreich und die Schweiz 34 ) in Vielem nachzeichnen. Auch für
einzelne Länder wie Preußen und Bayern und frühere Epochen liegen digitalisierte
Rechtstexte vor. 35 Zugänglich sind überdies wichtige parlamentarische Quellen wie
die Protokolle des Deutschen Reichstags von 1867-1942 und die Protokolle des
Deutschen Bundestages; 36 für die Länderparlamente gibt es — zumeist für die
jüngere Zeit — ebenfalls zahlreiche Digitalisate oder Transkripte. 37 Hinzu kommen
Dokumente der Exekutive (etwa in Gestalt der Akten der Reichskanzlei in der
33 Vgl. http://www.documentarchiv.de/ (19-21. Jahrhundert); http://www.verfassungen.de/; die
zentralen Verfassungs- und Rechtstexte sind auch zu finden unter: http://www.dhm.de/-
lemo/home.html; http://www.bpb.de/wissen/VGB5GU,0,0,Gesetze.html oder http://de.wiki-
source.org/wiki/Hauptseite zu finden. Für das Reichsgesetzblatt vgl. http://alex.onb.ac.at/ge-
setze_drab_fs.htm, für das Bundesgesetzblatt http://www.bgbl.de/index.php. — Das deutsche
Strafgesetzbuch findet sich z.B. unter http://de.wikisource.org/wiki/Strafgesetzbuch_P/oC3%-
BCr_das_Deutsche_Reich_(1871), die neueste Fassung unter http://www.gesetze-im-internet.de/-
bundesrecht/stgb/gesamt.pdf, das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 mit seinen Änderungen unter
http://lexetius.com/BGB/lnhalt, die jüngste Fassung unter http://www.gesetze-im-internet.de/-
bundesrecht/bgb/ gesamt.pdf.
34 Vgl. für Osterreich v.a. http://alex.onb.ac.at/alex.htm (Gesetzesblätter bis 1945) und
http://www.ris.bka.gv.at/default.aspx (nach 1945); für die Schweiz http://www.amtsdruck-
schriften.bar.admin.ch/ showHome.do (Bundesblatt, Diplomatische Dokumente, Bundesrats-
protokolle); http://db.dodis.ch/dodis/dodis?_l=de (Diplomatische Dokumente der Schweiz); http:-
/ /www.ssrq-sds-fds.ch/online/ (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen).
35 Vgl. als herausragende Beispiele die Interneteditionen zum Sachsenspiegel und zum Westfälischen
Frieden; http://www.sachsenspiegel-online.de/cms/ und http://www.pax-westphalica.de/ipmipo/-
index.html. Für den landeskundlichen DaF-Unterricht sind derartige Texte aber natürlich schon
sprachlich nicht geeignet.
36 Vgl. http://www.reichstagsprotokolle.de/index.html sowie http://dip.bundestag.de/
(Bundestagsprotokolle, derzeit ab 1976). — Einführende Texte zur Parlamentarismusgeschichte mit
begleitenden Quellentexten und Bildern: http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/-
geschichte/parlamentarismus/index.jsp. Dort werden auch Videos aus der Volkskammer der DDR
zur Verfügung gestellt: http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/parlamenta-
rismus/10_volkskammer/ mediathek/index.jsp.
37 Vgl. nur die Einstiegsseite http://www.parlamentsspiegel.de/ps/inhalt/links-parlamentsdokumen-
tation.jsp; historisch weiter zurückreichend: http://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/land-
tag-digital.
Copyrighted material
26
Thomas Roth
Weimarer Republik oder der Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 38 ) sowie
wichtige bilaterale oder internationale Verträge. 39
— Für eine inhaltlich und visuell verdichtete, sozial- oder kulturgeschichtliche
Deutung deutscher Politik sind jedoch andere Quellen und Ausdrucksformen
erforderlich: Druckschriften, Parteiprogramme, Flugblätter, Plakate, Karikaturen. 40
Neben wenigen Quellen zu Reformation, Bauernkrieg und den konfessionellen
Konflikten der Frühen Neuzeit 41 und digitalisierten Sammlungen zur Revolution
von 1848/49 42 liegt vor allem für das 20. Jahrhundert wichtiges Material vor.
Natürlich liefert das Netz keine lückenlose Dokumentation. Über verschiedene
Plattformen — von der Friedrich-Ebert- und Konrad-Adenauer-Stiftung über das
Deutsche Historische Museum und das Bundesarchiv bis zur Bundeszentrale für
politische Bildung — lässt sich jedoch eine aufschlussreiche Reihe von politischen
Parolen, Statements, Wahlplakaten und Bildpostkarten erstellen. 43 Die im Netz
38 Vgl. http://\\nÄrw.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/index.html (Akten der
Reichskanzlei) sowie http://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0000/index.html (Kabinetts-
protokolle, derzeit bis in die 1960er Jahre reichend) und die Darstellung von Jörg Filthaut und Uta
Rössel in Jahrbuch 2007: 75 ff.
39 Vgl. die Angebote der Ministerien, etwa die Darstellungen und Quellen unter http:/ /www.auswaer-
tiges-amt.de/sid_14106E50B2410825DB57BB7FA3706C9D/DE/AAmt/PolitischesArchiv/Ein-
blickeindasArchiv_node.html sowie http:/ /www.staatsvertraege.de/.
40 Die im WWW zur Verfügung gestellten historischen Konversationslexika und Wörterbücher
(Zedier, Meyer's, Brockhaus etc.) können zwar wichtige Einblicke in die Entwicklung der politischen
Semantik bieten, eignen sich i.d.R. aber auch kaum für die Verwendung im Fremdsprachenunterricht.
Vgl. nur http://www.retrobibliothek.de; http://www.zeno.Org/Zeno/-/Lexika oder http://www.-
zedler-lexikon.de / .
41 Vgl. den Überblick unter http://www.historicum.net/themen/bauernkrieg/links/; http://www.-
historicum.net/themen/ reformation/ quellen/ ; http:/ / digbib.bibliothek.uni-augsburg.de/ dda/ flug-
schriften_0001.html; http://www.onb.ac.at/onbarchiv/flu/l848/index.htm sowie die Portale für
deutschsprachige Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts, die allerdings nur zu einem kleineren Teil
digitalisiert sind, http:/ /www.bsb-muenchen.de/1681.0.html (VD 16) und http:/ /www.vdl7.de/.
42 Vgl. http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/1848/1848.htm; http://www.zlb.de/digitalesammlungen/-
f4index.php?collection=2&layer=2; http://www.onb.ac.at/onbarchiv/flu/1848/index.htm und die
ältere Internetpräsentation http://www.zlb.de/proiekte/1848/index.html. — Allein die Schrift lässt
eine Verwendung solch älterer Flugschriften im DaF-Unterricht schwierig erscheinen.
43 Vgl. www.dhm.de/sammlungen/plakate/bestand.html (Beispiele aus der Plakatsammlung des
Deutschen Historischen Museums); http://www.bild.bundesarchiv.de/collections/2265753/_13115-
98214/? (Plakatsammlung des Bundesarchivs); http://plakatarchivaustria.onb.ac.at/; http://www.-
museum-folkwang.de/de/sammlung/deutsches-plakat-museum.html (stellt wenige „Highlights" vor);
http:/ /www.bildpostkarten. uni-osnabrueck.de/index.php. — Interessante (wenngleich hinsichtlich der
Abbildungsqualität nicht immer befriedigende) thematische Sammlungen finden sich beispielsweise
unter: http:/ / digitalgallety.nypl.org/ nypldigital/ explore/ dgexplore.cfm?topic=history&co l_id=21 1
(„World War I Photograph Albums and Postcards"); http://www.wwl-propaganda-cards.com
(Erster Weltkrieg); http://content.lib.washington.edu/postersweb/ („War Posters Collection", Erster
und Zweiter Weltkrieg); http://www.calvin.edu/academic/cas/gpa/ („German Propaganda
Archive", zu NS-Regime und DDR); http://ddr-plakate.de/; http://www.dhm.de/aus-
stellungen/kkv/ („Kunst! Kommerz! Visionen! Deutsche Plakate 1888-1933");
http:/ /www.dhm.de/ausstellungen/grundrechte/ („Die Grundrechte im Spiegel des Plakats 1919 bis
1999"); http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/00659/index.html.de
(„Öffentlich angeschlagen — Politische Plakate"); http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/in-
halt/downloads/weimar_plakat.htm („Politische Plakate der Weimarer Republik");
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
27
greifbaren Plakatsammlungen gewähren zudem Einblick in andere Felder - etwa
der Wirtschafts-, Konsum-, 44 Kultur- oder Mediengeschichte.
— Auch Zeitungen und Zeitschriften sind in den letzten Jahren verstärkt
digitalisiert oder über Transkripte im Netz zugänglich gemacht worden. Darunter 45
finden sich satirische Blätter des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie der Kladde-
radatsch oder der Simplicissimus, Karl Kraus' Fackel, Ah Publikationsorgane
sozialdemokratischer und sozialistischer Gruppierungen sowie die Exilpresse der
NS-Zeit 47 In landeskundlicher Hinsicht noch interessanter sind die Angebote der
bundesrepublikanischen Leitmedien „Die Zeit" 48 und „Spiegel" 49 . Beide Zeitungen
haben seit einiger Zeit ein gut recherchierbares Webarchiv, das ohne wesentliche
Einschränkungen benutzbar ist und bis in die 1940er Jahre zurückreicht. 50
http://wwwl.bpb.de/methodik/31P06X,0,0,Wahlplakate_im_Spiegel_der_Zeit.html;
http://w\v\v.hdg.de/karikatur/view/karikaturen.html („50 Jahre deutsche Frage in Karikaturen");
http://www.dhm.de/ausstellungen/kalter_krieg/aus.htm („Deutsch-Deutsche Feindbilder in der
politischen Propaganda 1945 bis 1963"); http://ww.hdg.de/film/classl25_idl000564.html („50
Jahre deutsche Geschichte in Kinoplakaten"); http://www.hdbg.de/karikatur/de/a_home/a_fr.htm
(„Bayern & Preußen. Eine historische Beziehung in Karikaturen"); http://www.kas.de/-
wf/de/71.5707/ (Plakat- und Filmdatenbank des Archivs für Christlich-Demokratische Politik) bzw.
http://www.kas.de/wf/de/71.9048/ (Angebot der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Geschichte der
CDU); http:/ /www.fes.de/ archiv/ adsd_neu/inhalt/ Sammlung/ audiovisuell/plakatsammlung.htm
(Plakatsammlung der Friedrich-Ebert-Stiftung). Historische Wahlergebnisse sind z.B. unter
http:/ /www.wahlen-in-deutschland.de/ zu finden.
44 Vgl. zur Konsum- und Produktgeschichte auch http://www2.wu-wien.ac.at/werbung/ (Reklame-
markensammlung); http://www.bibliothek.uni-regensburg.de/mmz/hwa.htm (Historisches Werbe-
funkarchiv mit wenigen Hörbeispielen); http://www.alltagskultur-ddr.de/pages/sam/sam.html. —
Umfassendere Quellenpräsentationen aus dem Bereich der Wirtschaftsgeschichte liegen bisher kaum
vor; einzelne Materialien sind jedoch unter Umständen über die Websites von Industrie-, Technik-
und Agrarmuseen oder Unternehmensarchiven zu erhalten.
45 Zur Digitalisierung von historischen Zeitungen durch Bibliotheken vgl. z.B. die Überblicke bei
http:// zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/ ; http:/ / digipress.digitale-sammlungen.de/de/ fontSizel /-
papers-overview/static.html; für Österreich: http://anno.onb.ac.at/.
46 Vgl. http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/kladderadatsch.html; http://www.simplicissi-
mus.info/ ; http:/ / corpusl.aac.ac.at/fackel/ (erfordert Registrierung) bzw. http:/ / de.wikisource.org/ -
wiki/Die_Fackel (Auszüge); http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/ulkhd.html (Ulk — Illu-
striertes Wochenblatt für Humor und Satire). Zu digitalisierten literarischen Zeitschriften des 18. und
19. Jahrhunderts vgl. http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung/; eine (allerdings nicht
vollständige) Übersicht über digitalisierte Zeitschriften unter http://de.wikisource.org/-
wiki / Zeitschriften.
47 Vgl. zu den verschiedenen Digitalisierungsprojekten der Friedrich-Ebert-Stiftung http://library.-
fes.de/inhalt/digital/zeitschriften.htm (u.a. Die Arbeit, Die Naturfreunde, Die neue Zeit, Sozia-
listische Monatshefte); http:/ /library. fes.de/inhalt/digital/pressedienst.htm (Sozialdemokratischer
Pressedienst); für Österreich http://www.arbeiter-zeitung.at/ (erfordert Registrierung). — Digitalisate
zur NS-Exilpresse unter http:/ / deposit.ddb.de/ online/ exil/ exil.htm.
48 Vgl. http://www.zeit.de/archiv/index.
49 Vgl. http://www.wissen.spiegel.de bzw. http://www.spiegel.de/spiegel/print/.
50 Dies ist umso bemerkenswerter, als andere Zeitungsarchive lückenhaft sind, nur aktuellere Beiträge
erfassen bzw. nur gegen Bezahlung zu nutzen sind (so auch bei der Frankfurter Rundschau, der
Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung). Derzeit in Teilen öffentlich zugänglich:
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2()ll /index. html (Berliner Zei-
tung, ab 1994); http://www.freitag.de/archiv (Freitag, ab 2005); http://www.jungewelt.de/suche/
(junge weit, ab 1997); http://www.neues-deutschland.de/suche/ (Neues Deutschland, ab 2001);
Copyrighted malerial
28
Thomas Roth
Wichtige historische Schlaglichter liefern außerdem themenbezogene Samm-
lungen wie das Projekt „Deutsche Geschichte in der Berliner Presse" (1 847-1 990) 51
oder das „Medienarchiv68" 52 des Springer- Verlages.
— Was für viele Zeitungen gilt, gilt auch für die fotografische Überlieferung:
zahlreiche visuelle Quellen sind zwar prinzipiell übers Internet verfügbar, aus kom-
merziellen und urheberrechtlichen Gründen aber allenfalls eingeschränkt recher-
chier- und nutzbar. Das gilt besonders für prominente private Bildagenturen. 53
Zwar gewährend staatliche Archive und Bibliotheken per Internet Zugang zu um-
fassenden digitalen Bilddatenbanken wie etwa dem „Bildarchiv preußischer
Kulturbesitz", dem Bildarchiv des Bundesarchivs und des Deutschen Historischen
Museums oder dem „Bildarchiv Austria". 54 Zudem existieren öffentliche Daten-
banken zu Spezialthemen (Wiederaufbau, Erziehungs-, Kolonial-, Frauen-, Sozial-
geschichte, linksalternative Bewegungen) 55 und digitale Bildarchive mit Schwer-
punkt Bildende Kunst, Architektur- und Kulturgeschichte wie die „Deutsche Foto-
thek" und der „Marburger Bildindex"; 56 auch englischsprachige Archive und
http://www.taz. de/digitaz/.archiv/suche.demo,l/suche?demo— 1 (Die Tageszeitung, ab 1986);
http:/ / epaper.apps.welt.de/archiv/ (Die Welt, ab 2001).
51 Vgl. http://www.zlb.de/proiekte/millennium/.
52 Vgl. http:/ / www.medienarchiv68.de/.
53 So auch für die für historische Themen eigentlich ertragreichen Agenturen dpa/Picture-Alliance
(http://www.picture-alliance.com/), akg-images (http://www.akg-images.de/) oder http://www.-
frontalvision.com/historische_ddr_photos_g64.html.
34 Vgl. http://bpkgate.picturemaxx.com/webgate_cms/; http://www.bild.bundesarchiv.de/; http:-
/ /www.dhm.de/sammlungen/bildarchiv/ bzw. http:/ /www. dhm.de/datenbank/bildarchiv. html;
http://www.bildarchivaustria.at/; http://ba.e-pics.ethz.ch. — Vgl. für die landesgeschichtliche
Überlieferung z.B. http://www.datenmatrix.de/projekte/hdbg/bildarchiv/06_bildarchiv_ueber-
sicht.php (Bildarchiv des Hauses der Bayerischen Geschichte); http://www.bsb-muenchen.de-
/Bilder.591.0.html (Bildarchiv der Bayerischen Staatsbibliothek); http://www.lwl.org/marsLW~L-
/instance/ko.xhtml?oid=42611 (Bildarchiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe); http:-
/ /www.lmz-bw.de/medien/bilddokumentation.html (Fotoarchiv des Landesmedienzentrums Baden-
Württemberg). - Die Datenbanken sind z.T./perspektivisch auch über die Plattform Europeana
erreichbar.
55 Vgl. http://www.datenmatrix.de/projekte/hdbg/bildarchiv/06_bildarchiv_allgemein.php (Hinweis
auf Sammlung „Bayerisches Pressebild" zum Wiederaufbau im Bildarchiv des Hauses der
Bayerischen Geschichte); http://www.bbf.dipf.de/VirtuellesBildarchiv/ („Pictura Paedagogica
Online"); http://www.ub.bildarchiv-dkg.uni-frankfurt.de/Bildprojekt/Bildsammlung/Bild-
sammlg.htm (Bildbestand der Frankfurter Kolonialgesellschaft); http://www.frauenmediaturm.de-
/recherche/bilddatenbank/ (im Aufbau); http://www.sozialarchiv.ch/archiv/recherche/datenbank-
bild-ton/ (Schweizerisches Sozialarchiv); http:/ /umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ welcome. html.
56 Vgl. http://www.deutschefotothek.de/# | home (auch erschlossen über die Europeana);
http://www.bildindex.de/# | home. — Auch Kunstmuseen unterhalten mitunter virtuelle
Bildergalerien oder Ausstellungen; vgl. nur http://www.dresdengallery.com/; http://www.met-
museum.org/ toah/ ; http:/ / www.pinakothek.de/ pinakothek-der-moderne/ Sammlungen/ meister-
werke sowie Anm. 12. — Vereinzelt sind auch interessante kunsthistorische Ausstellungsprojekte wie
„Die Farbe der Tränen. Der Erste Weltkrieg aus Sicht der Maler" (http://www.memorial-caen.fr-
/10EVENT/EXPO1418/d/index2.html) im WWW dokumentiert.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
29
Geschichtsportale können wichtige Funde liefern. 57 Eine uneingeschränkte
Nutzung der Bildquellen ist jedoch auch in diesen Fällen meist nicht möglich. 58
Freilich sind etliche, besonders die emblematischen Bilder deutscher Ge-
schichte über Internetseiten von Museen, Bildungseinrichtungen oder Rundfunk-
anstalten oder „gemeinfreie" Quellensammlungen wie bei Wikipedia und „zeno"
greifbar. Schwieriger ist die Suche nach digitalen oder digitalisierten Karten zur
deutschen Geschichte, bei der man es mit verstreuten Angeboten von Landes-
archiven, historischen Instituten oder landesgeschichtlichen Portalen zu tun hat. 59
— Während Fotos noch relativ gut recherchierbar sind und „einschlägige"
historische Bilder an zahlreichen Stellen innerhalb „des Netzes" reproduziert
werden, sieht dies bei historischen Audio- und Videoquellen etwas anders aus.
Nicht nur die Archive von Medienunternehmen und Sendeanstalten bleiben
gegenüber der Internet-Öffentlichkeit abgeschirmt, auch zentrale medienhisto-
rische Einrichtungen wie das Deutsche Rundfunkarchiv, das Deutsche Film-
museum, das Filmarchiv im Bundesarchiv oder die Deutsche Kinemathek sind
hinsichtlich audiovisueller Webpräsentationen aus urheberrechtlichen Gründen
und wirtschaftlichen Motiven zurückhaltend. 60 Wer beispielsweise im Netz nach
57 Vgl. beispielsweise die Bildarchive des US Holocaust Memorial Museum (http://www.ushmm.org-
/research/collections/photo/) oder von Yad Vashem (http://collections.yadvashem.org/photos-
archive/en-us/index-container.html) zum Thema Holocaust oder die Digitalisate der New York
Public Library (http://digitalgallery.nypl.org/ nypldigital/index.cfm).
58 Während private Bildarchive und -agenturen oft bereits den Zugang zu ihren Beständen
beschränken, stellen viele staatliche Archive Voransichten der digitalisierten Bilder ins Netz,
allerdings meist in beschränkter Auflösung oder mit Wasserzeichen versehen. Die Nutzung der
hochauflösenden „Originale" ist in der Regel erst auf Antrag und nach Erwerb von Nutzungsrechten
möglich.
59 Vgl. den Überblick unter http://www.clio-online.de/site/lang de/lll/Default.aspx. Derzeit
noch am brauchbarsten unter den reinen Kartenangeboten erscheinen: http://www.ieg-maps.uni-
mainz.de/ (digitale Grundkarten); http:/ /hgisg.geoinform. m-mainz.de/mapbender22/i3mainz/site-
map/Uebersicht-thematischeKarten.php (dynamisch erzeugte thematische Karten, keine
„Faksimiles"); http://www.davidrumsey.com/view/articles/view (mit Faksimiles historischer
Deutschlandkarten); http://www.lib.utexas.edu/maps/germany.html und http://www.rootsweb.an-
cestry.com/~wggerman/map/index.htm (allerdings mit englischsprachiger Beschriftung).
60 Vgl. http://www.dra.de/; http://www.deutschesfilmmuseum.de; http://www.bundesarchiv.de-
/bundesarchive/organisation/ abteilung_fa/index.html.de; http:/ /www.deutsche-kinemathek.de/.
Die ARD bietet unter http://www.swr.de/swr2/archivradio/ zwar wechselnde Streams aus dem
Archiv der deutschen Rundfunkanstalten, aber keinen dauerhaften Fundus von Audioquellen. Der
Sender Phoenix präsentiert Programmhöhepunkte der letzten zehn Jahre unter http:/ /bibliothek.-
phoenix.de/; vom NDR-Politmagazin Panorama sind immerhin die Sendungen der letzten 50 Jahre
zugänglich (http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/index.html). — Ähnlich wie bei den bundes-
deutschen Medien verhält es sich beim Filmarchiv Austria (http://filmarchiv.at/), dem öster-
reichischen Rundfunk (http://orf.at/) oder dem Schweizer Filmarchiv (http://www.cinema-
theque.ch/d.html). Für die österreichische Geschichte liegen allerdings unter http://www.-
mediathek.at/ akustische Quellen sowie als „Akustische Chronik" eine multimediale Web-Äusstellung
vor; vgl. außerdem http://www.austria-lexikon.at/af/Wissenssammlungen/AEIOU_Video_Album.
Das Schweizer Fernsehen (http://www.sf.tv/archiv/) bietet einige kürzere Beiträge aus dem
Fernsehen der 1950er bis 1990er Jahre an, allerdings i.d.R. in Schwyzerdütsch. Deutschsprachige
Auszüge aus Schweizer Rundfunksendungen finden sich auch unter http:/ /www.ideesuisse.ch/.
Copyrighted malerial
30
Thomas Roth
NS-Propagandafilmen, den deutschen Wochenschauen 61 oder filmhistorischen
Klassikern der Weimarer Republik sucht, wird sie oft nur in geringer Auflösung,
über Screenshots oder kurze Zitate greifen können — lässt man mal das bisweilen
in einer rechtlichen Grauzone operierende „Sammelalbum" YouTube (vgl. Erpel
2010: 158 bzw. Schultz 2008: 87) oder zweifelhafte, etwa von Rechtsextremen
betriebene Seiten außen vor. Ausführlicher wird historisches Film- und Funk-
material nur in wenigen Pilotprojekten zugänglich gemacht, etwa Politikerreden aus
der Weimarer Republik oder Marshall-Plan-Filme der Alliierten durch das
Deutsche Historische Museum 62 , Propagandasendungen des DDR-Rundfunks
durch das Deutsche Rundfunkarchiv 63 oder Radiomaterial zum Kalten Krieg. 64
Wer historische Filmausschnitte oder Radiozitate für die landeskundliche oder
geschichtsdidaktische Arbeit benötigt, wird somit derzeit vor allem in Internet-
ausstellungen oder bei geschichtsbezogenen Websites von Bildungseinrichtungen
und Rund funkan stalten fündig. 65 Dort trifft man allerdings häufig auf Kurzfilme
oder Videoclips, die verschiedene Quellen (Fotos, Interviews, Filmaufnahmen)
61 Vgl. http://www.wochenschau-archiv.de/ (für die Zeit bis 1945; registrierte Nutzer können alle
digital bereit gestellten Wochenschauen in reduzierter Auflösung kostenlos anschauen; Fassungen in
höherer Auflösung erfordern Bezahlung) und http://www.deutsche-wochenschau.de/ (für die Zeit
nach 1945; auf der Webseite können wenige ausgewählte Streams angesehen werden). — Viele der auf
YouTube ursprünglich zu findenden Wochenschauen sind inzwischen gelöscht worden, nachdem das
Bundesarchiv das Urheberrecht geltend gemacht hatte; ein Teil dieser Filme (etwa die der UFA) ist
jedoch noch abzurufen. Auch im amerikanischen „Internet Archive" http:/ /www.archive.org/ kann
man einige Wochenschauen ansehen, die dort als „Open Source" klassifiziert sind. Die Austria-
Wochenschauen sind recherchierbar über http://www.europeanfilmgateway.eu/, wo man Links zu
Streams erhält.
62 Vgl. http://www.dhm.de/sammlungen/zendok/weimar/ sowie http://www.dhm.de/filmarchiv-
/virtuelles-filmarchiv/die-filme/ (nur wenige in deutscher Sprache).
63 Vgl. http://1961.dra.de/ (Mauerbau aus Sicht von DDR-Hörfunk und -Fernsehen); http:-
// 1989.dra.de/ (Ausschnitte aus dem DDR-Fernsehen zur „Wende" 1989/90). Vgl. auch die
Projekte des Deutschen Rundfunkarchivs mit Filmen aus der Volkskammer (http://www.-
dra.de/dra/kooperationspartner/deutscher-bundestag.html) und zu den Sendungen des „Schwarzen
Kanals" (http:/ /sk.dra.de/, allerdings ohne Videos).
64 Vgl. http://www.kalter-krieg-im-radio.de/. Vgl. auch die Filmclips in der Internetausstellung des
Militärgeschichtlichen Forschungsamtes zur Geschichte der Bundeswehr unter http://50jahre-
bw.bundeswehr.de/mgfa/filme.htm oder einzelne Audio-/Rundfunkquellen unter http:/ /www.-
mediaculture-online.de/Tonarchiv. 804.0.html.
65 Vgl. die Hinweise in Anm. 30, 71 und Abschnitt 5. — Wer nicht einzelne Quellen, sondern
allgemeines Informationsmaterial, Skripte oder Podcasts zu gelaufenen Sendungen sucht, wird u.a.
fündig unter: http://www.ard.de/wissen/ (Tag „Geschichte"); http://zeitgeschichte.zdf.de;
http:/ /www.wissen.sf.tv/Dossiers/Historisch; http://www.spiegel.de/ sptv/magazin/ ;
http:/ /www.planet-schule.de/ sf/ filme-online.php; http:/ /www.br-online.de/bildung/ databrd/in-
dex.htm bzw. http://www.br-online.de/br-alpha/schulfernsehen/index.xml; http://www.dradio.de-
/dlf/sendungen/ reihen/ bzw. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/reihen/ (z.T. Audio-
podcasts); http://www.kalenderblatt.de/ (Audiopodcasts, Deutsche Welle); http://www.hr-
online.de/website/ Specials /wissen/index.jsp bzw. http:/ / www.hr-online.de/website/radio/hr2-
/index.jsp?rubrik=28184 (Audiopodcasts); http://www.hr-online.de/website/radio/hr2/in-
dex.jsp?rubrik=2904 (Manuskripte); http:/ / www.wdr.de/wissen/wdr_wissen/themen/geschich-
te/index.php5; http:/ /www.br-online.de/bayern2/radiowissen/ radiowissen-basics-unterricht-ge-
schichte-ID 1285936371 339. xml; http://www.planet-wissen.de/politik_geschichte/index.jsp.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
31
kombinieren und erzählend kommentieren — was für den landeskundlichen Unter-
richt durchaus geeignet, in quellenkritischer Hinsicht aber nicht immer unproble-
matisch ist.
Damit sind auch medienspezifische Probleme der Quellenrecherche und Quellen-
nutzung angesprochen. Die rasche technische Entwicklung und Dynamik des
Netzes und die Tatsache, dass Internetangebote oft projektbezogen entwickelt und
nicht kontinuierlich „gepflegt" werden, hat zur Folge, dass man bei der Suche oft
noch auf ältere Angebote trifft, die die Potenziale des Netzes ungenutzt lassen, die
lange Buchstabenkolonnen anstelle sinnvoll strukturierten Hypertextes bieten, Bil-
der nur als beiläufige Zutat liefern, audiovisuelle Quellen vernachlässigen, der Ge-
staltung nach anachronistisch wirken und die Erwartungen der Nutzer ent-
täuschen.
Darüber hinaus werden immer wieder interessante, in den einschlägigen
Portalen verzeichnete Angebote aus dem Netz genommen oder so verschoben,
dass sie unauffindbar werden, 66 darunter aufschlussreiche virtuelle Ausstellungen
zur Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland, zu politisch Verfolgten
während des Nationalsozialismus in Hamburg — oder das Projekt „Zeitenwende"
des Südwestdeutschen Rundfunks, das mit dem Anspruch eines „Jahrhundert-
Memorials" historische Stimmen und Erinnerungen zum 20. Jahrhundert
gesammelt hat, um dann nach zehn Jahren stillschweigend „vom Netz genommen"
zu werden. 67 Der kürzlich abgeschlossene neue Staatsvertrag für den öffentlich-
rechtlichen Rundfunk, der die Internetangebote der Sender streng limitiert, hat
überdies zu zahlreichen Löschungen geführt. 68
Bei der Interpretation der gefundenen Quellen ist nicht nur auf Transkriptions-
fehler oder Bildbearbeitungen, sondern auf eine ausreichende Beschreibung zu
achten. 69 Während Archive, Museen, Bibliotheken die präsentierten Quellen meist
66 Diese mangelnde „Langzeitstabilität" des World Wide Web (s. Assmann 2004: 55 f.) schränkt auch
seine Leistungsfähigkeit als „kulturelles Gedächtnis" der Gesellschaft (Pscheida 2010: 289) ein.
67 Vgl. die entsprechenden Einträge und Verweise bei Clio online (etwa unter http://www.cüo-on-
line.de/site/lang de/74/default.aspx), zu letztem Beispiel http://www.swr.de/swr2/zeitenwende-
/index_d.html.
68 Der seit Juni 2009 in Kraft befindliche 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag hat die Internet-
aktivitäten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu Gunsten privater Anbieter stark einge-
schränkt und verfügt, dass ein Großteil der Angebote nur noch begrenzte Zeit zur Verfügung stehen
darf. Sendeinhalte und Begleitinformationen dürfen in der Regel nur sieben Tage im Web bereit
gestellt werden bzw. müssen ein aufwändiges Prüfverfahren durchlaufen. Zwar können zeit- und
kulturgeschichtliche Inhalte unbeschränkt und bildungsbezogene Inhalte für fünf Jahre im Netz
bleiben, dennoch haben die Rundfunkanstalten im Anschluss an den Vertrag zahlreiche
sendebegleitende Internetangebote gelöscht, darunter viele Seiten zu historischen Themen mit
eingebundenen Quellen. Dieses flächendeckende „Depublizieren" hat bei Historikern und
Medienexperten heftige Kritik hervorgerufen (vgl. nur http://www.faz.net/artikel/C31013/de-
publizieren-die-leere-hinter-dem-link-30291159.html).
69 Vgl. den Beitrag von Jürgen Nielsen-Sikora in diesem Band sowie Gruner 2009: 258; Näpel 2008:
94f; zu Notwendigkeit und Ansatzpunkten einer speziellen „Quellenkritik" für Internetseiten (als
Copyrighted malerial
32
Thomas Roth
mit genauen Informationen zu Urheber, Datum und Entstehungskontext ver-
sehen, ist dies bei privat betriebenen Seiten mitunter nicht der Fall. So werden Bil-
der von militärischen Konflikten oder nationalsozialistischer Verfolgung bisweilen
illustrativ oder zur Erzeugung von „Schauereffekten" eingesetzt; und auch gut
gemeinte Seiten thematisieren die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung mit
Fotos der Täterseite, ohne besonders darauf hinzuweisen, welche propagan-
distische Funktion diese hatten und wie weit sie den spezifischen Blick der
Verfolger präsentieren.
Nicht unproblematisch sind Videoclips, die - nach den Gewohnheiten des im
Fernsehen inzwischen üblichen „Histotainment" 70 — Impressionen zu historischen
Ereignissen oder Epochen in raschen Schnittfolgen aneinander reihen und mit
suggestivem Sounddesign versehen, auf effektvolle Inszenierung, pathetische
Überhöhung oder flotte Kommentierung setzen. Derartige Präsentationsformen 71
können für einen thematischen Einstieg, für das historische Assoziieren und die
Auseinandersetzung mit Geschichtsbildern und -darstellungen hilfreich sein, 72 aber
auch vorschnelle, vereinfachende Deutungen befördern und durch ihre
Komposition den Weg zur einzelnen Quelle und deren spezifischer Aussage eher
verstellen.
Auf der anderen Seite bedürfen nicht nur Bilder, sondern auch scheinbar
evidente Texte wie Gesetze einer politik-, kultur- oder gesellschaftsgeschichtlichen
Kontextualisierung, um sie adäquat zum Sprechen zu bringen. Gerade für die
geschichts- und fremdsprachendidaktische Arbeit erscheint es deshalb ratsam, auf
Angebote zurückzugreifen, die Quellen in historische Hintergrundinformationen
einbetten und gegebenenfalls auf fachwissenschaftliche Deutungsangebote und
Debatten verweisen. 73 Solche Angebote haben überdies den Vorteil, die Masse der
Zusatz zur klassischen Quellenkritik) vgl. die Hinweise bei Eder; Fuchs 2005: 153ff.; Enderle 2002;
Haber 2009: 194ff.; Marra 2005; Pfanzelter 2010.
70 Als Trendsetter in Deutschland wird hierfür meist die von Guido Knopp geleitete ZDF-
Geschichtsredaktion genannt, allerdings haben zu den neueren „Histotainment"-Formaten auch
andere Sender und unterschiedliche Produktionsfirmen beigetragen (Meyer 2009a: 276). Zur Kritik
der Fachwissenschaft an solchen Formen historischer Darstellung vgl. Bosch 2006; Fischer; Wirtz
2008; Handro 2009; Hein 2009a: 15f.; Kansteiner 2006: 109ff.; Keilbach 2 201(); Kolpatzik 2010;
Meyer 2009c: 177f.; Näpel 2003; Paul 2010; Popp et al. 2010.
71 Derartige historische Videoclips bieten meist die sendebegleitenden Websites der Rundfunk-
anstalten (vgl. Anm. 65). Angebote, die stark auf unterhaltende Aufbereitung, inszenatorische
Elemente oder rasche Szenen- und Themenwechsel setzen, finden sich z.B. unter: http://diedeut-
schen.zdf.de/ZDFde/inhalt/12/0,1872,7272428,00.html?dr=l (dazu auch Kolpatzik 2010); http:-
//terra-x.zdf.de/ZDFde/inhalt/10/0,1872,8235178,00.html?dr=l; http://history.zdf.de/ZDFde/in-
halt/26/0,1872,1020218,00.html?dr=l; http://www.dw-world.de/dw/0„12670,00.html; http://-
www.60xdeutschland.de/. Zurückhaltender in der Herangehensweise sind etwa die erläuternden
Filme, die auf der Plattform http:/ /www.deutschegeschichten.de/ abrufbar sind.
72 Vgl. auch die Anmerkungen im Beitrag von Uwe Koreik in diesem Band.
73 Besonders zugespitzt beschreibt Gerhard Paul (2010: 24) die Gefahren einer Missachtung und
Verfälschung historischer Zusammenhänge im Internet: „[Das Netz] offeriert [...] mit Wikipedia
Informationsangebote, die dem aktuellen Forschungsstand meilenweit hinterherhinken oder ihn
sogar konterkarieren oder wie bei Google und YouTube eine schier unübersehbare Anzahl von in der
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
33
Überlieferung bereits auf aussagekräftige, didaktisch brauchbare Quellen reduziert
zu haben. Diese Vorauswahl enthebt den Lehrenden jedoch nicht einer kritischen
Reflexion. 74 Obgleich viele der von Museen oder Bildungseinrichtungen gebotenen
Präsentationen auf Neutralität, Sachlichkeit oder die geschichtsdidaktisch immer
wieder geforderte Multiperspektivität achten, folgt die Darstellung doch nicht
selten bestimmten historischen Perspektiven, Erzählrichtungen und Topoi.
Landeskundliche Portale appellieren mitunter an ein modernisiertes Heimatgefühl,
Museen und Medienangebote zur deutschen Geschichte folgen der „Meister-
erzählung" von der „geglückten Demokratie" (vgl. Wolfrum 2006) oder
„wiedergefundenen" deutschen Nation (vgl. Kolpatzik 2010); Darstellungen, die
den Ersten Weltkrieg als europäische „Urkatastrophe" schildern, lassen die deut-
sche Kriegsschuld zurücktreten, und Websites, die jüdische Geschichte von der
Shoah aus begreifen, erzählen mitunter eine nur aufs Katastrophische zugespitzte
Verlustgeschichte. 75
5 Thematische Schwerpunkte und Defizite
Inzwischen wird man zu vielen Themen einer historisch fundierten Landeskunde —
wie sie insbesondere von Uwe Koreik entworfen worden ist (Koreik 1995; Koreik
2010) — zumindest punktuell Quellen und Materialien im Internet finden. Gleich-
wohl lassen sich thematische und zeitliche Schwerpunkte und Lücken feststellen.
1. Wer nach epochenübergreifenden Angeboten zur deutschen Geschichte
sucht, wird zunächst auf den Klassiker virtueller Ausstellungen verwiesen: das
bereits Ende der 1990er Jahre eingerichtete „LeMO" oder „Lebendige virtuelle
Museum Online", das 150 Jahre deutscher Geschichte abdeckt. Obgleich in der
Aufmachung selbst schon historisch wirkend, mit einer etwas unübersichtlichen
„Informationsarchitektur", stark politikgeschichtlichen Ausrichtung und didak-
tischen Defiziten behaftet, ist es doch ein zentrales Arbeitsmittel für die
Geschichtsvermittlung. Es bietet differenzierte zeitliche und thematische Zugriffe,
zahlreiche interne Vernetzungen, ein ausführliches Glossar, Zeitzeugenerin-
nerungen, Bildleisten und wichtige Dokumente, Audio- wie Video-Quellen, von
der Rede Wilhelms II. zum Kriegsbeginn 1914 bis zu Werbespots der 1950er
Regel entkontextualisierten, oftmals sogar nur in Ausschnitten wiedergegebenen Fotos und Filmen,
die im wesentlichen nur die Schaulust der User, aber kein Aufklärungsbedürfnis bedienen und deren
Herkunft, Kontext und Authentizität oft völlig unsicher sind." Vgl. auch Schmale 2010: 13f. sowie zu
einer grundsätzlichen Kritik an Wikipedia und dessen unreflektierter Verwendung Cornelißen 2008;
Grosch 2008: etwa 20ff.; Kümper 2010; Lorenz 2009a; Lorenz 2009b.
74 ... im Sinne einer - bei Koreik (1995: 142ff.) oder Thimme (1996: 97ff.) beispielhaft vorgeführten -
kritischen Lehrmittelanalyse.
75 Vgl. hierzu auch Brautmeier et al. 2010; Jarausch; Sabrow 2002; Nonn 2007sowie die Befunde der
Museumsforschung, auch wenn diese einen Trend zu vielschichtigen, reflexiven, erzählerisch und
ästhetisch offeneren Ausstellungen erkennt (vgl. Beier-de Haan 2005; Härtung 2006; Pieper 2010;
Thiemeyer 2010).
Copyrighted material
34
Thomas Roth
Jahre. 76 Zwei der Trägerorganisationen des LeMO, das Haus der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland und das Deutsche Historische Museum, bieten
darüber hinaus mit digitalen Ausstellungsarchiven Zugriff auf Darstellungen und
Materialien zu Themen wie NS-Propaganda, Kriegsende, europäische Kultur-
beziehungen, Kalter Krieg, deutsche Teilung oder DDR. 77
Die bereits erwähnte Bundeszentrale für politische Bildung stellt den
Nutzerinnen und Nutzern nicht nur etliche Themendossiers zur Verfügung,
sondern ist auch an verschiedenen historischen Webportalen beteiligt, so an dem
Projekt „Deutsche Geschichten", das die Zeit zwischen 1890 und 2005 durch
ausführliche Informationstexte sowie durch Audio- und Videodateien erschließt. 78
Zu nennen sind darüber hinaus Angebote wie „100(0) Schlüsseldokumente zur
deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert" 79 , Portale wie die „Zentrale für
Unterrichtsmedien" 80 oder archivpädagogische Module - zumal diese mitunter
frühere Phasen deutscher Geschichte (Spätmittelalter, Frühe Neuzeit, Absolu-
tismus und Aufklärung) in den Blick nehmen und anhand ausgewählter Quellen
thematische Längsschnitte 81 zu setzen versuchen. Auch der Blick über die Grenzen
der Bundesrepublik hinaus kann lohnen, einerseits wegen verschiedener Projekte
von österreichischer Seite, 82 zum anderen, weil auch angloamerikanische Websites
bisweilen einen bündigen, seriösen Zugriff auf deutsche Quellen bieten. 83
2. Die zentrale Rolle, welche die Auseinandersetzung mit dem National-
sozialismus in der deutschen Erinnerungskultur seit zwei Jahrzehnten spielt, hat
auch im Internet ein dichtes Geflecht von Informations- und Serviceangeboten
entstehen lassen. Im Zentrum stehen die Staats- und landeseigenen Gedenkstätten,
76 Vgl. http://www.dhm.de/lemo/home.html. Allerdings können einige ursprünglich präsentierte
Filmquellen — vermutlich aus urheberrechtlichen Gründen — nicht mehr abgerufen werden. Zur
Kritik an LeMO vgl. z.B. http://hsozkult.geschichte.hu-berkn.de/rezensionen/id=96&type-
=rezausstellungen; Näpel 2008: 103; Pöppinghege 2010.
77 Vgl. http://www.hdg.de/bonn/ausstellungen/virtuell/; http://www.hdg.de/bonn/ausstellungen-
/wanderausstellungen/ (einzelne Pressematerialien); http://www.hdg.de/leipzig/ausstellungen/ar-
chiv/ (dto.); http://sint.hdg.de/sint/html/suche.html (Sammlungsdatenbank); http://www.dhm.de-
/ausstellungen/ausst.html (Ausstellungsarchiv mit kurzen Einführungen und z.T. Rundgängen).
78 Vgl. http:/ /www.deutschegeschichten.de/.
79 Vgl. http://mdzx.bib-bvb.de/cocoon/delOOOdok/start.html (vornehmlich politikgeschichtlich,
kaum audiovisuelle Quellen, mit ausführlicheren Erläuterungen) sowie Altrichter/ Antipow 2009.
80 Vgl. http://www.zum.de/psm/indexl.php.
81 Vgl. die Hinweise in Anm. 32. Thematische Längsschnitte betreffen beispielsweise die Geschichte
der jüdischen Bevölkerung, der Jugend oder der Regime-/Systemwechsel in Deutschland.
82 Vgl. die multimedialen Projekte unter Anm. 60; älter und landeskundlich weniger geeignet:
http: / / www.uibk.ac.at/ Zeitgeschichte/ zis/library/ oesterreich-im-20.-jahrhundert/ dokumente.
83 Herauszuheben ist das differenzierte und nicht nur zeitlich breit angelegte, auch Quellen zur
Kultur-, Sozial- oder Wirtschaftsgeschichte integrierende Angebot „German History Docs" des
Deutschen Historischen Instituts in Washington (http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/Index.cfm?-
language=german; wird kontinuierlich ausgebaut). Andere Sites wie das Internet Modern History
Sourcebook (vgl. http://www.fordham.edu/halsall/mod/modsbook.html; ähnlich: http://www.-
csustan.edu/Histoty/Faculty/Weikart/gerhist.htm) sind für den DaF-Unterricht schon deswegen
nicht geeignet, weil sie die deutschen Quellen nur in englischer Ubersetzung präsentieren.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
35
Museen und Dokumentationsstellen, die man über besondere Portale erreichen
kann. 84
Unter der Leitidee einer „Erziehung nach und über Auschwitz" sind überdies
Informationsplattformen und didaktisch orientierte Angebote wie „Shoa.de",
„Nationalsozialismus.de", „Holocaust Referenz", „Erinnern. at" oder „Lernen aus
der Geschichte entstanden". 85 Hinzu kommen (teils verdiente, teils fragwürdige,
auf den Schauder des Nazismus bauende) private Erinnerungsprojekte und
Rechercheforen - und natürlich die einführenden Seiten der Rundfunkanstalten.
Über diese Angebote lassen sich einzelne Quellen, Unterrichtsmaterialien oder
weiterführende Internetpräsentationen zu Facetten der NS-Herrschaft aufspüren.
Neben den zentralen Dokumenten der NS-Herrschaft, Material zur NS-Propa-
ganda 86 und den einschlägigen Bildern von Nationalsozialisten, Gleichschaltung
und Terror finden sich im Netz auch verschiedene - geschichtsdidaktisch aller-
dings nur eingeschränkt brauchbare - Materialien zur Durchsetzung der NS-Herr-
schaft in einzelnen deutschen Gemeinden 87 , Milieus und Gruppen 88 , Biografien,
Erinnerungsberichte und Darstellungen zu NS-Alltag, politischer Repression und
Bombenkrieg 89 , lokal- und lebensgeschichtliche Quellen zu nationalsozialistischer
Erziehung und Jugend im „Dritten Reich", 90 Zwangsarbeit und NS-Kranken-
84 Vgl. die Hinweise in Anm. 28.
85 Vgl. http://www.shoa.de/; http://www.nationalsozialismus.de/; http://www.h-ref.de/ (allesamt
private Initiativen/ Angebote); http://lernen-aus-der-geschichte.de/ sowie http://www.fasena.de/
(Forschungs- und Arbeitsstelle „Erziehung nach /über Auschwitz").
86 Vgl. die Hinweise in Anm. 43 und 95.
87 Vgl. z.B. http://www.frankfurtl933-1945.de/; http://www.celle-im-nationalsozialismus.de/;
http:/ / www.lwg.uni-hannover.de/wiki/Hildesheim_im_Nationalsozialismus_-_Aspekte_der_Stadt-
geschichte sowie http://www.memoryloops.net (München; virtuelles Denkmal, das auf Quellentexte
zurückgreift).
88 Vgl. http://www.kirche-christen-juden.org/ausstellung/ausstellung.html; http://www.zwangsar-
beit-in-der-kirche.de/ns_kirche.php.
89 Vgl. http://www.eg.nsdok.de/default.asp („Erlebte Geschichte", Interviews mit Kölner Zeitzeu-
ginnen und Zeitzeugen mit unterschiedlichsten Lebensgeschichten und einem Schwerpunkt auf
Ausgrenzung und Verfolgung); http://www.lebensgeschichten.net/ (Biografiensammlung mit
ergänzenden Dokumenten, Schwerpunkt Rheinland); http://www.zeitzeugengeschichte.de/ (Video-
und Audioclips zu Interviews mit Zeitzeugen der NS-Zeit, Schülerprojekt); http://www.resist.ance-
archive.org/ („European Resistance Archive" mit z.T. deutschsprachigen Videointerviews); http:-
//www.dhm.de/lemo/forum/kollektives_gedaechtnis/index.html (Zeitzeugenberichte zur NS-Zeit);
http://www.georg-elser.de/; http://www.gdw-berlin.de/themen/bereiche-d.php (Angebot der
Gedenkstätte deutscher Widerstand); http://www.gegen-diktatur.de/ (Materialen zu Widerstand in
Deutschland vor und nach 1945); http:/ /www.doew.at/ausstellung/ (Internetpräsentation des Doku-
mentationsarchivs des österreichischen Widerstandes); http://www.widerstand.musin.de/ (zu
Widerstand in München); http://www.ausdemleben.at/ (zur nationalsozialistischen Verfolgung der
Homosexuellen in Wien); http://www.zeitzeugenforum.de/ (private Seite mit Erinnerungen an NS-
und „Kriegszeit").
90 Vgl. z.B. http:/ /www.museenkoeln.de/ausstellungen/nsd_0404_edelweiss/ (Internetausstellung zu
unangepasstem Jugendverhalten in Köln); http://www.dhm.de/lemo/html/wk2/alltagsleben/klv/
(zur „Kinderlandverschickung"); http:/ /www. dhm.de/lemo/html/nazi/organisationen/jugend/ ;
http:/ /www.dhm.de/lemo/html/nazi/innenpolitik/bdm/ ; http://www.bdmhistory.com/ (jeweils
einführende Materialien zu HJ/BDM); http://www.dhm.de/ausstellungen/bildberichterstatterin/
Copyrighted malerial
36
Thomas Roth
mord, 91 Judenverfolgung, Enteignung und Deportationen 92 sowie Ausstellungen
2ur Geschichte der Konzentrationslager 93 .
Nachdem der Holocaust längst ein transnationales Thema, globales Symbol
und universelle Metapher geworden ist (vgl. Assmann 2006: 255ff.; Eckel; Moisel
2008; Leggewie; Lang 2011; Levy; Sznaider 2001) und sich auch in Bezug auf den
Zweiten Weltkrieg zunehmend europäische Perspektiven entwickeln (vgl. Arnold;
Süß; Thießen 2009; Echternkamp; Martens 2007), lohnt auch der Blick auf die
Träger der nicht-deutschsprachigen, speziell angloamerikanischen Erinnerungs-
kultur. So hat Yad Vashem vor Kurzem sein Bildarchiv online gestellt; 94 und das
US Holocaust Memorial Museum präsentiert eine Fotosammlung und mehrere
Internetausstellungen, die unterschiedlichste Blickwinkel auf das NS-Regime
eröffnen: von Aufzeichnungen Anne Franks über Schlaglichter der NS-
Propaganda bis zu einem Fotoalbum der SS in Auschwitz. 95
(Fotos zur Erziehung von Frauen und Mädchen im NS-Regime); http://www.ub.uni-
heidelberg.de/helios/digi/nsfrauenwarte.html und http://www.calvin.edu/academic/cas/gpa/ fw.-
htm (zur Zeitschrift der NS-Frauenschaft).
91 Vgl. www.zwangsarbeit.eu bzw. http://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/ (Angebot des
Bundesarchivs und der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", mit Dokumenten,
Fotografien, Lebenszeugnissen); http://www.ausstellung-zwangsarbeit.org/de/242/; http://-
www.zwangsarbeit-archiv.de/ (Angebot der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", der
FU Berlin und des Deutschen Historischen Museums; mit Interviews in verschiedenen Sprachen;
Registrierung erforderlich); http://www.kontakte-kontakty.de/ deutsch/ ns-opfer/ freitagsbriefe/
(rückblickende Schilderungen früherer Zwangsarbeiter); http://www.historicum.net/the-
men/ zwangsarbeit-rhein-erft-rur/ ausstellung/ ; http: / / www.nrw-zwangsarbeit.de / ; http:/ / www.di-
gada.de/ zwangsarbeiter/ uebersichtzwangsarbeiter.htm sowie http: / / www.denkzeichen.de/ con-
tent/konzept/index.php?sid=c80d7bl823a809539e7el8419ac9blf7&flash=0 (zur NS-Tötungsanstalt
Pirna-Sonnenstein); http://www.lpb-bw.de/publikationen/euthana/euthana.htm und http://-
www.landesarchiv-bw.de/ stal/grafeneck/ (zur NS-Tötungsanstalt Grafeneck).
92 Vgl. http://www.blechner.com/german/index.html (zum Schicksal einer „Münchner Familie
während des Holocaust"); http://www.chotzen.de/ („Lebenswege einer jüdischen Familie von 1914
bis heute"); http://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/zis/turteltaub/ („Die Geschichte einer jüdischen
österreichischen Familie"); http:/ / www.forschungsgesellschaft.at/ emigration/index_d.htm
(„Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden"); http://www.ghwk.de/deut/ausstel-
lung2006.htm (Angebot der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz); http://www.dhm.de/aus-
stellungen/holocaust/ ausstellung.htm; http:/ /hannoverscher-bahnhof.hamburg.de/ ; http:/ /www.ar-
chiv.sachsen.de/6078.htm („Die Verfolgung Leipziger Juden 1938/39"); vgl. auch http://www.-
iff.ac.at/ inventarisiert/ inventar_de.html.
93 Initiative in dieser Hinsicht entwickelt derzeit vor allem die Gedenkstätte Buchenwald; vgl. http:-
/ / www.buchenwald.de/ fotoarchive/buchenwald/ ; http://www.buchenwald.de/ fotoausstellung/ ;
http://www.topfundsoehne.de. Für die Gedenkstätte Sachsenhausen vgl. http://www.stiftung-bg.-
de/gums/de/index.htm („Die Fälscherwerkstatt im KZ Sachsenhausen"); http://www.stiftung-bg.-
de/kz-oranienburg/ („Die politischen Häftlinge des KZ Oranienburg"). Vgl. auch http://videoar-
chiv-ravensbrueck.de/ und weitere Berichte von Überlebenden des Frauenkonzentrationslagers unter
http:/ / www.bpb.de.
94 Vgl. http:/ /collections. yadvashem.org/photosarchive/en-us/photos. html.
95 Vgl. http://www.ushmm.org/museum/exhibit/online/af/htmlsite/index.html; http://www.-
ushmm.org/ propaganda/ exhibit.html#/ gallery/ ; http:/ /www.ushmm.org/ museum/ exhibit/ online-
/ssalbum/; Weiteres unter http://www.ushmm.org/museum/exhibit/online/. Zu den von Yad
Vashem entwickelten Onlineausstellungen vgl. http://wwwl.yadvashem.org/y\Ven/exhibitions-
/index.asp. Vgl. auch den Onlineauftritt des Anne Frank Hauses (unter http://www.annefrank.org-
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
37
Mit der Historisierung der NS-Zeit und ihrer Einbettung in die längeren Linien
deutscher Geschichte ist zuletzt auch die Nachgeschichte der NS-Herrschaft, die
gescheiterte Entnazifizierung, vielfach blockierte oder selektive „Vergangen-
heitsbewältigung" sowie die verstärkte Aufarbeitung seit den 1960er Jahren zum
Thema gemacht worden (einführend Fischer; Lorenz 2007; Reichel 2 2007; Reichel;
Schmid; Steinbach 2009). Die NS-Geschichte wird demnach auch im Internet -
mit Quellen zu den Nürnberger Prozessen 96 oder der berühmten Weizsäcker-Rede
von 1985 97 - zur bundesdeutschen und internationalen Geschichte hin geöffnet.
Eine perspektivische Erweiterung erlauben zudem Materialen zur jüdischen
Geschichte. 98 Sie ermöglichen einmal, die nationalsozialistische Judenverfolgung in
die lange Geschichte des deutschen — und abendländischen — Antisemitismus
/de) sowie http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/section.cfm?section_id=13. - Die zahlreichen ame-
rikanischen Seiten zum Thema präsentieren oft Quellen, Texte jedoch meist nur in englischer Über-
setzung; umfangreichere Bildsammlungen finden sich etwa unter http://fcit.coedu.usf.edu/holo-
caust/resource/gallery/gallery.htm#l („A Teacher's Guide to the Holocaust").
96 Vgl. http://www.zeno.org/Geschichte/M/Der+N%C3%BCmberger+Proze%C3%9F (deutsch-
sprachige Fassung); http:// nuremberg.law.harvard.edu/ php/docs_swi.php?DI=l&text=overview
(englischsprachige Fassung mit Bildmaterial); http://www.ushmm.org/museum/exhibit/focus/war-
crimetrials/ (Bildmaterial); http://www.nuernberg.de/internet/museen/bildarchiv/prozesse.html
(dto.) bzw. http://www.memorium-nuernberg.de/. Die meisten Internetmaterialien zu NS-Prozessen
liegen derzeit in englischer Sprache vor (Gruner 2009); zu deutschen Prozessen einige Quellen unter
http://wwwl.jur.uva.nl/junsv/Lesen.htm (Auszüge aus Urteilen); http://einestages.spiegel.de-
/staüc/topicalbumbackground/1853/als_westdeutschland_aufwachte.html (Fotos); http:/ /www.-
landesarchiv-bw.de/web/43377 (Tonbandaufnahme einer Urteilsverkündigung). Eine multimediale
Präsentation des Hessischen Rundfunks zum Frankfurter Auschwitz-Prozess ist unter
http://www.hr-online.de/website/static/spezial/auschwitzprozess/index.html zu finden. — Einige
Quellen zum Thema „Entnazifizierung" bietet http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_docs.-
cfm?section_id=14, einige Zeitzeugenberichte zur Nachkriegszeit http://www.dhm.de/lemo/forum-
/kollektives_gedaechtnis/index.html.
97 Vgl. http:/ / www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Re-
den/ 1985/05/1 9850508_Rede.html und http: / / www.mediaculture-online.de / fileadmin/ mp3s/ weiz-
saecker_geschichte.mp3. Vgl. auch http://www.20-juli-44.de/reden.php. — Zur Erinnerung an den
Nationalsozialismus vgl. auch http://www.bpb. de/themen/DU8MZJ,0,0,Geschichte_und_Er-
innerung.html und http://www.bpb. de/themen/S82KDR,0,0,Bildergalerie. html.
98 Vgl. die Hinweise in Anm. 92 sowie die Präsentationen unter http://www.jmberlin.de/ (Jüdisches
Museum Berlin); http:/ /www.juedischesmuseum.de/ (Frankfurt/Main) und die archivpädagogischen
Angebote unter http://www.digam.net/PstF247 (Deutsch-jüdische Geschichte vom Mittelalter bis
zur Gegenwart); http://www.digada.de/juden/uebersichtjuden.htm (Jüdisches Leben in Südhessen).
Zur jüdischen Publizistik http://www.literatur-des-judentums.de (digitalisierte jiddische Drucke);
http://www.compactmemory.de/ (Jüdische Periodika des 19. und frühen 20. Jahrhunderts); http:-
/ / sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/ (Judaica-Sammlung); http:/ / deposit.d-nb.de/online-
/jued/jued.htm (Jüdische Zeitungen aus NS-Deutschland und davor). Vgl. auch http://www.syna-
gogen.info/ (Synagogen Internetarchiv mit virtuellen Darstellungen zerstörter Synagogen; dazu Hein
2009a: 155ff); http://spurensuche.steinheim-institut.org/ (Informationsangebot zu jüdischen
Friedhöfen); http://www.vor-dem-holocaust.de/ (Jüdisches Alltagsleben in Hessen in Fotografien);
http:/ /www.ifs.tu-darmstadt.de/fileadmin/ueberlebende-zeilsheim/index.html (Jüdische Überleben-
de in Frankfurt-Zeilsheim); http://www.juedisches-leben.net (Internetportal „Jüdisches Leben in
Europa jenseits der Metropolen"); http:/ /www.deutschefotothek.de/ (mit Themenfilter „Judentum"-
/„jüdisch"); zur epochenübergreifenden Geschichte des Antisemitismus auch http://www.anti-
semitismus-anhalt.de/zeitreisen.html (Spurensuche zum Antisemitismus in Anhalt); http://www.-
buehler-hd.de/ gnet/ neuzeit/ antisem/hd/ doku.htm („Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten").
Copyrighted material
38
Thomas Roth
einzuordnen; andererseits helfen sie, jüdische Geschichte nicht auf eine Opfer-
geschichte zu verengen und jüdische Kultur als einen Teil deutscher Geschichte zu
verstehen.
3. Wenn auch der Nationalsozialismus eine prägende Rolle in der Erinnerungs-
kultur und im „virtuellen historischen Raum" spielt, hat sich in den letzten Jahren
doch ein starkes Gegengewicht gebildet mit der Geschichte der DDR, des deutsch-
deutschen Systemkonflikts und der Wiedervereinigung (vgl. Behrens; Ciupke;
Reichling 2009; Sabrow 2009; Sabrow 2010). Seit Mitte der 1990er Jahre haben
politische Stiftungen, Archive und Sendeanstalten hierzu empfehlenswerte
Internetplattformen geschaffen, so zum 17. Juni 1953, zum Mauerbau 1961, zur
„Chronik der Mauer" oder „Chronik der Wende". 99 Sie verknüpfen einführende
Texte zu Diktatur, Opposition und Systemwandel mit Fotos, Dokumenten, Um-
fragen, Erinnerungsberichten, O-Tönen, Rundfunk- und Fernsehclips und bieten
so zahlreiche Ansatzpunkte für die historisch-politische Landeskunde. Ergänzt
werden solche vielschichtigen Angebote durch kleinere oder thematisch enger
abgesteckte Projekte, die alternative Bilder und Deutungen zu den zentralen Ereig-
nissen, Figuren und Szenen der DDR-Geschichte liefern, etwa zu Erziehung und
Jugendopposition in der DDR, 100 zur Grenz- und Fluchtgeschichte oder zu Foto-
grafien aus dem Alltag der Diktatur. 101
99 Vgl. http://www.17juni53.de/home/index.html; http://1961.dra.de/ („Eine Woche im August...
Der Mauerbau 1961 im Hörfunk und Fernsehen der DDR"); http://www.chronik-der-mauer.de/;
http://1989.dra.de/ („Wende-Zeiten. Bilder, Töne, Kommentare aus dem DDR-Fernsehen"); http:-
//www.chronikderwende.de/ sowie dazu Alavi 2008, die den Materialreichtum der Seite lobt,
allerdings auch auf kritische Punkte hinweist (eingeschränkte Übersichtlichkeit des Angebots,
analytische Herangehensweise, wissenschaftliche Sprache, notwendiges Vorwissen) und daraus die
Notwendigkeit einer weiteren Didaktisierung ableitet. Umfassende, vor allem auf Audio- und
Videodateien setzende Angebote finden sich auch unter http://www.mdr.de/damals/index.html
(„Damals im Osten. Mitteldeutschland - 1945 bis heute") und http://www.mdr.de/www3/eure-
geschichte/ (Schulprojekt zur DDR-Geschichte); weitere Nachrichten- und Zeitzeugenclips unter
http://unsere-geschichte.zdf.de/ZDFde/inhalt/19/0,1872,7112211,00.html (zur „Wiedervereini-
gung" 1989/90); Informationsangebote mit ergänzenden Quellen und Zeitzeugenberichten unter
http:/ /www.stiftung- aufarbeitung.de/50-jahrestag-der-berliner-mauer-l 651. html; http:/ /revo-
lution89.de/ und http://www.deinegeschichte.de/; weitere Erinnerungsberichte unter http://-
www.mein-herbst-89.de/ ; http://www.dhm.de/lemo/ forum/kollektives_gedaechtnis/index.html.
100 Ygi jjg umfassende, zahlreiche Zeitzeugeninterviews präsentierende Website http:/ /www. jugend-
opposition.de/index.php?id=l. — Die unter http://www.fachportal-paedagogik.de/filme/ vorge-
stellte Sammlung von Schulfilmen aus der DDR ist leider nur für registrierte Nutzer mit
wissenschaftlichem Interesse zugänglich.
101 Vgl. http://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de; http://www.grenzerinnerungen.de/ (persön-
liche Berichte und Bilder); http://www.mauerfotos.de (privates Internet-Fotoarchiv); http://www.-
berliner-mauer.de/. Weitere Zeitzeugen-/Erinnerungsberichte und begleitende Fotos in dem um-
fangreichen, von der Bundeszentrale für politische Bildung unterstützten Portal http://www.wir-
waren-so- frei.de/index.php sowie auf der privaten Website http://www.ddr-zeitzeugen.de/index.-
html und unter http://www.zeitzeugenforum.de/. Zur Bildgeschichte der DDR vgl. auch http:-
/ / www.ddr-bilder.de/ ; http:/ / www.ddr-fotografie-riemann.de/html/ ddr-galerie.html; http: / / www.-
dhm.de/ausstellungen/pdr/homep.htm (Bilder aus dem „Palast der Republik"). Links zu den DDR-
Museen und -Gedenkstätten unter http:/ / www.stiftung-aufarbeitung.de/erinnerungsorte-l 176.html.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
39
4. Wer landeskundlich eine Fixierung auf Deutschland als „Land der
Diktaturen" vermeiden will, muss derzeit bei der Quellenrecherche noch mit mehr
Aufwand rechnen. Im Zuge der Selbsthistorisierung der Bundesrepublik und
zeithistorischer Debatten 102 sind in den letzten Jahren aber auch umfangreichere
multimediale Präsentationen zur westdeutschen Geschichte seit 1945 103 ent-
standen. Hinzu kommen Internetdossiers, die interessantes Material zu Einzel-
aspekten bieten: zu Parteien und Politikfeldern wie der Außen- und „Neuen
Ostpolitk" 104 , zu Themen wie Nachkriegszeit, Wiederaufbau und Wirtschafts-
wunder 105 , „Kaltem Krieg" und Deutscher Teilung 106 , zu Terrorismus 107 oder
„'68", APO und den Neuen Sozialen Bewegungen 108 .
102 Vgl die Hinweise in Anm. 6 sowie Görtemaker 2004; Schildt; Siegfried 2009; Wolfrum 2006.
103 Vgl. nur http://www.60xdeutschland.de/ (umfassendes Angebot der ARD und der
Bundeszentrale für politische Bildung mit Videoclips und Hörfunkbeiträgen; dazu auch Handro 2010:
208ff.); http://www.dw-world.de/dw/0„12670,00.html (ähnliches Angebot der Deutschen Welle zu
„60 Jahre Bundesrepublik"); http:/ /www.dpa.de/60-deutsche-Jahre. 506.0. html (Artikel verschiedener
Zeitungen).
104 Vgl. http://www.kas.de/wf/de/71.9060/ (Geschichte der CDU auf den Seiten der Konrad-Ade-
nauer-Stiftung); http:/ /www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/downloads/geschichte_spd.htm; http:-
/ /www. fes.de/hfz/arbeiterbewegung/epochen/bundesrepublik-deutschland-1949-1989/kollektion
(mit Links auf die Pressemitteilungen, Parteitagsprotokolle und den Pressedienst der SPD); zur
„Neuen Ostpolitik" beispielsweise http:/ /libraty.fes.de/library/netzquelle/ostpolitik/index.html
(Materialien der Friedrich-Ebert-Stiftung); http://germanhistorvdocs.ghi-dc.org; http://www.aus-
waertiges-amt.de/sid_168AE7F8700E71F717ClC6573326CBF4/DE/AAmt/PoUtischesArchiv-
/HistorischeDokumente/Ostpoli tik_node.html.
105 Vgl. http://www.hdg.de/lemo/html/Nachkriegsjahre/index.html; http://germanhistorydocs.ghi-
dc.org/ sub_docs.cfm?section_id=14&language=german; http://www.dhm.de/filmarchiv/virtueUes--
filmarchiv/die-filme/ (Marshall-Plan-Filme); http://www.parlamentarischerrat.de/; http://www.-
digada.de/nachkriegszeit/uebersichtnachkriegszeit.htm (Nachkriegszeit in Hessen); http://www.-
lwl.org/LWL/Kultur/Aufbau_West/home/ („Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschafts-
wunder" in Westfalen); http://www.hdbg.de/wanderausstellung-wiederaufbau/wiederaufbau_the-
men.php (Bayern).
106 Vgl. nur http://www.bpb.de/themen/KGBNU7,0,0,Deutsche_Teilung_Deutsche_Einheit.html
(Überblick der Bundeszentrale für politische Bildung mit Materialien und weiteren Nachweisen) und
http:/ /www.kalter-krieg-im-radio.de/ sowie die Hinweise in Anm. 100.
107 Vgl. http://www.bpb.de/themen/TSS56U,0,0,Die_Geschichte_der_RAF.html (Überblick der
Bundeszentrale für politische Bildung); http://www.wdr.de/themen/politik/deutschland/deut-
scher_herbst/uebersicht.jhtml?rubrikenstyle=kultur (als Beispiel für die zahlreichen Themenseiten
der Rundfunkanstalten); http://www.hdg.de/lemo/html/DasGeteilteDeutschland/NeueHeraus-
forderungen/Linksterrorismus/; http:/ /labourhistory.net/raf/index-de.php (Dokumentensamm-
lung); http://www.swr.de/swr2/wissen/ specials/-/id=661214/nid=661214/did=2414272/2ql2qs-
/ index.html („Tondokumente von den RAF-Prozessen" in Stammheim). Überblick über die
verschiedenen — meist noch aktualisierten — Dossiers von Rundfunksendern und Tageszeitungen
unter http:/ /www.zeitgeschichte-online.de/ site/ 4020831 6/default.aspx.
108 Vgl. z.B. http://www.bpb.de/themen/UEZYL5,0,0,Die_68erBewegung.html (Überblick der
Bundeszentrale für politische Bildung zur „68er-Bewegung" mit Materialien und weiterführenden
Hinweisen); http://www.medienarchiv68.de/; http://www.glasnost.de/hist/apo/ (Quellen und
Texte zur Geschichte der Außerparlamentarischen Opposition); http://www.fr-online.de/politik-
/spezials/zeitgeschichte/1968/-/1477444/1477444/-/index.html (Dossier mit zahlreichen Fotos);
http:/ / service.tagesschau.de/multimedia-box/index.php?id=1968 (Fernsehausschnitte); http://ger-
manhistorydocs.ghi-dc.org/ sub_doclist.cfm?sub_id=34§ion_id=15&language=german;
http://www.hr-online.de/website/specials/68er/index.jsp („Frankfurt 1968 - Ein Stadtrundgang
Copyrighted malerial
40
Thomas Roth
Ein für die interkulturelle Bildungsarbeit wichtiger Aspekt ist darüber hinaus
die Migrationsgeschichte, die seit einigen Jahren nicht nur wissenschaftlich starke
Beachtung findet, sondern integrales Thema historischer Bildungs arbeit geworden
ist (vgl. Lange 2008; Leggewie; Lang 2011: 162ff; Motte; Ohliger 2004). Das
betrifft das immer noch geschichtspolitisch umkämpfte Thema der Vertrei-
bungen, 109 vor allem aber die Geschichte der BRD als „Gastarbeiter-" und „Ein-
wanderungsland". Sie hat in den letzten Jahren erste Würdigung in Websites
gefunden, die Ankunft, Ausgrenzung und Integration vor allem alltagsnah und
lebensgeschichtlich nacherzählen. 110 Die verstärkte Aufmerksamkeit für die Migra-
tionsgeschichte hat überdies die deutsche Ein- und Auswanderung des 19. und
frühen 20. Jahrhunderts in den Blick rücken lassen. 111
nach 40 Jahren"). — Zur „grünen Bewegung" vgl. http://www.boell.de/stiftung/archiv/archiv-
4285.html (Materialsammlung zur Partei von Seiten der Heinrich-Böll-Stiftung). Zur „neuen
Frauenbewegung" vgl. http://www.bpb. de/themen/KYOE75,0,0,Frauenbewegung.html (Überblick
der Bundeszentrale für politische Bildung); http://www.hdg.de/lemo/html/DasGeteilteDeutsch-
land/KontinuitaetUndWandel/UnruhigeJahre/neueFrauenbewegung.html; das Angebot auf german-
historydocs.ghi-dc.org sowie http://www.frauenmediaturm.de/recherche/ („EMMA" -Archiv und
Bilddatenbank, allerdings erst im Aufbau). Auch zur „ersten Frauenbewegung" des späten 19. /frühen
20. Jahrhunderts gibt es dort punktuell Intemetmaterialien.
109 Vgl. zur jüngeren Debatte http://www.zeitgeschichte-online.de/site/40208192/default.aspx.
Trotz der Intensität der Auseinandersetzung stellt das Internet bisher nur relativ wenig historische
Materialien und Quellen zu den Vertreibungen nach 1945 zur Verfügung. Neben den wegen ihrer
geschichtspolitischen Ausrichtung nicht unproblematischen Seiten der Vertriebenenverbände finden
sich überschaubare Quellenhinweise etwa unter http://library.fes.de/library/netzquelle-
/ zwangsmigration/index.html; http:/ / www.dhm.de/ ausstellungen/ zuwanderungsland-
deutschland/migrationen/rooms/0504.htm; http://www.hdg.de/lemo/html/Nachkriegs-
jahre/DasEndeAlsAnfang/fluchtUndVertreibung.html; http://www.digam.net/?str=124
(Flüchtlinge und Vertriebene in Hessen); http://www.lwl.org/LWL/Kultur/Aufbau_West/flucht/;
http://www.hdbg.de/integration/de/index.htm. Knapper Einblick in die Ausstellung des „Bundes
der Vertriebenen" zu Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert unter http://erzwungenewege.z-g-v.de;
Zeitzeugeninterviews zum Thema „Flucht und Vertreibung" aus verschiedenen europäischen Län-
dern bietet http://www.the-unwanted.com/.
11(1 Wesentlicher Impulsgeber war hierbei das seit 1990 aktive (zunächst auf die Immigration aus der
Türkei fokussierte) „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland" (vgl.
http://www.domid.org/index.html), dessen Ausstellungen zum Thema jedoch nur teilweise im
Internet verfügbar sind. - Wichtige migrationsgeschichtliche Präsentationen finden sich jedoch unter
http://www.angekommen.com/iberer/index.html (Sammlung von Biografien mit Interview-
ausschnitten); http://www.angekommen.com/italiener/index.html (dto.); http://www.migration-
audio-archiv.de/ (Sammlung mit längeren lebensgeschichtlichen Interviews); http://www.ein-
familienalbum.de/ (Familiengeschichte von Deutschen und Einwanderern von 1888 bis 1999);
http://lebenswege.rlp.de/lebenswege/ (Biografien, z.T. mit Audiodateien). Neuere Materialien und
Quellen bieten des Weiteren http://lebenswege.rlp.de/sonderausstellungen/50-jahre-anwerbe-
abkommen-deutschland-griechenland/ ; http:/ /lebenswege. rlp.de/ Sonderausstellungen/ 50-jahre-an-
werbeabkommen-deutschland-spanien/ (zur Zuwanderung nach Rheinland-Pfalz); http://-
www.muelheim-ruhr.de/cms/migration-geschichte.html (lokalgeschichtliches Angebot); http://-
www.museum-neukoelln.de/ausstellungen-99-neukoelln.php (Präsentation migrationsgeschichtlich
aufschlussreicher Objekte). Zu migrationsgeschichtlichen Ausstellungen vgl. allg. http://-
www.lwl.org/LWL/Kultur/wim/ portal/ S/hannover/ ort/ migration/ exponat/.
111 Vgl. neben http://www.angekommen.com/italiener/index.html http:/ /www. migrationsroute.-
nrw.de/ (zu Erinnerungsorten der Migrationsgeschichte in NRW); http://www.dhm.de/ausstel-
lungen/ zuwanderungsland-deutschland/ migrationen/ index.html; http:/ /www.hdbg.de / auswande-
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
41
5. Migrationsgeschichtliche Quellen bieten wichtige Ansatzpunkte, um
Identitäten, Identitätspolitiken, historische Selbst- und Fremdzuschreibungen zu
thematisieren, wären indes nicht die einzigen Materialien, die hierfür in Frage kom-
men. Andere Ressourcen — etwa zur Außen- und Kulturpolitik, zu den „Bildern
des Anderen" in Schulbüchern, zu Tourismus und Reiseliteratur — sind allerdings
bisher nur vereinzelt im Internet auszumachen. Dieser Befund verwundert etwas
angesichts der teilweise recht intensiven kulturdiplomatischen Bemühungen und
Versöhnungsinitiativen nach dem Zweiten Weltkrieg und des in den letzten Jahren
wiederbelebten Diskurses über die koloniale Vergangenheit Deutschlands (vgl.
Kundrus 2003; Laak 2005). Die in den letzten Jahren intensivierten Debatten um
eine europäische Erinnerungskultur (vgl. Assmann 2006: 250ff; Kühberger;
Sedmak 2009; Leggewie; Lang 2011) könnten jedoch dazu beitragen, dass die
Beziehungsgeschichte der Nationen, Länder und Kulturen im Internet bald
stärkere Beachtung findet.
Immerhin liegen bereits wenige Angebote zur deutschen Kolonialgeschichte
vor 112 — sowie zur Beziehungsgeschichte von Deutschland und seinen europä-
ischen Nachbarn, vor allem zu Polen. 113 Auch ein Projekt wie das „Virtuelle
Museum", das die deutsch-dänische Grenzregion in den Blick nimmt, zeigt, dass es
auf diesem Gebiet Entwicklungspotenziale gibt. 114 Das gilt auch für die deutsch-
französischen Beziehungen, die bereits seit Jahrzehnten bildungspolitisch, kultur-
historisch und geschichtsdidaktisch reflektiert und „gepflegt" werden (vgl. Dalmas
2010). Hierzu lassen sich im Internet zwar regierungsamtliche, wissenschaftliche
rung/deutsch/index2.htm (Auswanderung aus Bayern nach Amerika seit 1683); http://www.-
hamburg.de/bilder/hamburg-historisch (Bilder und Texte zum Auswandererhafen Hamburg).
112 Vgl. http:/ /www.bpb.de/ themen/KB4UAN,0,0,Ein_Platz_an_der_afrikanischen_Sonne.html
(Uberblick der Bundeszentrale für politische Bildung); http://www.dhm.de/lemo/html/kaiserreich-
/aussenpolitik/kolonien/index.html (Einstieg zur Kolonialpolitik des deutschen Kaiserreiches); http:-
/ / www.bundesarchiv.de/ oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/index.html.de (unter Kategorie
„Kaiserreich" Quellendossiers zum Krieg gegen die Herero 1904, zu Kolonialkarten, zu den „Muster-
kolonien" Kiautschou und Samoa, zum „Boxeraufstand"); http://www.zum.de/psm/imperialismus-
/primaer.php (Quellen/Transkripte zur deutschen Kolonialpolitik im 19. /frühen 20. Jahrhundert);
http: / / www.ub.bildarchiv-dkg.uni-frankfurt.de / Bildproj ekt / Bildsammlung/ Bildsammlg.htm (Bildbe-
stand der Deutschen Kolonialgesellschaft); http://www.ub.bildarchiv-dkg.uni-frankfurt.de/Bildpro-
jekt/Lexikon/lexikon.htm (Transkript des Deutschen Koloniallexikons von 1920); http://www.-
dhm.de/ausstellungen/namibia/rundgang.htm. Zu den gegenwärtig noch sichtbaren Spuren des
Kolonialismus vgl. http://www.koloniale-spuren.de/ (zu Hannover); http://www.afrika-hamburg.de;
http:/ / www.freiburg-postkolonial.de; http://www.kopfwelten.org/kp/ („Köln postkolonial").
113 Vgl. http://www.bpb.de/themen/7LlYH7,0,0,Deutschpolnische_Beziehungen.html (Überblick);
http://www.deutsche-und-polen.de/ (historischer Überblick mit Bild- und Videomaterial);
http:/ /library.fes.de/library/netzquelle/deutsch-polnisch/index.html (Materialien der Friedrich-
Ebert-Stiftung); http://www.deutschland-polen.diplo.de/Vertretung/ deutschland-polen/ de/Startsei-
te.html (Präsentation des Auswärtigen Amtes, weitgehend gegenwartsorientiert). — Zu den deutsch-
russischen Beziehungen vgl. http://www.unsererussen.de/ausstellung.html; http://www.hdg.de-
/bonn/ ausstellungen/archiv/2003/spuren-sledy-deutsche-und-russen-in-der-geschichte/ ; zu den
deutsch-skandinavischen Beziehungen im 19. Jahrhundert http://www.dhm.de/ausstellungen/wahl-
verwandtschaft/ .
114 Vgl. http://www.vimu.info/ sowie Danker; Schwabe 2008b und Nissen 2008.
Copyrighted malerial
42
Thomas Roth
und didaktische Materialen finden. 115 Wichtige Aspekte sind aber oft nur über
thematisch anders gelagerte Seiten zu erfassen. So kann man z.B. die Wahrneh-
mungen der Kriegsgegner im Ersten Weltkrieg über bild- und propaganda-
geschichtliche Sammlungen, 116 die deutsche Kampagne gegen die französischen
Kolonialsoldaten über regional- oder lokalhistorische Seiten 117 oder die Verwand-
lung der „Erbfeinde" zu Partnern im Rahmen europäischer Sicherheitspolitik über
eine Präsentation zur deutschen Militärgeschichte thematisieren. 118
6. Material zu den „Aushängeschildern" deutscher Kultur ist aufgrund inten-
siver Forschung und Bildungsarbeit, von Traditionspflege und Standortmarketing
meist problemlos zu finden — ob zu den „großen Männern" Adenauer, 119
Bismarck 120 , Ebert oder Brandt, 121 Luther, Goethe, Bach oder Beethoven, 122 ob
zum Kölner Dom, der Paulskirche oder Neuschwanstein. 123 Weitaus schwieriger ist
es hingegen, wenn es um die historische Entstehung und Ausprägung von
115 Vgl. http://www.deuframat.de/ („Deutsch-französische Materialien für den Geschichts- und
Geographieunterricht", Gemeinschaftsprojekt des Bundeskanzleramtes und des Georg-Eckert-Insti-
tuts für internationale Schulbuchforschung); http://www.fplusd.org/kultur-und-alltagsleben/politik-
und-geschichte/ (Sprachenportal der Außenministerien); http://www.france-allemagne.fr/Geschich-
te-der-deutsch,l 501.html (Portal der Außenministerien); http://www.leforum.de/de/de-traites.htm;
http:/ /www.hdg.de/lemo/html/DasGeteilteDeutschland/DieZuspitzungDesKaltenKrieges/Tei-
lungDeutschlands/deutschFranzoesischeBeziehungen.html. Die Website zur Ausstellung „Fremde?
Bilder von den ,Anderen' in Deutschland und Frankreich seit 1871" (http://www.dhm.de/ausstel-
lungen/ fremde/ausstellung.html) ist hinsichtlich Quellen leider nicht ergiebig.
116 Vgl. die Hinweise in Anm. 43. Einzubeziehen in die bild- und propagandageschichtliche
Recherche wären auch die umfangreichen Ressourcen von Museen und Archiven in den Vereinigten
Staaten, Großbritannien, Frankreich oder dem Beneluxraum, wo die Erinnerung und Aufarbeitung
des Ersten Weltkrieges derzeit einen noch sehr viel größeren Stellenwert hat als in Deutschland oder
Österreich (vgl. Bavendamm 2006; Dornik 2004: 95).
117 Vgl. http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44947; http://www.minderhei-
ten.mkg-koeln.de/ main/ produktionstagebuch/ die_recherche/3_01_02/3_01_02.htm.
H8 Vgl. den Film zur Aufstellung der deutsch-französischen Brigade 1989 aus einer
Internetausstellung zur Geschichte der Bundeswehr unter http://media.bwehr.de/Redak-
tionen/50jahre/mgfa/()3/10_d414_300k.wmv.
119 Vgl. http://www.konrad-adenauer.de/; http://www.adenauerhaus.de/ oder auch http://helmut-
kohl.kas .de/ index.php?menu_sel= 1 &menu_sel2=&menu_sel3 =&menu_sel4= .
120 Yg] http://bismarckstiftung.de/index.php/startseite; http://www.dhm.de/lemo/html/biogra-
fien/BismarckOtto/index.html. - Für die österreichische Geschichte vgl. beispielsweise http:-
/ / www.habsburger.net/.
121 Vgl. http://www.willy-brandt-luebeck.de/; http://www.willy-brandt.de/; http://www.ebert-
gedenkstaette.de/stiftung.html; http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/ebert.htm oder auch
http: / / www.stiftung-heuss-haus.de/ .
122 Yg]_ http://www.goethehaus-frankfurt.de/; http://www.klassik-stiftung.de/; http://www.martin-
luther.de/; http:/ /luther.chadwyck. co.uk/deutsch/html/frames/moreinfo/unsubscribed_g.htm (nur
eingeschränkte Nutzung); http://www.zeno. org/Literatur/M/Luther,+Martin; http://www.bach-
haus.de/ ; http:/ /www.bach-leipzig.de/; http:/ /www.beethoven-haus-bonn.de/.
123 yg\ nur http://www.koelner-dom.de/; http://www.aufbau-ffm.de/serie/Teil2/paulskirche.html;
http:/ /www.neuschwanstein.de/.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
43
Bräuchen und Ritualen, Festen und Feiern (jenseits von Karneval und
Oktoberfest 124 ), um Alltags kultur, Erziehungs- oder Mentalitätsmuster geht. 125
Eine lebensweltliche Annäherung an die moderne deutsche Geschichte kön-
nen allerdings auch Zeitzeugenerinnerungen, -berichte und -interviews, bringen.
Trotz immer noch anklingender wissenschaftlicher Kritik sind sie inzwischen inte-
graler Bestandteil von größeren Geschichtspräsentationen oder Onlineausstel-
lungen. Dazu hat die Etablierung erfahrungsgeschichtlicher Perspektiven in der
Geschichtsschreibung ebenso beigetragen wie der museumsdidaktische Trend zu
Anschaulichkeit und Personalisierung und die besonders durch die NS-Geschichte
geförderte Aufwertung persönlicher Zeugenschaft. Ausschlaggebend ist aber auch
die allgemeine Popularität privaten Erinnerns und historisch kolorierter Familien-
geschichten sowie das Bestreben der Massenmedien, historische Stoffe mit
Erinnerungsberichten und Alltagsgeschichten einem breiteren Publikum nahe zu
bringen. 126
Aufgrund der audiovisuellen Möglichkeiten und guten Erreichbarkeit im
WWW sind in letzter Zeit einige der zahlreichen Zeitzeugenarchive geöffnet 127 und
124 ygL 2 ß http://www.karneval.de/geschichte.aspx; http://www.kk-museum.de/cms/front_con-
tent.php?client= 1 &lang= l&idcat=6; http:/ / www.oktoberfest.de/ de/ article/Das+Oktoberfest/ Ge-
schichte/Die+Geschichte+des+Oktoberfests/ 621 / ; http:/ /www.bayerische-landesbibliothek-onli-
ne.de/ oktoberfest.
125 Das Angebot ist hier disparat. Erziehungs- und schulgeschichtliche Quellen: http://gei-
digital.gei.de/cms/ („Die digitale Schulbuch-Bibliothek", bisher Geschichtsschulbücher des
Kaiserreichs erfasst); http:/ /bbf.dipf.de/ retro-digitO.htm/digitale-bbf/ scripta-paedagogica-online
(„Textarchiv zur Bildungsgeschichte des deutschsprachigen Raums", bis 1945); http://www.bis.uni-
oldenburg.de/retrodig/index.php (Digitalisierte historische Kinderbücher); http://en.childrens-
library.org/ („International Children's Digital Library", mit wenigen historischen deutschen Kinder-
büchern); http://www.dhm.de/sammlungen/alltag3/spielzeug/bestand.html (Beispiele historischen
Spielzeugs aus den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums); http://www.kriegs-
spielzeug.org/ (kl. Präsentation zu Spielzeug im Kalten Krieg); http://www.deutschefotothek.de/
(mit Themenfilter „Schule"); http://www.schulmuseum.at/vsm/index2.htm (Virtuelles Schul-
museum Klagenfurt; stellvertretend für die verschiedenen Schulmuseen) sowie die Hinweise in Anm.
55 und 100. Vgl. auch http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/index.php (Postkarten-
sammlung mit Material zu zahlreichen alltagskulturellen Themen); http://www.liederlexikon.de/
(Texte und Bilder des Deutschen Volksliedarchivs); http://www.lwl.org/LWL/Kultur/VOKO/Ar-
chive_Bibliothek/Volkslied_Tonarchiv/ (mit Hörbeispielen); http://www.zeno.org/Kulturge-
schichte (Benimmbücher des 18.-20. Jahrhunderts); http://gutenberg.spiegel.de/genre/fairy
(Märchen); http://gutenberg.spiegel.de/genre/fable (Fabeln); https://www2.landesarch.iv-
bw.de/ofs21 /olf/startbild.php?bestand=2350 (Bildsammlung eines süddeutschen Fotoateliers mit
Aufnahmen von Festen und Feiern); http://www.siue.edu/COSTUMES/history.html (Publikation
des 19. Jahrhunderts zur Geschichte der Kostüme); http://www.dilibri.de/nav/classification/55402
(Fastnachtszeitungen des 19. Jahrhunderts); eine ältere Sammlung zur Festkultur unter
http://www.hab.de/bibliothek/wdb/festkultur/index.htm (Deutsche Drucke des 17. Jahrhunderts
zur Festkultur des Barock).
126 Vgl. hierzu aus unterschiedlichen Blickwinkeln Assmann 2006: 85ff.; Fischer; Wirtz 2008; Handro
2009: 86ff; Keilbach 2 2010; Kohr 2008; Lersch; Viehoff 2009: 99ff.; Welzer; Moller; Tschugnall 2002.
127 Mittlerweile gibt es in Deutschland eine Vielzahl von Zeitzeugenarchiven und
„Erinnerungswerkstätten", deren Bestände bisher nur punktuell „übers Netz" zugänglich sind.
Zentrale und stilbildende Einrichtungen stammen aus den USA, so das an der Yale University
untergebrachte, überwiegend englischsprachige Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies
(vgl. http://www.library.yale.edu/testimonies/excerpts/; eine Auswahl der knapp 4.500 Interviews
Copyrighted malerial
44
Thomas Roth
Oral History-Projekte direkt fürs Netz konzipiert worden. Hier geht es darum,
Betroffene nicht nur als Stichwortgeber für historische Darstellungen einzusetzen,
sondern von persönlichen Erinnerungen und lebensgeschichtlichen Erzählungen
auszugehen, um diese dann mit Dokumenten, Fotos und historischen Erläu-
terungen weiter aufzuschlüsseln. 128
Das Internet bietet nicht bloß eine Plattform für erfahrungs- und lebens-
geschichtliche Quellen; mit seinen interaktiven Möglichkeiten regt es die Nutzerin-
nen und Nutzer auch unmittelbar zur Quellenproduktion an, zum Schreiben von
Erinnerungsgeschichten oder zum Entdecken historischer Zeugnisse im eigenen
Umfeld. 129 So gibt es neben privaten Websites, die Erfahrungsberichte zur DDR-
Zeit sammeln, 130 Projekte wie zeitzeugengeschichte.de, das Schülerinnen und
Schüler zur „Erinnerungsarbeit" mit Zeugen der NS-Zeit ermuntert, 131 oder das
von der Bundeszentrale für politische Bildung ins Leben gerufene „Internet-
Archiv" „Wir waren so frei", zu dem bereits zahlreiche Personen private Fotos,
Filme und Impressionen beigesteuert haben. 132 Große Resonanz findet auch das -
redaktionell stark formatierte, unverkennbar kommerziellen Interessen dienende -
Spiegel-Portal „einestages", das Erinnerungen „kleiner Leute" mit prominenten
Biografien und großen historischen Szenarien zusammenschneidet. 133
Auch andere, ältere erfahrungsgeschichtliche Quellen und Selbstzeugnisse sind
gelegentlich im Internet zu entdecken. So finden sich dort verstreute Auszüge aus
des Archivs ist im „Ort der Information" am Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin
einsehbar) und das in den 1990er Jahren auf Initiative Steven Spielbergs eingerichtete Visual History
Archive des Shoah Foundation Institute an der University of Southern California (vgl.
http://dornsife.usc.edu/vhi/). Unter dessen ab 1994 geführten etwa 52.000 Interviews finden sich
auch knapp 1.000 deutschsprachige; bis vor Kurzem waren die Interviewfilme jedoch nur an
ausgewählten, lizenzierten Einrichtungen (etwa der Freien Universität Berlin [vollständig] oder dem
Jüdischen Museum Berlin [deutschsprachige Interviews]) einsehbar, ein weitergehender Zugang über
Internet ist offenbar angedacht. Vgl. http://www.zeugendershoah.de/, die Erläuterungen von Verena
Lucia Nägel unter http://www.bpb.de/files/AEXUOE.pdf sowie Barricelli 2010; Meyer 2009c: 190f.
und den Beitrag von Linde Apel in den Zeithistorischen Forschungen, http://www.zeithistorische-
forschungen.de/site/40208872/default.aspx.
128 Yg] jjg Hinweise auf entsprechende Zeitzeugen- und Interviewprojekte in den Anm. 89, 91, 92,
99-101, 109, 110 sowie Leh 2009.
129 Zur Entwicklung des Web 2.0 in den letzten Jahren und den damit gegebenen
Beteiligungsmöglichkeiten vgl. die Hinweise bei Meyer 2009a: 280ff.; Meyer 2009c; Pscheida 2010:
274ff, 291 ff; Spahn 2009: 302f. Erst an diesem Punkt — wenn historische Erinnerungen eigens für
das World Wide Web aufgeschrieben oder private Materialen „im Netz" zu bedeutsamen Quellen
erklärt werden - wird das Internet ein ganz eigenständiges „Medium der Erinnerung" Zit. n. Hein
2009a, 19.
130 Vgl. die Hinweise in Anm. 101.
131 Vgl. http://zeitzeugengeschichte.de/ sowie Marzinka 2010; Meyer 2009c: 193.
132 Vgl. http:/ /www.wir-waren-so-frei.de/ („Momentaufnahmen 1989/1990"); Thema ist der Zusam-
menbruch der DDR und die „Wende-Zeit".
133 Vgl. http://einestages.spiegel.de/page/Home.html sowie Meyer 2009a: 281 ff.; Meyer 2009c:
198ff. - Ähnlich angelegt ist http://www.von-zeit-zu-zeit.de/ („Die Geschichtswerkstatt von
Stuttgarter Zeitung und Stadtarchiv"); dazu auch die weiterführenden Hinweise in Lersch; Müller
2010.
Copyrighted material
Historische Quellen im Internet
45
Tagebüchern 134 ebenso wie (private) Editionen von Postkarten oder Feldpost-
briefen aus dem Zweiten und Ersten Weltkrieg 135 . Solche „Ego-Dokumente"
werden zukünftig eine noch größere Rolle im Netz spielen, zumal es inzwischen
auch Ansätze gibt, derartige Materialien gezielter zusammenzutragen und gebün-
delt im World Wide Web vorzustellen. 136
6 Schluss: Historische Quellen im Internet und Landeskunde
Mit der Entwicklung des Internet zu einem Raum historischer Präsentation,
Vermittlung, Auseinandersetzung und Erinnerung ist auch der Zugriff auf
geschichtliche Ressourcen unzweifelhaft leichter geworden. Das World Wide Web
mag ein ,,riesige[r] Wissensspeicher" (Pscheida 2010: 283f.) geworden sein. Aller-
dings ist es (noch) längst kein „virtuelles Archiv" oder ein „virtueller Lesesaal", in
dem man einen einfachen, systematischen und umfassenden Zugriff auf historische
Quellen, Bilder, Töne und Dokumente bekommt. Das Netz liefert zusätzliches
Material für die didaktische Arbeit, um besser auf die jeweiligen Geschichtsbilder
der Lernenden einzugehen, Lerneinheiten speziell audiovisuell anzureichern und
die zum Teil problematischen Darstellungen 137 älterer Lehrwerke zu umgehen.
Dies macht jedoch auch einige Suchbewegungen erforderlich sowie eine kritische
134 Vgl. http://www.tagebucharchiv.de/texte/bilderserien.htm bzw. http://www.tagebucharchiv.de-
/texte/leseecke.htm (Auszüge aus den Beständen des Deutschen Tagebucharchivs); http://zeitstim-
men.de/ („Tagebuchliteratur aus Brandenburg"); http://grossmann.weebly.com/ (Tagebuch eines
Lehrers und Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg); http://www.buehler-hd.de/landeskunde/rhein-
/geschichte/zeitgeschichte/wkl/ tagebuch.htm (Tagebuch eines badischen Soldaten im Ersten
Weltkrieg). Für frühere Epochen: http://www.mdsz.thulb.uni-jena.de/ („Mitteldeutsche Selbst-
zeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges").
135 Ygi_ va http://www.museumsstiftung.de/feldpost (Online-Sammlung der Museumsstiftung Post
und Telekommunikation mit 1.400 Feldpostbriefen zum Zweiten Weltkrieg) sowie http://www.feld-
post-archiv.de/; http://www.digada.de/wkl/uebersichtwkl.htm (Feldpostbriefe Darmstädter
Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg); http://www.dradio.de/dlf/sendungen/feldpost/ (sendebeglei-
tende Materialien zum Ersten Weltkrieg); als Beispiele für die zahlreichen privaten Initiativen http:-
/ /www. feldpostbriefe.de/index2. html; http://www.clooney.at/feldpost/; http:/ /www.peter-engel-
hardt.com/ ; http://klee-klaus.business.t-online.de/vermisst.htm; http:/ / www.hier-ist-es-schoen.de-
/HP/Sadelkow-fr.htm (Briefe und Postkarten von Soldaten zum Ersten Weltkrieg) sowie http:-
/ /www.32postkarten.com/index_D.html (Postkarten einer deutsch-jüdischen Familie aus den 1940er
Jahren). Vgl. auch http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/feldzeitungen.html (digitalisierte
„Schützengrabenzeitungen"); für frühere Epochen http://www.digam.net/?str=122 (Feldpostbriefe
1866, 1870/71).
136 So soll das Projekt Europeana 1914-1918 bis 2014 hunderttausende digitalisierte Quellen zum
Ersten Weltkrieg europaweit verfügbar und dabei auch bisher nicht greifbare, zumal
alltagsgeschichtliche Quellen der Öffentlichkeit zugänglich machen. Ausdrücklich werden auch
Privatpersonen aufgefordert, ihre Erinnerungsstücke zur Verfügung zu stellen. Vgl.
http://group.europeana.eu/web/guest/details-europeanal914-1918/. Einen ähnlichen Ansatz
verfolgt das HOPE-Projekt („Heritage of People's Europe"), das v.a. sozialgeschichtliche Quellen
bündelt; vgl. http:/ /www.peoplesheritage.eu/.
137 Besonders deutliche und differenzierte Kritik haben Darstellungen zur neueren deutschen und
NS-Geschichte erfahren; vgl. Ghobeyshi 2002; Koreik 1995: 142ff.; Thimme 1996: 97ff.; Warmbold;
Koeppel; Simon-Pelanda 1994).
Copyrighted malerial
46
Thomas Roth
Reflexion der im Internet präsentierten Materialien, ihres Verwendungszusammen-
hangs und ihrer didaktischen Brauchbarkeit (Rösler 2010: 1207 f.). Zwar gibt es
einige Internetangebote, die unterschiedliche Quellen, verschiedene historische
Perspektiven und breite, differenzierte Hintergrundinformationen liefern;
kompakte, direkt nutzbare Lehr- und Lernumgebungen sind aber immer noch
vergleichsweise selten. Insofern wird man bei vielen Themen noch auf „analoge"
Lehrmittel oder DVDs zurückgreifen, die nicht bloß Quellenmaterial liefern,
sondern intensivere redaktionelle Bearbeitung garantieren und produktive
Didaktisierungen bieten. 138
Mit Blick auf das Fach Deutsch als Fremdsprache und die Ansprüche einer
historisch basierten Landeskunde lässt sich folgendes vorsichtiges und natürlich
vorübergehendes Fazit ziehen:
- Im Internet finden sich etliche Hilfsmittel und Materialien für die historische
Faktenvermittlung, auch für die kritische Reflexion der selbst bei interessierten
Lernern verbreiteten Mythen, geschichtspolitischen Legenden oder unscharfen
Geschichtsbilder (vgl. Borries 2000; Uly 1999; Koreik 1995: 82ff.; Thimme 1996:
79ff.; Warmbold; Koeppel; Simon-Pelanda 1994). Das gilt besonders, wenn man
neben historischen Quellen die „quellenbegleitenden" Texte und Materialien
einbezieht.
- Differenzierter muss geurteilt werden, wenn man die „kommunikative" und
„interkulturelle" Ausrichtung der Landeskunde, Kommunikationssicherheit,
Handlungskompetenz, Reflexion und „Fremdverstehen" betont. Eine solche
Landeskunde bedarf anderer Materialien und historischer Quellen als eine einfache
„Realien-" oder „Staatsbürgerkunde". Solche „anderen", sozial-, kultur- und
mentalitätsgeschichtlichen Quellen lassen sich im Internet durchaus finden, sind
jedoch nicht so leicht greifbar. Auch hinsichtlich der Auseinandersetzung mit
historisch bedingten Stereotypen und Vorurteilen mangelt es m.E. noch an
Plattformen, die Materialien sammeln, bündeln oder schnellen Zugriff auf
„sprechende", anschauliche Quellen erlauben.
- Die starke Präsenz der NS-Zeit und der DDR-Geschichte im Internet
entspricht der Entwicklung der deutschen Erinnerungs kultur in den letzten
Jahrzehnten. Insofern vermitteln Quellen und Materialien zu diesen Epochen nicht
allein historisches Wissen, sondern Orientierung in der deutschen Gegenwarts-
gesellschaft, die in öffentlichen Debatten, politischen Entscheidungen, Familien-
geschichten und Alltags kommunikation immer wieder auf NS-Diktatur und „SED-
Regime" Bezug nimmt.
138 Vgl. den - älteren - Überblick bei Oswalt 2006 und die entsprechenden Beiträge in
Danker; Schwabe 2008a; zu den zahlreichen DVD-Editionen des Deutschen Historischen
Museums Jahrbuch 2007: 47ff. — Als gelungenes Beispiel für eine quellenorientierte
Auseinandersetzung mit „Fixpunkten" deutscher Geschiente: Schmidt; Schmidt 2007; als
Beispiel für die Auseinandersetzung mit historisch gewachsenen Mentalitätsmustern,
Stereotypen und Vorurteilen: Behal-Tnomsen; Lundquist-Mog; Mog 1993.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
47
- Andere geschichtliche Prägungen der deutschen Gesellschaft scheinen über
Internetressourcen und WWW-Quellen weniger dicht zu erfassen zu sein, etwa
Umweltschutz und Naturromantik, der deutsche Weg der Sozialstaatlichkeit,
Ordnungsvorstellungen, Obrigkeits- und Staatsverständnis. Aspekte wie Frauen-
unterdrückung und -emanzipation, der Wertewandel und die kulturelle Liberali-
sierung seit den 1960er Jahren sowie Realitäten von „Deutschland als Ein-
wanderungsland" haben zuletzt aber auch im Netz stärkere Beachtung gefunden.
Die Veränderungen des Geschichtsbewusstseins und die Dynamik des World Wide
Web machen es wahrscheinlich, dass es hierzu bald weitere brauchbare Internet-
angebote geben wird.
— „Alltag und Erfahrung" als Perspektiven historischer Landeskunde lassen
sich im Netz derzeit am ehesten über Zeitzeugenberichte und lebensgeschichtliche
Interviews einfangen. Wenngleich solche Quellen besonderer methodischer Refle-
xion bedürfen, in der Unterrichtspraxis bisher nicht im Zentrum stehen (vgl. Uly
1999: Abschn. 3.1.5) und von der sprachlichen Textur gerade Fremdsprachen-
lernern Schwierigkeiten bereiten können, stellen sie aktuell doch eines der wich-
tigsten Angebote des Internet an die Landeskunde dar.
Literaturangaben
Alavi, Bettina (2008): Zeitgeschichte virtuell: Zur Didaktisierung zeitgeschichtlicher
Webangebote am Beispiel der Website www.chronik-der-mauer.de. In:
Barricelli; Hornig (Hrsg.) (2008), 109-120.
Alavi, Bettina (Hrsg.) (2010): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg:
Mattes.
Altrichter, Helmut; Antipow, Lilia (2009): Geschichte als Politik. Quelleneditionen
„100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte
(1917-1991)" und „100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im
20. Jahrhundert" im Internet. In: Neuhaus, Helmut (Hrsg.) (2009): Erlanger
Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte und Studien. Erlangen,
Jena: Palm & Enke, 471-493.
Arnold, Jörg; Süß, Dietmar; Thießen, Malte (Hrsg.) (2009): Luftkrieg. Erinnerun-
gen in Deutschland und Europa. Göttingen: Wallstein.
Assmann, Aleida (2004): Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses. In:
Erll, Astrid; Nünning, Ansgar (Hrsg.) (2004): Medien des kollektiven Gedächtnisses.
Konstruktivität — Historizität - Kulturspe^ißtät. Berlin, New York: de Gruyter, 45-
60.
Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. München: Beck.
Copyrighted malerial
48
Thomas Roth
Barricelli, Michele (2010): Kommemorativ oder kollaborativ? Historisches Lernen
mithilfe digitaler Zeitzeugenarchive (am Beispiel des Visual History Archive).
In: Alavi (Hrsg.) (2010), 13-30.
Barricelli, Michele; Hornig, Julia (Hrsg.) (2008): Aufklärung, Bildung, „Histotainment"?
Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute. Frankfurt/Main u.a.: Lang.
Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert; Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.) ( 4 20 03):
Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen, Basel: A. Francke.
Bavendamm, Gundula (2006): Der Erste Weltkrieg im Internet. In: Groß, Gerhard
P. (Hrsg.) (2006): Die vergessene Front. Der Osten 1914/ 15. Ereignis, Wirkung
Nachwirkung. Paderborn u.a.: Schöningh, 373-391.
Behal-Thomsen, Heinke; Lundquist-Mog, Angelika; Mog, Paul (1993): Typisch
deutsch? Arbeitsbuch %u Aspekten deutscher Mentalität. Berlin u.a.: Langenscheidt.
Behrens, Heidi; Ciupke, Paul; Reichling, Norbert (Hrsg.) (2009): Fernfeld DDR-
Geschichte. Ein Handbuch für die politische Jugend- und Erwachsenenbildung.
Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2009.
Beier, Rosmarie (2000): Geschichte, Erinnerung und Neue Medien. Überlegungen
am Beispiel des Holocaust. In: Beier, Rosmarie (Hrsg.) (2000): Geschichtskultur
in der Zweiten Moderne. Frankfurt/Main, New York: Campus, 299-323.
Beier-de Haan, Rosmarie (Hrsg.) (2005): Erinnerte Geschichte — Inszenierte Geschichte.
Ausstellungen und Museen in der Zweiten Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Beine, Jürgen (2009): Wikis als Herausforderung für die Geschichtswissenschaften.
In: Histnet Wiki (http://wiki.histnet.ch/Wikis_als_Herausforderung_-
P/oC3%BCr_die_Geschichtswissenschaft).
Bosch, Frank (2006): Holokaust mit „K". Audiovisuelle Narrative in neueren
Fernsehdokumentationen. In: Paul, Gerhard (Hrsg.) (2006): Visual history. Ein
Studienbuch. Göttingen: Vandenhoeck Sc Ruprecht, 317-332.
Bosch, Frank (2007): Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von
„Holocaust" zu „Der Untergang". In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55, 1-32.
Bosch, Frank (2011): Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck %um Fernsehen. Frank-
furt/Main, New York: Campus.
Bosch, Frank; Goschler, Constantin (Hrsg.) (2009): Public History. Öffentliche
Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frank-
furt/Main, New York: Campus.
Borries, Bodo von (2000): Nationale Geschichtskulturen und jugendliche
Geschichtsvorstellungen im europäischen Vergleich. In: Mütter, Bernd;
Schönemann, Bernd; Uffelmann, Uwe (Hrsg.) (2000): Geschichtskultur. Theorie —
Empirie - Pragmatik. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 307-335.
Copyrighted material
Historische Quellen im Internet
49
Brautmeier, Jürgen et al. (Hrsg.) (2010): Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und
Regionalität im Wandel. Essen: Klartext.
Burckhardt, Daniel; Hohls, Rüdiger; Prinz, Claudia (Hrsg.) (2007): Geschichte im
Net% Praxis, Chancen, Visionen. Beiträge der Tagung .bist 2006. Berlin: Selbstverlag
(http://edoc.hu-berlin.de/histfor/10_I/PDF/HistFor_2007-10-I.pdfund
http:// edoc.hu-berUn.de/histfor/10_II/PDF/HistFor_2007-10-II.pdf).
Burckhardt, Daniel; Hohls, Rüdiger; Ziegeldorf, Vera (Hrsg.) (2005): Geschichte und
Neue Medien in Forschung, Archiven, Bibliotheken und Museen. Tagungsband .bist 2003.
Berlin: Selbstverlag (http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/7_I/PDF/HistFor_7-
2005-I.pdf und http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/7_II/PDF/HistFor_7-
2005-ILpdf).
Cornelißen, Christoph (2008): Internet und Geschichtswissenschaft. Anmerkungen
aus der Praxis von historischer Lehre und Forschung. In: Härtung, Olaf; Kohr,
Katja (Hrsg.) (2008): Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich
Pohl. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte.
Cyron, Marcus (2009): User generated history. Wikipedia als digitales Geschichts-
schreibungsprojekt. In: Hardtwig; Schug (Hrsg.) (2009), 256-263.
Czmiel, Alexander et al. (2005): Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen.
Evaluierungsbericht über einen Förderschwerpunkt der DFG. Köln: Universität zu
Köln (http:/ /www.deutsche-digitale-bibliothek.de/ pdf/ retro_digitalisie-
rung_eval_050406.pdf).
Dalmas, Martine (2010): Deutsch in Frankreich. In: Krumm et al. (Hrsg.) (2010),
1658-1664.
Danker, Uwe; Schwabe, Astrid (Hrsg.) (2008a): Historisches Lernen im Internet.
Geschichtsdidaktik und Neue Medien. Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Danker, Uwe; Schwabe, Astrid (2008b): Normative fachdidaktische
Anforderungen an virtuelle Geschichtspräsentationen. Möglichkeiten und
Grenzen der Umsetzung am Projektbeispiel eines „Virtuellen Museums". In:
Danker; Schwabe (Hrsg.) (2008a), 60-89.
Dornik, Wolfram (2004): Erinnerungskulturen im Cyberspace. Eine Bestandsaufnahme
österreichischer Websites %u Nationalsozialismus und Holocaust. Berlin: Trafo.
Dornik, Wolfram (2010): Internet: Maschine des Vergessens oder globaler
Gedächtnisspeicher? Der Holocaust in den digitalen Erinnerungskulturen
zwischen 1990 und 2010. In: Paul, Gerhard; Schoßig, Bernhard (Hrsg.):
Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz? der
letzten dreißig] ahre. Göttingen: Wallstein, 79-97.
Echternkamp, Jörg; Martens, Stefan (Hrsg.) (2007): Der Zweite Weltkrieg in Europa.
Erfahrungen und Erinnerungen. Paderborn u.a.: Schöningh.
Copyrighted malerial
50
Thomas Roth
Eckel, Jan; Moisel, Claudia (Hrsg.) (2008): Univers alisierung des Holocaust? Erinnerungs-
kultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive. Göttingen: Wallstein.
Eder, Franz X. et al. (2006): Geschichte Online. Einführung in das wissenschaftliche
Arbeiten. Wien u.a.: Böhlau.
Eder, Franz X.; Fuchs, Eduard (2005): Lernmodelle und Neue Medien. Histo-
risches Lehren und Lernen am Beispiel „Geschichte Online" (GO). In: Epple;
Haber (Hrsg.) (2005), 163-181.
Enderle, Wilfried (2002): Der Historiker, die Spreu und der Weizen. Zur Qualität
und Evaluierung geschichtswissenschaftlicher Internetressourcen. In: Haber;
Koller; Ritter (Hrsg.) (2002), 49-63.
Epple, Angelika; Haber, Peter (Hrsg.) (2005): Vom Nutzen und Nachteil des Internet für
die historische Erkenntnis. Version 1.0. Zürich: Chronos.
Erpel, Simone (2010): Hitler entdämonisiert. Die mediale Präsenz des Diktators
nach 1945 in Presse und Internet. In: Thamer, Hans-Ulrich; Erpel, Simone
(Hrsg.): Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen. Dresden:
Sandstein, 154-160.
Euler, Ellen (2011): Das kulturelle Gedächtnis im Zeichen digitaler und verneinter Medien
und sein Recht. Status Quo der rechtlichen, insbesondere urheberrechtlichen Rahmen-
bedingungen von Bestandsaufbau, Bestandserhaltung und kommunikativer sowie kommer-
zieller Bestandsvermittlung kultureller Äußerungen im Zeitalter digitaler und vernet^ter
Medien durch Bibliotheken, Archive und Museen in Deutschland und Regelungs-
alternativen. Bad Honnef: Bock+Herchen.
Fischer, Thomas; Wirtz, Rainer (Hrsg.) (2008): Alles authentisch? Popularisierung der
Geschichte im Fernsehen. Konstanz: UVK.
Fischer, Torben; Lorenz, Matthias N. (2007): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung"
in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945.
Bielefeld: transcript.
Gasteiner, Martin; Haber, Peter (Hrsg.) (2010): Digitale Arbeitstechniken für Geistes-
und Kulturwissenschaften. Wien u.a.: Böhlau.
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Seelze: Friedrich Verlag, Jg. 49ff. (1998ff).
Geschichte lernen. Seelze: Friedrich Verlag, Jg. 12ff. (1999ff.).
Ghobeyshi, Silke (2002): Nationalsozialismus und Schoah als landeskundliche Themen im
DaF -Unterricht. Frankfurt/Main u.a.: Lang.
Görtemaker, Manfred (2004): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der
Gründung bis %ur Gegenwart. Frankfurt/Main: Fischer.
Copyrighted matertal
Historische Quellen im Internet
51
Grosch, Waldemar (2002): Geschichte im Internet. Tipps, Tricks und Adressen.
Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Grosch, Waldemar (2008): Das Internet als Raum historischen Lernens - eine
Bestandsaufnahme. In: Danker; Schwabe (Hrsg.) (2008a), 13-35.
Große Kracht, Klaus (2005): Die Rankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland
nach 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Gruner, Martin (2009): Quellen online: Prozessdokumente im Internet. In: Finger,
Jürgen; Keller, Sven; Wirsching, Andreas (Hrsg.) (2009): Vom Recht ^ur
Geschichte. Akten aus NS -Processen als Quellen der Zeitgeschichte. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 254-259.
Haber, Peter (2005): „Google-Syndrom". Phantasmagorie des historischen
Allwissens im World Wide Web. In: Epple; Haber (Hrsg.) (2005), 73-89.
Haber, Peter (2009): digital.past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter. [Preprint im
Internet.] Basel: Selbstverlag (demnächst: München: Oldenbourg 2011).
Haber, Peter; Koller, Christophe; Ritter, Gerold (Hrsg.) (2002): Geschichte und
Internet. „Raumlose Orte — Geschichtslose Zeit". Zürich: Chronos.
Handro, Saskia (2009): Mutationen. Geschichte im kommerziellen Fernsehen. In:
Oswalt, Vadim; Pandel, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2009): Geschichtskultur. Die Anwe-
senheit von Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 75-97.
Hardtwig, Wolfgang; Schug, Alexander (Hrsg.) (2009): History sells! Stuttgart:
Steiner.
Härtung, Olaf (Hrsg.) (2006): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik — Politik -
Wissenschaft. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte.
Hein, Dörte (2005): Mediale Darstellungen des Holocaust. Zum World Wide Web
und zu seiner Disposition als Gedächtnismedium. In: Jahrbuch für Kommuni-
kationsgeschichte 7, 176-196.
Hein, Dörte (2009a): TLrinnerungskulturen online. Angebote, Kommunikatoren und Nutzer
von Websites %u Nationalsozialismus und Holocaust. Konstanz: UVK.
Hein, Dörte (2009b): „Seriöse Information" oder „schöne Bilder"? Kommemo-
rative Kommunikation aus der Perspektive der Anbieter. In: Meyer, Erik
(Hrsg.) (2009b), 145-173.
Hering, Rainer (Hrsg.) (2006): Forschung in der digitalen Welt. Sicherung, Erschließung
und Aufbereitung von Wissensbeständen. Tagung des Staatsarchivs Hamburg und
des Zentrums „Geisteswissenschaften in der digitalen Welt" an der Universität
Hamburg am 10. und 11. April 2006. Hamburg: Hamburg University Press.
Copyrighted malerial
52
Thomas Roth
Hödel, Jan (2007): Historische Online-Kompetenz. Informations- und Kommuni-
kationstechnologie in den Geschichtswissenschaften. In: Pöppinghege, Rainer
(Hrsg.) (2007): Geschichte lehren an der Hochschule. Bestandsaufnahme, methodische
Ansätze, Perspektiven. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 194-210.
Hörisch, Jochen (2004): Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate %um Internet.
Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Huneke, Hans-Werner; Steinig, Wolfgang ( 5 2010): Deutsch als Fremdsprache. Eine
Einführung. Berlin: Schmidt.
Uly, Regine (1999): Nationalsozialismus als Thema im Deutsch als Fremdsprache-
Unterricht. In: Forschungs- und Arbeitsstelle „Erziehung nach / über Auschwitz",
Downloadbereich (http:/ /www.fasena.de/ download/daf/Illy.pdf).
Jahrbuch (2007): Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland.
Berichtsjahr 2006. München: Oldenbourg.
Jakobi, Franz-Josef (2000): Archive und Geschichtskultur. In: Mütter, Bernd;
Schönemann, Bernd; Uffelmann, Uwe (Hrsg.) (2000): Geschichtskultur. Theorie-
Empirie - Pragmatik. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 130-141.
Jarausch, Konrad H.; Sabrow, Martin (Hrsg.) (2002): Die historische Meisterer^ählung.
Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht.
Jenks, Stuart; Marra, Stephanie (Hrsg.) (2001): Internet-Handbuch Geschichte. Böhlau:
Köln u.a.
Kansteiner, Wulf (2006): In Pursuit of German Memory. History, Television, and Politics
öfter Auschwitz Athens: Ohio University Press.
Keilbach, Judith ( 2 201 0): Geschichtsbilder und Zeit-Beugen. Zur Darstellung des National-
sozialismus im bundesdeutschen Fernsehen. Münster: Lit.
Kohr, Katja (2008): Die vielen Gesichter des Holocaust — Individualisierung als
Konzept musealer Geschichtsvermittlung. In: Handro, Saskia; Schönemann,
Bernd (Hrsg.) (2008): Orte historischen Eernens. Berlin, Münster: Lit, 165-177.
Kolpatzik, Andrea: „Die Deutschen" erobern die Schule! Grenzen und Chancen
historischen Lernens mit kommerziellen Geschichtsportalen. In: Alavi (Hrsg.)
(2010), 201-216.
Koreik, Uwe (1995): Deutschlandstudien und deutsche Geschichte. Die deutsche Geschichte im
Kähmen des Eandeskundeunterrichts für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler:
Schneider.
Koreik, Uwe (2010): Landeskundliche Gegenstände: Geschichte. In: Krumm et al.
(Hrsg.) (2010), 1478-1483.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
53
Körte, Barbara; Paletschek, Sylvia (Hrsg.) (2009): History Goes Pop. Zur Repräsentation
von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld: transcript.
Kröll, Ulrich (2010): Zeitgeschichte in digitalen Medien. In: Popp et al. (Hrsg.)
(2010), 149-170.
Krumm, Hans-Jürgen et al. (Hrsg.) (2010): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein
internationales Handbuch. Berlin, New York: de Gruyter.
Kruse, Meike (2008): Das Archiv der Hansestadt Lübeck online. Konzept einer Internet-
und Intranetpräsentation. Saarbrücken: VDM.
Kühberger, Christoph; Sedmak, Clemens (Hrsg.) (2009): Europäische Geschichtskultur
— Europäische Geschichtspolitik. Vom Erfinden, Entdecken, Erarbeiten der Bedeutung von
Erinnerung und Geschichte für das Verständnis und Selbstverständnis Europas.
Innsbruck u.a.: Studien Verlag.
Kümper, Hiram (2010): Zeitgeschichte und Wikipedia: von der Wissens (ver)-
schleuder(ung) zum Forschungsfeld. In: Popp et al. (Hrsg.) (2010), 283-296.
Kundrus, Birthe (Hrsg.) (2003): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen
Kolonialismus. Frankfurt/Main, New York: Campus.
Laak, Dirk van (2005): Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20.
Jahrhundert. München: Beck.
Lange, Dirk (Hrsg.) (2008): Migration und Bürgerbewusstsein. Perspektiven Politischer
Bildung in Europa. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Leggewie, Claus; Lang, Anne (2011): Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein
Schlachtfeld wird besichtigt. München: Beck.
Leh, Almut (2009): Zeitzeugen online. Archive und andere Web- Angebote. In: Bios
22,268-282. '
Lehmann, Kai; Schetsche, Michael (Hrsg.) (2005): Die Google-Gesellschaft. Vom
digitalen Wandel des Wissens. Bielefeld: transcript.
Lersch, Edgar; Müller, Peter (Hrsg.) (2010): Archive und Medien. Vorträge des 69.
Südwestdeutschen Archivtags am 20. Juni 2009 in Münsingen. Stuttgart: Kohlhammer.
Lersch, Edgar; Viehoff, Reinhold (2009): Folgenlose Unterhaltung oder
kunstvoller Wissenstransfer? Geschichtsfernsehen. In: Hardtwig; Schug (Hrsg.)
(2009), 91-105.
Levy, Daniel; Sznaider, Natan (2001): Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust.
Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Lorenz, Maren (2009a): Repräsentation von Geschichte in Wikipedia oder: Die
Sehnsucht nach Beständigkeit im Unbeständigen. In: Körte; Paletschek (Hrsg.)
(2009), 289-312.
Copyrighted malerial
54
Thomas Roth
Lorenz, Maren (2009b): Wikipedia als „Wissensspeicher" der Menschheit - genial,
gefährlich oder banal? In: Meyer, Erik (Hrsg.) (2009b), 207-236.
Machill, Marcel; Beiler, Markus (Hrsg.) (2007): Die Macht der Suchmaschinen. Köln:
von Halem.
Maier, Gerald (2007): Kulturgut aus Archiven, Bibliotheken und Museen im
Internet. In: Buchholz, Matthias et al. (Hrsg.) (2007): Samisdat in Mitteleuropa.
Pro^ess - Archiv - Erinnerung. Dresden: w.e.b. Universitätsverlag, 127-139.
Marra, Stephanie (2005): Geschichtsangebote im Internet: Populäre Rezeption und
wissenschaftliche Vermittlung. In: Epple; Haber (Hrsg.) (2005), 131-138.
Marzinka, Birgit: Möglichkeiten von Bildungsportalen am Beispiel von zeitzeugen-
geschichte.de. In: Alavi (Hrsg.) (2010), 217-237.
Meyer, Erik (2009a): Problematische Popularität? Erinnerungskultur, Medien-
wandel und Aufmerksamkeitsökonomie. In: Körte; Paletschek (Hrsg.) (2009),
267-287.
Meyer, Erik (Hrsg.) (2009b): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in
digitalen Medien. Frankfurt/Main, New York: Campus.
Meyer, Erik (2009c): Erinnerungskultur 2.0? Zur Transformation kommemorativer
Kommunikation in digitalen, interaktiven Medien. In: Meyer, Erik (Hrsg.)
(2009b), 175-206.
Motte, Jan; Ohliger, Rainer (Hrsg.) (2004): Geschichte und Gedächtnis in der Einwan-
derungsgesellschaft. Migration ^wischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik.
Essen: Klartext.
Näpel, Oliver (2003): Historisches Lernen durch „Dokutainment"? Ein geschichts-
didaktischer Aufriss. Chancen und Grenzen einer neuen Ästhetik populärer
Geschichtsdokumentationen, analysiert am Beispiel der Sendereihen Guido
Knopps. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2, 213-244.
Näpel, Oliver (2008): Historisches Lernen im Internet. Legitimation, Anspruch
und Wirklichkeit geschichtsdidaktischer Normative für Geschichtsangebote im
Cyberspace. In: Danker; Schwabe (Hrsg.) (2008a), 90-107.
Nissen, Mogens R. (2008): „Virtuelles Museum": Okkupation und Widerstand im
Internet. Ein Projektbericht. In: Bohn, Robert; Cornelißen, Christoph;
Lammers, Karl Christian (Hrsg.) (2008): Vergangenheitspolitik und
Erinnerungskulturen im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Deutschland und Skandinavien
seit 1945. Essen: Klartext, 199-213.
Nonn, Christoph (2007): Was ist und zu welchem Zweck betreibt man Landeszeit-
geschichte? Zu Problemen und Perspektiven einer Landesgeschichte der
Moderne. In: Geschichte im Westen 21, 155-171.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
55
Oswalt, Vadim (2006): Elektronische Speichermedien. Teil I und II. In: Geschichte in
Wissenschaft und Unterricht 57, 604-618, 677-690.
Paul, Gerhard (2010): Holocaust - Vom Beschweigen zur Medialisierung. Über
Veränderungen im Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus in der
Mediengesellschaft. In: Paul, Gerhard; Schoßig, Bernhard (Hrsg.): Öffentliche
Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig
Jahre. Göttingen: Wallstein, 15-38.
Pfanzelter, Eva (2010): Von der Quellenkritik zum kritischen Umgang mit digitalen
Ressourcen. In: Gasteiner; Haber (Hrsg.) (2010), 39-49.
Pieper, Katrin (2010): Resonanzräume. Das Museum im Forschungsfeld Erin-
nerungskultur. In: Baur, Joachim (Hrsg.) (2010): Museumsanalyse. Methoden und
Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld: transcript, 187-212.
Pöppinghege, Rainer (2010): „die echt konkrete seite" - LeMO als Lernort der
Zeitgeschichte? In: Popp et al. (Hrsg.) (2010), 297-306.
Popp, Susanne et al. (Hrsg.) (2010): Zeitgeschichte — Medien — Historische Bildung.
Göttingen: V&R unipress.
Pscheida, Daniela (2010): Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissens-
kultur verändert. Bielefeld: transcript.
Praxis Geschichte. Braunschweig: Westermann, Jg. 13ff. (2000ff).
Reichel, Peter ( 2 20 07): Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung
mit der ISIS -Diktatur von 1945 bis heute. München: Beck.
Reichel, Peter; Schmid, Harald; Steinbach, Peter (Hrsg.) (2009): Der National-
sozialismus. Die zweite Geschichte. Überwindung Deutung, Erinnerung. München:
Beck.
Rettinger, Elmar; Schrade, Torsten (2006): Forschen — Vermitteln — Mitmachen.
Landesgeschichte im Zeitalter von Web 2.0 und Social Software. In: Blätter für
deutsche Landesgeschichte 141/142 (2005/2006), 641-661.
Rösler, Dietmar (2010): Die Funktion von Medien im Deutsch als Fremd- und
Deutsch als Zweitsprache-Unterricht. In: Krumm et al. (Hrsg.) (2010), 1199-
1214.
Sabrow, Martin; Jessen, Ralph; Große Kracht, Klaus (Hrsg.) (2003): Zeitgeschichte als
Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München: Beck.
Sabrow, Martin (Hrsg.) (2009): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck.
Sabrow, Martin (Hrsg.) (2010): Bewältigte Diktaturvergangenheit? 20 Jahre DDR-
Aufarbeitung. Leipzig: AVA.
Copyrighted malerial
56
Thomas Roth
Sahle, Patrick (2001): Digitale Editionstechniken und historische Quellen. In:
Jenks; Marra (Hrsg.) (2001), 153-166.
Sahle, Patrick (2009): Das Archiv als virtualisierte Forschungsumgebung? In:
Histnet Wiki (http:/ /wiki.histnet.ch/Das_Archiv_als_virtualisierte_For-
schungsumgebung%3F).
Schildt, Axel; Siegfried, Detlef (2009): Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik.
1945 bis %ur Gegenwart. München: Hanser.
Schlögl, Daniel (2006): Geschichte und länderbezogene Informationen im Internet.
In: Syre, Ludger; Wiesenmüller, Heidrun (Hrsg.) (2006): Die Regionalbibliographie
im digitalen Zeitalter. Deutschland und seine Nachbarländer. Frankfurt/Main:
Klostermann, 151-164.
Schmale, Wolfgang (2010): Digitale Geschichtswissenschaft. Wien u.a.: Böhlau.
Schmale, Wolfgang et al. (2007): E-Eearning Geschichte. Wien u.a.: Böhlau.
Schmidt, Sabine; Schmidt, Karin (Hrsg.) (2007): Erinnerungsorte. Deutsche Geschichte
im DaF '-Unterricht. Materialien und Kopiervorlagen. Berlin: Cornelsen.
Schmitt, Heiner (Hrsg.) (2010): Archive im digitalen Zeitalter. Überlieferung —
Erschließung — Präsentation. 79. Deutscher Archivtag in Regensburg. Fulda:
Selbstverlag des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare.
Schürer, Kevin: Geschichte im Internet und im „global village". In: Europäische
Geschichtskultur im 21 '. Jahrhundert, hrsg. vom Haus der Geschichte der Bundes-
republik. Berlin: Nicolai, 252-261.
Schultz, Sonja (2008): Hitler 2.0. Der Diktator im Internet. In: Rother, Rainer;
Herbst-Meßlinger, Karin (Hrsg.): Hitler darstellen. Zur Entwicklung und Bedeutung
einer filmischen Figur. München: Edition Text und Kritik, 86-100.
Schwabe, Astrid (2010): Hypertext und Multimedia: Reflexionen zu Geschichts-
darstellungen im Internet. In: Handro, Saskia; Schönemann, Bernd (Hrsg.)
(2010): Geschichte und Sprache. Berlin, Münster: Lit, 177-188.
Schwarz, Angela (Hrsg.) (2010): „Wollten Sie auch immer schon einmal pestverseuchte Kühe
auf Ihre Gegner werfen?" Eine fachwissenschaftliche Annäherung an Geschichte im
Computerspiel. Münster: Lit.
Spahn, Thomas (2009): Geschichte und Geschichtslernen in Zeiten des Web 2.0.
Das Webportal www.lernen-aus-der-geschichte.de. In: Hardtwig; Schug (Hrsg.)
(2009), 299-305.
Storch, Günther (2001): Deutsch als Fremdsprache: eine Didaktik. Theoretische Grundlagen
und praktische Unterrichtsgestaltung. München: Fink.
Copyrighted malerial
Historische Quellen im Internet
57
Storm, Monika (2010): Landesgeschichte als Gegenstand von Archivpädagogik
und Historischer Bildungsarbeit. In: Dillinger, Johannes (Hrsg.) (2010): Die
Vermittlung von Eandesgeschichte. Beiträge %ur Praxis der historischen Didaktik.
Heidelberg u.a.: Verlag Regionalkultur, 101-1 13.
Thiemeyer, Thomas (2010): Geschichtswissenschaft: Das Museum als Quelle. In:
Baur, Joachim (Hrsg.) (2010): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen
Forschungsfeldes. Bielefeld: transcript, 73-94.
Thimme, Christian (1996): Geschichte in Eehrwerken Deutsch als Fremdsprache und
Französisch als Fremdsprache für Erwachsene. Hin deutsch-französischer Schulbuch-
vergleich. Baltmannsweiler: Schneider.
Vowinckel, Annette (2010): Mediengeschichte, Version: 1.0. In: Docupedia-
Zeitgeschichte, 11.2.2010 (http://docupedia.de/zg/Mediengeschichte).
Warmbold, Joachim; Koeppel, E.-Annette; Simon-Pelanda, Hans (Hrsg.) (1994):
Zum Thema Nationalsozialismus im DaF-Lehrwerk und -Unterricht. München:
Iudicium.
Weidner, Marcus (2010): Internet und Regionalgeschichte. Die „Arbeitsgemein-
schaft landesgeschichtliche und landeskundliche Internet-Portale in
Deutschland" (AG Regionalportale). In: Westfälische Forschungen 60, 617-629.
Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschugnall, Karoline (2002): „Opa war kein Nazi"-
Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/Main: Fischer.
Wiedmaier, Philipp (2007): Optimierung für Suchmaschinen am Beispiel von Google:
Grundlagen, Banking, Optimierung. Saarbrücken: VDM.
Wolfrum, Edgar (1999): Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur
bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft.
Wolfrum, Edgar (2001): Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Wolfrum, Edgar (2006): Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Klett-Cotta.
Zierold, Martin (2006): Gesellschaftliche Erinnerung. Eine medienkulturwissenschaftliche
Perspektive. Berlin, New York: de Gruyter.
Copyrighted malerial
Copyrighted malerial
Fotografie als historische Quelle?
Jürgen Nielsen-Sikora
Geblendet schloß er die Augen.
(Elias Canetti)
Einleitung
Das Auge ist das am häufigsten zitierte Sinnesorgan, wenn es darum geht, dem
Wesen des Menschen nachzuspüren. 1 Schon in der griechischen Antike, die im
Staunen das Motiv für Erkenntnis Fortschritte entdeckte, waren existenzielle Fragen
primär an die Ordnung der Blicke geknüpft. Damit einher ging seit Piaton und
Aristoteles die Mahnung, eine strikte Trennung von Sein und Schein (z.B. Soph. el.
1, 164a 20ff.) zu achten, um dem der Wahrheit verpflichteten Leben der theoria
gerecht zu werden; ein Anspruch der Philosophie, der noch Kants transzendentale
Dialektik von 1781 durchdrang und sogar bis weit in das 20. Jahrhundert hinein
virulent blieb. 2
Ein zentrales Kriterium der Wahrheitsfindung ist die philosophische Reflexion,
jene Selbstbezüglichkeit des denkenden Ichs, das mit Descartes und Hegel zum
1 Ich danke Stephanie Coche, Martina Pilger, Uwe Koreik und Felix Hinz für inhaltsbezogene
Hinweise.
2 Vgl. Kant 1998.
Copyrighted material
60
Jürgen Nielsen-Sikora
populären Moment des Philosophierens aufstieg und einmal mehr auf das Auge als
herausragendes Organ dieser Tätigkeit verwies. Die Idolatrie und der „Adel des
Sehens", auf den viele Philosophien immer wieder rekurrierten, blieben bis ins
vorangegangene Säkulum uneingeschränkt an der Macht: Die Philosophischen
Anthropologien von Helmuth Plessner (1928) und Ludwig Klages (1935), von
Jean-Paul Sartre (1943), Hans Jonas (1979) und Hans Blumenberg (2006) kommen
ohne eine Okulararistokratie nicht aus; 3 unterschiedlichste Disziplinen des 20. Jahr-
hunderts wie die Phänomenologie, die Existenzphilosophie, die Semiotik, der
Konstruktivismus oder die Ethnologie greifen Metaphern des Sehens auf und
widmen sich den Fallstricken der Beobachterperspektive im Kontext der so
genannten „Visual Culture", der bildverliebten Kultur, die im „Jahrhundert der
Bilder" (vgl. Paul 2008/9), der Werbung und des Konsums scheinbar allein über
das Auge zur Vernunft kommt. Eine paradoxe Situation?
Bereits die Aufklärung hatte das Bild vom Menschen als Homo pictor und
Animal symbolicum vorgedacht, doch erst die Spätmoderne hat diese Vorstellung
vollendet: bildlich phantasierend, Bilder interpretierend, Abbilder erkennend und
Zeichen verwendend wird der Mensch zu einem Wesen, das über den
bildsprachlichen Ausdruck der Wahrheit auf den Grund zu gehen vermag, indem
es den falschen Schein seiner Wahrnehmungswelt dekonstruiert. Doch gelingt dies
nicht immer: „Ich sehe", schrieb Roland Barthes deshalb, „den Menschen an
,Bildern' erkrankt, an seinem ,Bikf erkrankt." (Barthes 2006: 387). Denn das Bild,
das der Mensch sich von sich selbst macht, macht er im Schatten der Bilder, die
täglich auf ihn einströmen. 4 In Bilderfiut und Blitzlichtgewitter verliert das
Selbstbild zwangsläufig an Schärfe, und der Anspruch, den der Mensch an sich seit
Alters her gestellt hat, ist kaum mehr einlösbar: Der „logos" löst sich zusehends in
den Logos der Werbeindustrie auf.
Eine Kritik der Sehfähigkeit lässt ebenfalls kaum Zweifel an der Vorherrschaft
des Auges: Jean Baudrillards Theorie der Simulakren (1991), die die platonische
Darstellung der Troglodyten nach mehr als zweitausend Jahren konsequent zu
Ende denkt, indem sie das Imaginäre als Bewusstsein gestaltendes Moment
versteht, oder Vilem Flussers Entwurf einer telematischen, völlig vernetzten
Gesellschaft (2007) im Informationszeitalter bilden hier keine Ausnahme.
Ein Wesen, das sich über die Jahrhunderte so intensiv und ausdauernd,
ausgiebig und wohlüberlegt mit dem Blick auf die Welt, seit der Renaissance mit
der Perspektivenvielfalt, seit der Weimarer Republik mit der Unschärferelation
beschäftigt, muss die Erfindung der Fotografie und ihre Weiterentwicklung als
digitale Computergrafik auf Grund der vermeintlichen Verdopplung der Welt als
Herausforderung seiner Wahrheits suche empfinden. Eine Neuvermessung der
Blicke schien mit Heraufkunft der Fotografie unausweichlich.
3 Vgl. Plessner 1978; Klages 1982; Sartre 1993; Jonas; Blumenberg 2006.
4 Nota bene zeigt sich etymologisch das Verhältnis von Krankheit und Nachbildung im Begriff der
„Simulation".
Copyrighted malerial
Fotografie als historische Quelle?
61
Inzwischen fragt auch die Geschichtswissenschaft nach dem Objektivi-
tätscharakter fotografischer Bilder: Lassen sich Fotografien als historische Quellen
nutzen, oder sind sie nicht mehr als illustratives und emblematisches Schmuckwerk
in historischen Darstellungen?
Im Folgenden will ich versuchen, diese Frage anhand einiger prominenter
Beispiele zu beantworten und darf vorwegnehmen, dass ich Zweifel am Nutzen
des Einsatzes von Fotografien als historische Quellen hege. Allein unter der Frage-
stellung, wie sich der Blick auf die Welt mit der Weiterentwicklung fotografischer
Techniken verändert hat, scheint mir im Hinblick auf den Stellenwert von Bildern
als Quelle historischer Forschung sinnvoll. Meine Ausführungen sollen diese
Skepsis argumentativ unterstreichen.
Mir geht es hierbei jedoch nicht um den didaktischen Wert der Fotografie für
den Fremdsprachenunterricht, sondern allein um die Frage, ob wir durch den
Gebrauch von Fotografien als Quellenmaterial in der historischen Forschung und
im Geschichtsunterricht einen Mehrwert an Erkenntnis gewinnen, oder ob wir
nicht gänzlich auf Fotografien im Rahmen der Geschichtsanalyse einer bestimmten
Zeit, Epoche oder eines Ereignisses verzichten sollten. Meine These ist, dass sich
der Mehrwert allein durch den Reiz des Anschauungsmaterials ergibt, das jeweilige
Foto allerdings über die Vermittlung einer subjektiven Sichtweise in einem
bestimmten Zeitraum hinaus wenig Aussagekraft besitzt. Die folgenden Bemer-
kungen verstehen sich insofern als Plädoyer für einen sparsamen Gebrauch der
Fotografie im Kontext historischer Forschungen und erteilen der Beschäftigung
mit Bildern nur dann die Legitimation, wenn es darum geht, anstelle der Aussagen
über die Wirklichkeit der Vergangenheit etwas über den Blick auf diese Ver-
gangenheit erfahren zu wollen; ein Plädoyer, Fotografien nicht bloß als Illustration
des Textes, und Texte nicht nur als Kommentare der Bilder zu sehen, sondern
Wort und Bild zirkulieren und sie in Dialog treten zu lassen. Allein dann, so
scheint mir, haben Fotos als historische Quelle ihre Berechtigung. Hierzu will ich
in drei Punkten Stellung nehmen. Zunächst sage ich etwas zum Verhältnis von
Fotografie und Text (1), frage anschließend danach, was Bilder wollen (2) und gebe
zum Schluss und in aller Kürze einige didaktische Anregungen, ehe ich ein Fazit
meiner Ausführungen ziehe (3).
1 Zum Verhältnis von Fotografie und Text
Stellen Sie sich angesichts des oben skizzierten Vorhabens einmal eine Situation
vor, in der jemand ein Foto wie folgt beschreibt:
„Das Bild ist schwarz-weiß. Ich sehe ein Schlachtfeld, und auf dem
Schlachtfeld einen einzelnen Mann, der zwischen gefallenen Soldaten steht und
entsetzt in die Weite blickt. Er fasst sich mit der rechten Hand an den Kopf und
reißt Augen und Mund weit auf. Die andere Hand liegt auf der Schulter eines am
Hang liegenden gefallenen Soldaten. Er hat einen langen Mantel an, der nicht
Copyrighted material
62
Jürgen Nielsen-Sikora
geschlossen ist und trägt einen Gürtel und Stiefel. Außerdem hat er eine Box um
den Hals gehängt. Die ganze Szene scheint in einem Schützengraben zu spielen.
Die gefallenen Soldaten liegen zum Teil übereinander, zwei haben Blut im Gesicht.
Alle Soldaten bis auf den Überlebenden tragen Helme und haben die Augen
geschlossen. Insgesamt ist aber nicht erkennbar, ob auch alle liegenden Soldaten
wirklich tot sind. Die Gesichter der Männer sehen relativ jung aus, in jedem Fall
deutlich jünger als das des entsetzt in die Weite blickenden Mannes. Zwischen den
Soldaten, vor dem lebenden Mann, liegen nicht weiter erkennbare Gegenstände.
Außer dem Schützengraben ist nichts zu sehen. Keine Natur, keine Gebäude,
keine anderen Menschen, keine schweren Geschütze."
Mit diesen Worten skizzierte eine Kollegin ein Bild, das ich ihr mit der Bitte
überreichte, sie möge die Szene in Worte fassen. Wann und wo das Gesehene
spielt, lässt sich scheinbar nicht exakt sagen. Meine Kollegin äußerte die Vermu-
tung, es sei ein Bild aus dem Ersten Weltkrieg. Der Stahlhelm, der Schützengraben
ließen darauf schließen.
Warum die Bildbeschreibung? „Bilder sind längst fester Bestandteil in verschie-
denen Bereichen des Lehrens und Lernens" schreiben Hecke und Surkamp (2010:
9). Hierbei gehe es um die Fragen nach Bildauswahl, Verwendung und metho-
dischem Einsatz. Die Bilder und Fotografien einerseits, die Reflexion des Einsatzes
andererseits bleiben im Unterricht jedoch oftmals unkritisch. Auch Hecke und
Surkamp neigen meines Erachtens zu einer Überbewertung der Möglichkeiten des
Bildeinsatzes. So zeichne sich eine Abbildung dadurch aus, „dass die zentralen
Merkmale von Darstellung und Dargestelltem übereinstimmen (wie z.B. bei
Porträtfotos)" (ebd.: 10). Des Weiteren könnten „authentische Bilder ...
produktive Sprechanlässe liefern" (ebd.: 11) und seien „wertvolles Material" (ebd.)
für den Unterricht, weil sie diesen positiv beeinflussen und „das Textverständnis
unterstützen" (ebd.: 12) würden. Insgesamt ließe sich das Sehen trainieren und
trüge zu einer „Medienkompetenz der Lernenden", zur „Sehkompetenz" und
„visual literacy" bei (ebd.: 13). Trainiert werden solle insbesondere die „Fähigkeit,
Bildinhalte verbalisieren zu können" (ebd.: 14). Ein visuell kompetentes Betrachten
unterscheide sich vom bloßen Wahrnehmen dadurch, „dass die visuellen Reize
kritisch begutachtet und bewusst unter Bezugnahme auf Gestaltungshinweise und
Kontext des Bildes gedeutet werden." (ebd.: 15). Der letzte Punkt, auf den auch
Gabriele Blell aufmerksam macht, ist entscheidend. Zwar gehe es darum, so Blell,
den Lerner zu einem kenntnisreichen und kritisch-kompetenten „Leser im Sinne
eines Schauers aller Arten von visuellen Texten" (ebd.: 94) zu machen, weil alles
Visuelle eine bedeutungsstiftende, eine bedeutungstragende sowie eine bedeutungs-
vermittelnde Instanz" (ebd.: 95) besitze. Gleichwohl gibt sie zu verstehen, dass
Lesen und Sehen „immer subjektiv, selektiv, also immer schon Interpretation"
(ebd.: 98) der jeweiligen „Bildgrammatik" seien. Die Schwierigkeit, diese Bildgram-
matik kritisch zu entschlüsseln, sollte nicht unterschätzt werden.
Kommen wir deshalb noch einmal auf die Bildgrammatik der eingangs
beschriebenen Szene zurück. Die in Worte gefassten Eindrücke meiner Kollegin
Copyrighted malerial
Fotografie als historische Quelle?
63
bilden den Ausgangspunkt für ein kleines Gedankenexperiment des Bild-
verstehens: Zu Beginn eines Vortrags lese ich den Text vor, ohne das Bild, das die
Kollegin beschreibt, zu zeigen. Anschließend bitte ich meine Zuhörer, sich vor
dem inneren Auge die Situation vorzustellen. Erst danach wird die Fotografie
gezeigt. Die Diskrepanz zwischen all den Vorstellungen, die sich durch die
Beschreibung ergeben und dem auf die Leinwand projizierten Bild ist, wie zu
erwarten, groß. Denn der Versuch, das Foto in Worte zu fassen, kann noch so
gelungen sein, eine Übereinstimmung zwischen der Gedankenwelt und der Sehwelt
ist nicht herzustellen; auch dann nicht, wenn weitere Personen die Bildbeschrei-
bung durch eigene Worte ergänzen und komplettieren würden. Aussagen zum
Format, zum Mittelpunkt des Bildes, zum Vorder- und Hintergrund oder zu den
Bildachsen mögen hierbei Konkretisierungen des inneren Bildes hervorrufen, doch
lassen sich niemals alle Bildinformationen als Text rekapitulieren. Kurt Tucholsky
fasste diesen Sachverhalt bereits im Jahre 1926 wie folgt zusammen: „Weil jeder
genau so ist, wie er aussieht, und weil wir nur nicht lesen können, was uns die
Natur eindeutig auf die Menschengesichter schreibt, so können Augenblicksfoto-
grafien erbarmungslos enthüllen, was das Auge nicht so schnell hat wahrnehmen
können. Eine Momentaufnahme ist die fixierte Blamage einer unvorsichtigen
Bewegung, eines schiefen Lächelns, einer sorgsam versteckten Beobachtung ...
Plötzlich ist alles am Tage ... Und weil ein Bild mehr sagt als hunderttausend
Worte, so weiß jeder Propagandist die Wirkung des Tendenzbildes zu schätzen:
von der Reklame bis zum politischen Plakat schlägt das Bild zu, boxt, pfeift,
schießt in die Herzen und sagt, wenn's gut ausgewählt ist, eine neue Wahrheit, und
immer nur eine. Es gibt Beschreibungen, die die Bilder übertreffen, aber das ist
selten. Es gibt hunderttausend Fotografien, die den besten Schilderer übertreffen,
das ist die Regel ..." (Peter Panter 1926: 75).
Das von mir ausgewählte Bild war ein Fotostill, ein spiegelverkehrt aus dem
Internet kopiertes Cover aus G.W. Pabsts UFA-Klassiker „Westfront 1918" aus
dem Jahre 1930, aus dem ich alle Textbausteine getilgt hatte, so dass kein Verweis
auf den Film mehr sichtbar war. Erst im Vergleich mit dem vollständigen Cover
wird deutlich, dass das Foto nicht aus dem Ersten Weltkrieg stammt, sondern am
Ende der Weimarer Republik produziert wurde. Das Foto war gestellt und
verfälscht. Diese Informationen erhalten wir aber nur durch den Text, der auf die
Klassiker-Edition, die Schauspieler und den Regisseur verweisen. Das Bild, das ich
eingangs der Kollegin gezeigt habe, sagt mithin mehr als tausend Worte; es sagt aber
zugleich auch weniger. Zum Verständnis der dargestellten Szene benötigen wir
stets Informationen, die sich nicht allein aus dem Anblick eines Fotos erschließen.
Copyrighted malerial
64
Jürgen Nielsen-Sikora
WESTFRONT 1918
Abb. 1: DVD-Cover von G.W. Pabsts „Westfront 1918", © Edition Ufa-Klassiker.
Auch der Pionier der Fotografie, William Henry Fox Talbot, der in seinen Bildern
durchaus einen historischen Mehrwert erblickte und die Fotografie 1844 als
„Zeichenstift der Natur" (vgl. Stiegler 2010: 161) begriff, kam nicht ohne Kom-
mentare zu seinen Bildern aus. Seine Schilderungen fielen dabei recht bildreich aus.
So heißt es über das Queen's College in Oxford: „Die Oberfläche des Gebäudes
mit ihrem verwitterten Stein, der wahrscheinlich von Anfang an von schlechter
Qualität war, zeigt aufs deutlichste Spuren der Zerstörung durch Zeit und Wetter."
(161). Über den Pariser Boulevard heißt es: „Es ist Nachmittag. Die Sonne verlässt
gerade die säulengeschmückte Häuserreihe: Die Fassade ist schon im Schatten,
aber ein einzelner Fensterladen steht weit genug offen, um einen Schimmer Sonne
zu erhaschen . . . Ein wahrer Wald von Schornsteinen säumt den Horizont: Denn
das Instrument registriert alles, was es wahrnimmt, und einen Schornsteinaufsatz
würde er mit der gleichen Unparteilichkeit festhalten wie den Apoll von
Belvedere." (162f). Das Instrument ist der Fotoapparat, dessen „Unparteilichkeit"
Talbot heraufbeschwor. Doch ist dies eine Illusion: Die Natur kennt keine
Rahmung, keinen Ausschnitt und keine Welt in Schwarz und Weiß. Die
Perspektive eines Fotos ist zudem eine andere als die des Blicks; auch verteilt sich
die Sehschärfe anders als auf der Fotografie: Wir sehen nur im Blickzentrum
scharf, an den Rändern unseres Blicks wird die Welt zusehends unschärfer. Aber
nicht nur hier täuscht uns das fotografische Bild — es verschweigt auch den Kon-
text, in den es eingebettet ist: Seinen möglichen Auftraggeber, die Entstehungszeit,
den Ereigniszusammenhang, die Agentur, die das Foto vertreibt, die Auflagenhöhe
und die ganze Bilderpolitik, die im Zuge seiner Verwendung und Nicht-
verwendung betrieben wird (vgl. Jäger 2009). Viele Fragen bleiben offen bei einer
Fotografie als historische Quelle?
65
Bildbetrachtung: Wer sind die abgebildeten Personen? Wie wurde das Bild
rezipiert? Welche Bedeutung hatte es für seine Betrachter? Wie Susan Sontag
schreibt (vgl. Stiegler 2010: 295), kann ein Foto kein Beweis sein für das, was
passiert, ohne dass wir über ein politisches Bewusstsein der Kontexte des
Geschehens verfügen: Welche Intention hatte der Fotograf? Wie wirkt das Bild auf
seine Betrachter? Welche Assoziationen verbinden sie damit? Und in welchem
Verhältnis steht das Bild zu den Ereignissen, von denen es einen Ausschnitt
widerspiegelt?
Abb. 2: Bild-Kontexte
Jedes Foto wird aus einem Kontext gerissen, den es zu rekonstruieren gilt, will
man Genaueres über das auf dem Foto Dargestellte wissen. Der Ausschnitt, den
das Foto zeigt, mag zufällig und spontan gewählt worden sein; selbst dann wird
man dem Fotografen noch Absicht und insofern eine Intention unterstellen
dürfen, die es zu interpretieren gilt wie einen Text. Dieser semiotisch anders zu
deutende visuelle Text, der uns in jedem Foto vorliegt, steht im Spannungsfeld von
Bildintention und Bildinterpretation des jeweiligen Betrachters. Aussagen über den
Bildkontext lassen sich stets leichter verifizieren als Spekulationen über das
Verhältnis zwischen Abbild und Wirklichkeit: Ist der Mensch auf dem Foto unten
Barack Obama oder doch George W. Bush?
Fotograf
Kontext
Betrachter
Wirklichkeit
(Natur)
Copyrighted malerial
66
Jürgen Nielsen-Sikora
Abb. 3: Gemorphtes Bild aus den Konterfeis von Barack Obama und
George W. Bush
Fotografien sind mithin nicht nur bedeutungstragend, wie Blell schreibt, sondern
vor allem bewusstseins- und meinungsbildend, weil jedes Foto im Zeitalter der
digitalen Computergrafik prinzipiell manipuliert werden kann. Die Manipulation
muss nicht einmal gravierend sein. Ein prominentes Beispiel ist das 1972
geschossene Foto der damals neunjährigen Vietnamesin Kim Phuc aus dem
zweiten Indochina-Krieg. Es zählt wohl zu den bekanntesten Fotografien des 20.
Jahrhunderts und hat nicht zuletzt medienpolitisch auf die damaligen
Gesellschaften in den USA und Europa eingewirkt. Das Foto wurde nachträglich
beschnitten; so rückt die völlig verbrannte, nackte, weinende Kim Phuc stärker in
den Bildmittelpunkt, der zwischen ihrem Nabel und der Scham liegt. Sie ist so zu
einer Bildikone des vergangenen Jahrhunderts geworden.
Aber genau dies ist auch ein zentrales Problem historischer Aufnahmen: Die
Geschichte zerfällt, so schon Walter Benjamin in seinem Kunstwerkaufsatz von
1935, in Bilder. Und Susan Sontag ergänzt: „Bilder lähmen. Bilder betäuben ... Je
öfter man mit solchen Bildern konfrontiert wird, desto weniger real erscheint das
betreffende Ereignis." (Benjamin 2010: 296f). Denn der politische und gesell-
schaftliche Diskurs verlagert sich durch die Fotografie, besser: durch die perma-
nente Reproduktion von Fotografien auf die Ebene einer zweiten Realität. Diese
Ebene vermittelt nichts als subjektive Sichtweisen und verfolgt bestimmte Ziele.
Die Frage, die wir uns deshalb stellen müssen, wenn wir Bilder als historisches
Dokument betrachten, lautet: Was wollen Bilder?
Fotografie als historische Quelle?
67
2 Was wollen Bilder? Einige Beispiele
Bernd Stiegler weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Fotografien in
erster Linie nicht die Wirklichkeit verdoppeln - und insofern als historische Quelle
unbrauchbar sind, um etwas über die Inhalte des Dargestellten zu erfahren,
vielmehr konstituiere die Fotografie „das Bild der Wirklichkeit. Es geht weder um
Naturalismus noch um Konstruktivismus, sondern um eine in der Fotografie-
theorie und mitunter sogar in den Bildern medial vermittelte Reflexion über
Konstruktivismus und Naturalismus . . . darüber, was zu bestimmten Zeiten und in
bestimmten Kontexten als Wirklichkeit und als visuelle Wahrheit zu fassen ist.
Dies ist notwendig historisch zu bestimmen: als Geschichte der Wahrnehmung,
des Realismus und der Konstruktionsformen des Realen." (Stiegler 2010: 23f). Es
geht mithin darum, wie eine bestimmte Zeit Wirklichkeit konstruiert hat, und
welchen Beitrag zu dieser Konstruktion des Realen die Fotografie auf einem
bestimmten Stand der Technik lieferte. Zwar ist das Foto des kleinen Mädchens
zum Inbegriff des Vietnamkrieges und seiner Gräuel geworden, und es steht wie
kein anderes Dokument für die verheerende Wirkung der Napalmbomben. Über
die Hintergründe und die Geschichte des Krieges aber sagt es nichts; schon gar
nichts darüber, warum die Vietnamesen, die die US-Bombe geworfen haben, ihr
eigenes Volk angriffen.
An dieser Stelle darf man gewiss einwenden, dass auch ein so großartiges Buch
wie Bernd Greiners „Krieg ohne Fronten" (2009), das bis dato unbekanntes
Archivmaterial zum Vietnamkrieg präsentierte, nicht lückenlos sein kann. Doch
das Wort ist in der Lage zu reflektieren, wohingegen das Foto immer nur ein
„Bruchstück der Welt" sein kann; eine Miniatur der Realität, „die jedermann
anfertigen oder erwerben kann." (Sontag a.a.O.: 278). Das Foto wird auf Grund
seines Reproduktionscharakters zu einer Projektionsfläche, für die allein die
Aufmerksamkeit des Betrachters entscheidend ist.
Copyrighted malerial
68
Jürgen Nielsen-Sikora
Abb. 4: Kim Phuc als Pop-Ikone zwischen Mickey Mouse und Ronald McDonald.
Ein Werk des Graffiti-Künstlers Banksy.
Immer und immer wieder gezeigte Bilder sind Indizes von Wendepunkten und
Umbrüchen (vgl. Schuster 1996: 194). Die Erinnerung an fotografische
Repräsentationen ist vitaler als das Erlebte. „Politics of Representation" könnte
man im Anschluss an Victor Burgin (1982) diese Form der medialen Inszenierung
nennen und zugleich unterstreichen, dass Fotos alles andere als ein „Fenster zur
Welt" (vgl. Burgin in Wolf 2002: 25) darstellen. Vielmehr, so Burgin, gehe es
darum zu zeigen, „inwiefern die Repräsentationsmittel das Repräsentierte deter-
minieren." (26). Eine dekonstruktive Lektüre des immer stärker in den Vorder-
grund rückenden Hilfsmittels der Geschichtswissenschaft ist es, worum sich
Burgin bemüht: „Die Oberfläche des Fotos aber verbirgt nichts außer der Tatsache
der eigenen Oberflächlichkeit." (37). Wo sie doch einmal durchbrochen wird, dort
spielt sie selbstironisch auf ihren Oberflächencharakter an. So zum Beispiel in
Michael Schirners Fotomontage von Brandts Kniefall 1970 in Warschau. Das
digital bearbeitete Foto kommt ganz ohne den Protagonisten aus: Brandt fehlt auf
Schirners Foto; der leere Fleck lädt das Foto noch einmal mit Bedeutung auf,
indem es den Ikonencharakter der Darstellung und des Nicht-Dargestellten
kritisch befragt. Jean Baudrillard sprach in den Fatalen Strategien (1991) von der
„Kunst des Verschwindens". Wenn diese irgendwo geglückt sein sollte, dann am
ehesten in diesem großartigen Foto von Michael Schirner.
Copyrighted malerial
Fotografie als historische Quelle?
69
„Wir entfernen 100% von allem, was das ursprüngliche Photo bekannt gemacht
hat: den Protagonisten, das zentrale Bildmotiv, Form und Inhalt der Geschichte.
Das durch Entfernen des Bildvordergrundes entstandene »Loch« oder die
Leerstelle wird in aufwendigen Verfahren durch digitales Neumalen des Hinter-
grundes gefüllt. So entstehen ein neues Bild und ein selbständiges Werk. Ziel der
Unsichtbarmachung oder des Entfernens vom ursprünglichen Inhalt und der
wesentlichen Elemente des Bildes ist es, aus dem journalistischen Photo etwas
kategorisch Anderes zu machen..." (ebd.).
Schirner hat Roland Barthes' Idee der Punktierung gewissermaßen ins Negativ
gekehrt. Barthes sprach 1980 in „Die helle Kammer" von den empfindlichen
Stellen und Verletzungen eines Fotos. Diese nennt er „punctum" und deutet sie als
„Strich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt — und: Wurf der Würfel. Das
punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich
aber auch verwundert, trifft)." (Barthes 1989: 36). In Schirners digital bearbeiteten
Fotografien wird die Verwunderung dadurch hervorgebracht, dass der uns
eigentlich bekannte Stich (die Verwundung) ausgelöscht wird. Somit wird das
Punctum gleichwohl besonders betont — als Negativ. Wenn für Barthes das Punc-
tum etwas ist, das ihn der Fotografie etwas hinzufügen las st, so fügt Schirner dem
Bild etwas hinzu, indem er etwas weglässt.
Schirners Bildkritik — vermittelt durch das Bild selbst — ist ungewöhnlich und
neu. Textkritik am vermeintlichen Repräsentationscharakter der Fotografie kam
hingegen bereits im 19. Jahrhundert auf. Auch waren Bearbeitungen der Fotos
durchaus üblich. Nicht alle teilten Talbots Auffassung vom Zeichenstift der Natur.
70
Jürgen Nielsen-Sikora
Neben Johann Gustav Droysens Historik aus dem Jahre 1857, die kritisch auf die
Fotografie als historische Quelle blickt 5 , war es beispielsweise Peter Henry
Emerson, der Arzt und Fotograf, der Ende des 19. Jahrhunderts bemerkte, Fotos
spiegelten keinesfalls die Wahrheit einer Szene wider. Das menschliche Auge, so
Emerson, sehe nur eine Anzahl von Zeichen. Nur aus Gewohnheit würden wir
diese Zeichen „Natur" nennen. Ein wahrer Eindruck einer Szene sei nicht
erkennbar (vgl. Emerson in Stiegler: 168f.).
Unsere Sehgewohnheiten widersprechen dieser Einschätzung allerdings bis
heute, denn das Foto ist „begrifflich nicht von seinem Trägermaterial zu trennen.
Phänomenologisch schlägt sich das Foto als reines Bild nieder, und dieser Effekt
ist auch der Grund dafür, weshalb wir der Fotografie gewöhnlich den mythischen
Wert der Transparenz zuschreiben", merkt Solomon-Godeau an (in Wolf 2003:
70) und formuliert als Aufgabe, diese „encodierten und verborgenen Bedeutungen
ans Licht zu bringen, die historischen und formalen Strategien aufzudecken, die die
Herstellung, den Sinn, die Rezeption und den Gebrauch einer Arbeit determiniert
haben ..." (72). Angesichts der Bilderflut heutzutage wirkt diese Herausforderung
allerdings alles andere als einfach und kann nur im Einzelfall zum Erfolg führen,
um paradigmatisch den grundsätzlich dubitativen Charakter (Lunenfeld) von
Fotografien zu demonstrieren. Doch Zweifel am Wahrheitsgehalt von Fotografien
sind bis heute nicht üblich. Wir müssen hierbei nicht einmal Fotos zitieren, die der
damalige Außenminister der Vereinigten Staaten der Weltöffentlichkeit präsen-
tierte, um den Irak-Krieg zu rechtfertigen. Fotos, auf denen zwar nichts wirklich zu
sehen war, die aber beweisen sollten, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen
verfüge. Wir brauchen nur einmal in einige Schulbücher zu schauen und stellen
fest, wie selbst in Unterrichtsmaterialien der historische Kontext manipuliert wird.
In einer gängigen Illustration einer spartanischen Phalanx wurde der fünfte Krieger
wegretuschiert, weil er in sich zusammensackt und scheinbar nicht dem Wesen der
Phalanx entspricht. Seine Beine aber blieben erhalten, weil sie im Gewühl der
übrigen Krieger auch nicht weiter auffallen. Dass die vier Spartaner in der Bild-
mitte über zu viele Beine verfügen, stört viele Schulbuchverlage nicht.
5 Vgl. Droysen 1977.
Copyrighted material
Fotografie als historische Quelle?
71
Abb. 6: Spartanische Phalanx, der gefallene Krieger wurde wegretuschiert. Nur
seine Beine sind noch am Platz. Forum Geschichte (Cornelsen), Bd. 1, 2005: 89.
Es sind solche durch Manipulation hervorgerufene Bedeutungsverschiebungen, die
im Rahmen einer Quellenanalyse in erster Linie in den Blick genommen werden
müssen. In den Blick nehmen bedeutet, dass das betrogene Auge fähig ist, den
Trug zu entlarven. Eine reflexiv-kritische Lektüre visueller Texte kann den über die
Fotografie vermittelten Schein der Dinge wieder ins rechte Licht rücken. Den
falschen Schein erkennen, der sich nicht nur in gemorphten, gefilterten, weich
gezeichneten, gespiegelten, invertierten, gedrehten, gestreckten, kolorierten oder
gerasterten Bildern, sondern in ausnahmslos jedem Foto wieder findet, kann nur,
wer die Augen ein weiteres Mal bemüht, genauer hinzusehen und Textinforma-
tionen hinzuzieht. Denn die Kamera setzt zunächst alles gleich und ebnet die
Bedeutungen ein. Sie hat, wie Susan Sontag zu Recht konstatiert, eine „chronisch
voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen." (Sontag, a.a.O.: 286).
Andererseits kann sie Dinge sichtbar machen, die für das bloße Auge
unsichtbar sind. Denken wir nur an eine Torkamera, an das Zielfoto bei einem 100
Meter-Sprint und an andere Bewegungsabläufe, die mittels Fotografie exakter zu
studieren sind, weil sie die Welt für den Bruchteil einer Sekunde einzufrieren
vermögen und, wie Jean Baudrillard skizziert, „das Überstürzen der Ereignisse"
unterbrechen (a.a.O., 56). Doch diese Ereignisse müssen zuvor definiert worden
sein: Wembley, Olympische Spiele, 11. September etc. Erst nach ihrer Definition
und der Festlegung ihres Status im Kontext der Bilderpolitik können Fotos eine
Kontrolle über unsere Erinnerungen ausüben: Nine-Eleven wird sodann zum
Synonym für die ewige Wiederkunft des Bildes von Flug 175 der United Airlines.
72
Jürgen Nielsen-Sikora
Wie Georges Salles meint, ist die Erinnerung ein „geheimnisvolles Auge", das
„wiederkäut". (Salles 2001: 48).
Abb. 7: Wembley-Tor 1966: Fotografie als (Gegen-) Beweis?
3 Didaktische Aspekte und Fazit
Der Mensch ist dieses Wesen, das seine inneren Bilder stets wiederkäut und
versucht ist, über dieses Wiederkäuen eine Kontrolle über die Vergangenheit zu
erlangen. Sich der Geschichte zu vergewissern über die Bilder, die wir von ihr
besitzen, sie in der Gegenwart wieder aufblitzen zu lassen, daran scheint kein Weg
vorbei zu führen, sucht der Mensch in seiner Gegenwart Orientierung. Nicht
zuletzt gilt dies für Erinnerungen an sein eigenes, gelebtes Leben: „Ach, das war
ich, als ich so und so alt war, schau. Und hier, auf diesem Bild, bin ich mit Vater
und Mutter in Frankreich. Das hier ist der Hof meines Großvaters und auf dem
nächsten Bild ..." Ohne die Fotografien gäbe es diese Erinnerung nicht; nicht in
der Form. Die Bilder prägen unsere Erinnerung an die Vergangenheit, die wir
durch ihre Brille lesen: Habe ich das wirklich so erlebt, oder erlebe ich das jetzt nur
so, weil ich mir dieses Foto nach Jahren wieder anschaue? Kann ich mich nur
erinnern, weil ich dieses Bild von der Vergangenheit in Händen halte? „Die Foto-
grafie befreit . . . die bildhaften Erinnerungen aus ihrer absoluten Isolation, indem
Fotografie als historische Quelle?
73
sie über ein Foto kommunizierbar werden" schreibt der Kölner Psychologe Martin
Schuster (a.a.O.: 17). In der Fotografie sieht er ein technisches Instrument, das die
Möglichkeiten unserer Denkgewohnheiten selbst verändere und zur Bewusstseins-
erweiterung beisteuere. Noch stärker als die Erinnerung an bestimmte Personen sei
allerdings die Erinnerung, die fotografierte Dinge übermittelten (ebd.: 76): Der
Teddy, mit dem man früher gekuschelt, das Auto, das man einst gefahren, oder das
Zimmer, das man vor langer Zeit bewohnt habe. Dem pflichtet auch Pierre
Bourdieu bei, indem er fragt: „Was ist realer und der Realität getreuer als eine
Photographie? Was ist beruhigender und deutlicher? Und zwar derart, dass die
Photographien einen zur Verzweiflung bringen: Wenn es regnet, wozu sollte man
sagen, dass es regnet?" (Pierre Bourdieu, zitiert nach: Brohm 2009: 197).
Abb. 8: Waren wir das damals auf diesem Bild? Erinnern wir uns an die Situation
auf Grund des Fotos? Konservieren wir darin unsere Erinnerung? (Der 1. Schultag,
© Verfasser 2010)
Ziehen wir ein Fazit unserer Überlegungen. Wir haben feststellen müssen, dass
eine Fotografie unkommentiert niemals ein Zitat der Wirklichkeit sein kann. Sie ist
insofern als Quelle, die etwas über die Wirklichkeit der Geschichte aussagt,
zunächst ungeeignet. Die Fotografie, sagt Jean Baudrillard, sei „unser Exorzismus.
Die primitive Gesellschaft hatte ihre Masken, die bürgerliche Gesellschaft ihre
Spiegel. Wir haben unsere Bilder . . . Durch das Bild erzwingt die Welt ihre Dis-
kontinuität, ihre Zerstückelung, ihre künstliche Augenblicklichkeit." (Baudrillard in
Stiegler, a.a.O.: 50£). Allerdings scheint die Fotografie als Quelle, die etwas über
die Wirklichkeit der Blickpunkte in der Vergangenheit und Gegenwart aussagt,
geeignet, ihren Beitrag im Rahmen historischer Forschung zu leisten. Denn sie
74
Jürgen Nielsen-Sikora
vermittelt subjektive Sichtweisen und ihre Veränderungen (vgl. Warnke et al.
2011). Darin liegt jedoch auch die einzige Legitimation der Verwendung von Foto-
grafien als historische Quelle. Nicht das dargestellte Geschehen als solches,
sondern allenthalben die Ordnung der Blicke (vgl. Reich 1998) auf das Ereignis ist
es wert, untersucht zu werden. Darüber hinaus beeinflussen Fotografien unsere
Erinnerungen. Manche Ereignisse werden nur deshalb in Erinnerung behalten,
weil sie durch das Betrachten eines Fotos mehrmals als Erinnerungsbild
reproduziert werden: Das Foto nimmt den Platz der realen Situation ein. Hierbei
eröffnet das, was Roland Barthes (1980/89) das Punctum der Fotografie genannt
hat, die Stelle im Bild, die uns zur Verwunderung, zum Staunen bringt, neue
Zugänge zur (eigenen) Geschichte. Denn Fotos verändern Sehgewohnheiten.
Diese Veränderungen im „kollektiven Bildbewusstsein" (Schuster) müssen
thematisiert werden. Nehmen wir das seit den Griechen so oft beschworene
Staunen über die Bilder der Welt einmal mehr zum Anlas s, um auch und vor allem
im Geschichtsunterricht die Frage nach dem Menschen und den Bildern, die er
sich von sich selbst macht, nachzugehen.
Literatur
Aristoteles (1883): Sophistische Widerlegungen. Übersetzt von J. H. von Kirchmann,
Heidelberg: Georg Weiss.
Barthes, Roland (2006): Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays. Frankfurt/Main:
Suhrkamp. (Original 1977).
Barthes, Roland (1989): Die helle Kammer. Bemerkungen %ur -Photographie.
Frankfurt/Main: Suhrkamp. (Original 1980).
Baudrillard, Jean (1991): Die fatalen Strategien. Berlin: Matthes & Seitz.
Benjamin, Walter (2010): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-
duzierbar -keit. Frankfurt/Main: Suhrkamp. (Original 1935).
Blell, Gabriele (2010): Der Leser als „Grenzgänger": Entwicklung intermedialer
Lese- und Sehkompetenzen. In: Hecke; Surkamp (2010), S. 94-109.
Blumenberg, Hans (2006): Beschreibung des Menschen. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre (2009): L'image de l'image. Zitiert nach: Holger Brohm: Dia-
gramm und Fotografie als Praxis des Visuellen. Pierre Bourdieu (1930-2002).
In: Jörg Probst; Jost Philipp Klenner (Hrsg.): Ideengeschichte der Biowissenschaft.
Siebzehn Porträts. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 197-213.
Burgin, Victor (1982): Thinking Photography. London: Macmillan Education.
Droysen (1977): Historik. Historisch- kritische Ausgabe. Hg. von Peter Leyh. Stuttgart-
Bad Cannstadt: Fromann-Holzboog. (Original 1857).
Copyrighted malerial
Fotografie als historische Quelle?
75
Flusser, Vilem (2007): Kommunikologie. Frankfurt/Main: Fischer.
Greiner, Bernd (2009): Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburg: Ham-
burger Edition.
Hecke, Carola; Surkamp, Carola (Hrsg.) (2010): Einleitung: Zur Theorie und
Geschichte des Bildeinsatzes im Fremdsprachenunterricht. In: Dies.: Bilder im
Fremdsprachenunterricht. Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden. Tübingen: Narr,
S. 9-24.
Jäger, Jens (2009): Fotografie und Geschichte. Frankfurt/Main: Campus.
Kant, Immanuel (1998): Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Jens Timmermann.
Hamburg: Meiner. (Original 1781).
Klages, Ludwig (1982): Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck. Bonn: Bouvier.
(Original 1935).
Paul, Gerhard (Hrsg.) (2008/9): Das Jahrhundert der Bilder. 2 Bände. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht.
Piaton (1988): Der Staat, übersetzt von Otto Apelt. Hamburg: Meiner.
Plessner, Helmuth (1978): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die
philosophische Anthropologie. Berlin: de Gruyter. (Original 1928).
Reich, Kersten (1998): Die Ordnung der Blicke. 2 Bände. Neuwied: Luchterhand.
Salles, Georges (2001): Der Blick. Berlin: Vorwerk 8. (Original 1939).
Sartre, Jean-Paul (1993): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen
Ontologie. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. (Original 1943).
Schuster, Martin (1996): Fotopsjchologie. Fächeln für die Ewigkeit. Berlin und Heidel-
berg: Springer.
Solomon-Godeau, Abigail (2003): Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentar-
fotografie. In: Wolf (Hrsg.) (2002): 53-74.
Stiegler, Bernd (2010): Fexte ^urFheorie der Fotografie. Reclam: Ditzingen.
Tucholsky, Kurt alias Peter Panter (1926): Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
In: Uhu 2, November 1926: 75.
Warnke, Martin; Fleckner, Uwe; Ziegler, Hendrik (Hrsg.) (2011): Handbuch der
politischen Ikonografie. 2 Bände. München: C.H. Beck.
Wolf, Herta (Hrsg.) (2002): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen
Zeitalters. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Wolf, Herta (Hrsg.) (2003): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen
Zeitalters. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Copyrighted malerial
Copyrighted malerial
Der Film als historische Quelle
Wolfgang Koller
Während der Vorstellung [...] verließen viele Zuschauer fluchtartig das Lokal. ,Das ist ja nicht
%um Aushalten', ertönte es hinter mir; und: ,Wie darf man uns so etwas bieten!' (Siegfried
Kracauer, Frankfurter Zeitung, 27.5.1930)
Am 23. Mai 1930 läuft in Berlin der Spielfilm „Westfront 1918" an, der erste deut-
sche Tonfilm über den Ersten Weltkrieg (1914-1918). Auf neuartige Weise trans-
portiert er Sinneseindrücke auf Ton- und Bildebene vom Kriegsgeschehen, vom
Geknatter der Maschinengewehre bis zur Naheinstellung der Todesangst und des
Sterbens. Die Regiearbeit von G. W. Pabst führt wegen seiner realitätsnahen und
schonungslosen Schilderungen der Kriegsgräuel und der physischen und psychi-
schen Zerstörung von Menschen zu heftigen Reaktionen. Kritiker empören sich
über die unzumutbare Ausschlachtung der Grausamkeit und die vermittelte Anti-
kriegsbotschaft — in ihren Augen ein Hohn für die soldatische Pflichterfüllung und
Opferbereitschaft von Millionen von Frontsoldaten. Andere begrüßen, dass gerade
die ausgereifte Technik des Filmmediums erst Krieg in seiner ganzen Unmensch-
lichkeit vor Augen führen und ein Umdenken in der Gesellschaft bewirken könne
(vgl. Kester 2003: 147-160). Trotz oder gerade wegen der nervlichen Belastung, die
„Westfront 1918" dem Zuschauer offenkundig abverlangt, wird er einer der größ-
ten Kassenerfolge des Jahres. 1 Es ist die Zeit, als um die Deutung des wenige Jahre
zuvor verlorenen Ersten Weltkriegs mit rund zwei Millionen gefallenen Deutschen
1 Dies geht aus einer Umfrage der Fachzeitschrift Film-Kurier unter Kinobesitzern hervor (Film-
Kurier vom 23. Mai 1931).
Copyrighted malerial
78
Wolfgang Koller
heftigste Auseinandersetzungen toben. Filme wie „Westfront 1918" oder die US-
Produktion „Im Westen nichts Neues" (im Original: „All Quiet on the Western
Front", Regie: Lewis Milestone) sieben Monate später ziehen den Sinn des Krieges
und des Sterbens für das „höhere Ziel des Vaterlandes" in Zweifel, während die
Mehrzahl der zeitgenössischen Kriegsfilme das Heldentum der Frontkämpfer
beschwört.
Die Weltkriegs filme jener Jahre liefern ein eindrückliches Beispiel dafür, wie
die Bilder, die über die Kinoleinwände flimmern und wie die Geschichten, die sie
erzählen, die Menschen ihrer Zeit bewegen können. Sie geben zugleich der Nach-
welt Auskunft, welche Fragen die Zeitgenossen sich stellen und welche Vorstel-
lungen und Argumentationen kursieren. Filme ziehen Menschen seit Beginn des
20. Jahrhunderts in ihren Bann und erreichen schon früh ein Millionenpublikum.
Bald wird dieses Medium kultisch verehrt und zur liebgewordenen Gewohnheit, zu
einem imaginären Zufluchtsort vor den täglichen Sorgen, aber ebenso zum Aus-
tragungsort weltanschaulicher Grabenkämpfe. Filme bieten den Zuschauern Vor-
bilder und Gegenbilder dar, provozieren und bestätigen, klären ebenso auf wie sie
manipulieren.
In der Geschichtswissenschaft ist heute weitgehend unbestritten, dass Filme
eine wertvolle Quelle darstellen, um die Lebenswelten der Menschen im 20. und
beginnenden 21. Jahrhundert zu erforschen. Bis dieses Medium allerdings als
Untersuchungsgegenstand für Historiker breite Akzeptanz findet, vergehen Jahr-
zehnte. Dieser Prozess der Anerkennung von Filmen als historische Quellen lässt
sich vor allem auf zwei grundlegende Fragen reduzieren, um die die Diskussionen
kreisen. Eine betrifft ihre Aussagekraft: Sind Filme von geschichtswissenschaft-
licher Bedeutung, bzw. worüber geben sie Auskunft? Die andere betrifft ihre
Qualität als historische Quelle: Wie sind Filme zu untersuchen? Wie kann man
über Filme schreiben? Die folgenden Seiten werden entlang dieser Fragen die Ent-
wicklung der Filmhistoriographie aufzeigen und zentrale Forschungsfelder
präsentieren.
1 Abbilder der Wirklichkeit oder Illusionsfabrik?
Als die Brüder Lumiere 1 895 ihre ersten Filme vorführen, sind es Aufnahmen von
Arbeitern beim Verlassen der Lumiere- Werke oder von der Ankunft eines Zuges
auf dem Bahnhof in La Ciotat. Technisch ist es nun möglich — das wollen die bei-
den Filmpioniere verdeutlichen — , nicht nur wie in der Malerei oder der Fotografie
Augenblicke einzufangen, sondern das Leben in seiner natürlichen Bewegtheit.
Entsprechende Hoffnungen weckt das neue Medium, dass künftig die Wirklichkeit
für die Nachwelt speicherbar sei. Die folgenden Jahrzehnte führen indes vor
Augen, dass das filmische Potential, Illusionen zu schaffen, schier unendlich ist -
und letztlich dem fiktionalen Spielfilm zum Siegeszug verhilft. Ebenso groß scheint
damals die Bereitschaft von Filmemachern, dieses Potential einzusetzen, um als
Copyrighted malerial
Der Film als historische Quelle
79
real zu deklarieren, was kunstvoll arrangiert ist. Die anfänglichen Hoffnungen
weichen der Ernüchterung: Auch „dokumentarische Filme" bilden die Wirklichkeit
nicht tatsächlich ab, sondern lassen vielmehr authentisch wirkende Welten ent-
stehen.
Dieser Umstand mag die Jahrzehnte währende Skepsis der Historikerzunft
dem Film gegenüber erklären. Entziehen sich dokumentarische Filme doch einer
klaren Einordnung im Sinne der klassischen Quellenbewertung: als Überrest, also
einer nicht bewusst für spätere Generationen hergestellten Quelle, oder als bewusst
an die Zeitgenossen und die Nachwelt gerichteten Traditionsquelle. Fiktionale Filme
scheinen unter diesem Gesichtspunkt erst recht keinen Mehrwert in der Frage zu
Hefern, „wie es eigentlich gewesen" ist (Leopold von Ranke) zu Zeiten ihrer Ent-
stehung. 2
Zur Einschätzung, dass Filme wertvolle neue Aussagen über die Gesellschaft
liefern, gelangt als einer der ersten der Kritiker und Soziologe Siegfried Kracauer in
seiner 1947 veröffentlichten Studie „From Caligari to Hiüer". Er durchleuchtet das
Filmschaffen der Weimarer Republik auf kollektive „psychologische Grund-
muster" der Deutschen und macht darin autoritäre Dispositionen ausfindig, die
Hitler den Weg zur Macht erleichtert hätten (Kracauer 1947: 14). 3 Kracauers Werk
ist längst ein Klassiker, nicht aufgrund der umstrittenen und zweifelhaften Thesen,
sondern als Inspirationsquelle für die Filmsoziologie und Filmhistoriographie. 4
Filme liefern Informationen über die Gesellschaft, in der sie entstehen - oftmals
mehr implizit als über den konkreten inhaltlichen Realitätsbezug. Das trifft auf
fiktionale wie nichtfiktionale Produktionen zu, auf Verfilmungen historischer
Ereignisse wie das eingangs erwähnte Beispiel ebenso wie auf animierte Phantasie-
welten.
2 Cultural Turn
Die Debatte um die Anerkennung des Films in der Historiographie setzt jedoch
erst in den 1960er Jahren ernsthaft ein. Vorreiter ist hier die französische
Geschichtswissenschaft. 1961 findet ein Beitrag des Filmessayisten Georges Sadoul
über Filme als historische Quelle Eingang in den Sammelband „L'Histoire et ses
methodes" (Samaran 1961). Wesentlich zur Etablierung trägt schließlich Marc
Ferro bei. Ihm zufolge sind fiktionale wie nicht fiktionale Filme gleichermaßen
bedeutsame Zeugnisse für Historiker, ist das Stattgefundene und das nicht Statt-
gefundene gleichermaßen Geschichte. Er begründet dies mit dem Argument, Filme
2 Zur Diskussion und Entwicklungsgeschichte des Films als historische Quelle sind unter anderem
erschienen: Heiß 2006; Riederer 2003; Aurich 1995; Pithon 1995; Heß 1986.
3 Den wesentlich plausibleren Weg geht das kürzlich erschienene Buch von Kaes 2009. Auch Kaes
folgt den Spuren des Unbewussten im Weimarer Kino, erklärt die Filme allerdings über die
Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg.
4 Die Filmsoziologin der ersten Stunde ist Emilie Altenloh mit ihrer Doktorarbeit 1913 über die
Soziologie des Kinos (Altenloh 1914).
Copyrighted malerial
80
Wolfgang Koller
erlaubten einen Blick unter die Oberfläche der Gesellschaft auf ihre „Überzeu-
gungen, die Intentionen, das Imaginäre des Menschen" (Ferro 2 1987: 254). 5
Ferro wie eine zunehmende Zahl von Wissenschaftlern seiner Generation sind
überzeugt, dass den bewegten Bildern zeitgenössische Mentalitäten und Wahrneh-
mungen eingeschrieben sind. 6 An einem Film sind Drehbuchautoren, Produzen-
ten, Regisseure, Kameraleute, Darsteller, Techniker und zahlreiche weitere Perso-
nen beteiligt. Aufgrund dieses kollektiven Herstellungsprozesses, aber auch, weil
die Beteiligten zumeist angehalten sind, sich aus Absatzgründen am Geschmack
der Mehrheit zu orientieren, können Filme repräsentative zeitgenössische Aus-
drucksformen beinhalten. Darüber hinaus wirkt dieses Massenmedium durch
seinen enormen Verbreitungsgrad wiederum in die Gesellschaft hinein. Es beein-
flusst tagtäglich die Lebenswelt unzähliger Menschen. Bereits 1914 werden bei-
spielsweise in Großbritannien 360 Millionen Karten in den landesweit 5.000 Kinos
verkauft (vgl. Hiley 1999: 39-53). Das Inselkönigreich verfügt damals über die
beste Infrastruktur, aber längst wird die Kinematographie auch auf dem euro-
päischen Kontinent und in Nordamerika zum Massenphänomen. In den folgenden
Jahrzehnten legen die Zuschauerzahlen noch deutlich zu, bis ab den späten
1950ern langsam das Fernsehen dem Kino Konkurrenz macht.
Die Forschung an Filmen als historischen Dokumenten lässt Rückschlüsse auf
verbreitete Mentalitäten, Stereotypen oder Geschichtsbilder zu. Die Analyse des
Entstehungsprozesses kann die medienpolitischen Machtverhältnisse und Motiv-
lagen der Akteure aufdecken. 7 Doch was ist mit dem Publikum? Kino steht bei-
spielsweise für Abendunterhaltung vor der Leinwand. Darüber hinaus versorgen
Fach- und Fanzeitschriften ebenso wie Tageszeitungen in ihren Filmrubriken eine
millionenschwere Leserschaft, die das neue Programm studiert oder Anteil am
Leben der Filmstars nimmt. Die Analyse der Kinokultur gibt also Aufschluss über
Alltagsgewohnheiten und -Vorlieben, über die Spuren, die die „laufenden Bilder" in
einer Gesellschaft hinterlassen.
Dass diese verschiedenen Aspekte seit den 1970er Jahren von Historikerseite
vermehrt unter die Lupe genommen werden, verdanken wir einem grundlegenden
Perspektivwechsel, der oft mit dem Schlagwort „Cultural Turn" umschrieben wird.
Das Blickfeld, das bis dahin die politische und die Sozialgeschichte umfasst, er-
weitert sich zunehmend um die Kultur- und Alltagsgeschichte. Das führt zu einer
größeren Offenheit für neue, bisher vernachlässigte Quellen wie den Film. 8 Das
wissenschaftliche Hantieren mit Filmen setzt allerdings die Entwicklung einer dem
Medium angemessenen historisch-kritischen Methode voraus.
5 Zu Ferros wichtigsten Arbeiten gehört Ferro 1977.
6 Erwähnt sei hier nur Monaco 1973.
Für die deutsche Filmproduktion im Nationalsozialismus erforscht dies beispielsweise Albrecht
1969.
8 Zum kulturgeschichtlichen Wert von Filmen vgl. Kaes 1992.
Copyrighted malerial
Der Film als historische Quelle
81
3 Wie „übersetzt" man einen Film?
Die Nichtschriftlichkeit des Films stellt gewiss einen weiteren wesentlichen Grund
für seine lange Vernachlässigung dar. Wie geht man quellenkritisch an einen Film
heran? Wie kann ein Bewegtbild in Textform analysiert, also „übersetzt" werden?
Dem schreibenden und für gewöhnlich lesenden Wissenschaftler bieten sich
viele Möglichkeiten des Scheiterns. So erweist sich der Versuch, die Leinwand-
bilder vollständig zu beschreiben und zu analysieren, beispielsweise von der Farbe
und dem Faltenwurf des Kleides der Protagonistin, der sich langsam veränderten
Mimik und Gestik, der musikalischen Untermalung der Szene, den auf- und ab-
tretenden Figuren im Hintergrund bis zum Wolkenspiel am Himmel als völlig un-
praktikabel. Kein Text kann die Facetten eines Films in toto adäquat wiedergeben.
Durch den Medientransfer und die erforderliche Dekodierung eines Zeichen-
systems in ein anderes schafft jede Rede über den Film wieder eine andere, eigene
Geschichte. Zu akzeptieren, dass mit der Überführung des Films in einen Text
notwendigerweise eine Reduktion und Verfremdung der analysierten Quelle
einhergeht, ist also ebenso Voraussetzung wie ein profundes Wissen über die
verschiedenen Wirkungsmechanismen des Mediums (vgl. Lagny; Sorlin 1991: 111-
128).
Filme weisen meist eine ähnliche Erzählstruktur wie Romane auf. Die fest-
gelegte Anordnung von Bildern und Worten entscheidet darüber, welche Empfin-
dungen, z.B. Spannung, ausgelöst und welche Kausalitäten hergestellt werden. Der
Film arbeitet, ähnlich wie die Malerei oder Fotografie, mit ikonographischen Ver-
dichtungen und schafft „Sinnbilder", Metaphern und Symbole. Ahnlich wie im
Theater agieren Schauspieler in unterschiedlichen Rollen in einer Figurenkonstel-
lation. Filme weisen demnach Überschneidungen zu anderen Medien auf. Sie
konstituieren aber auch eine ganz eigentümlich filmische Welt aus der Kamera-
perspektive, der Kamerabewegung im Raum und der Kombination der Kamera-
einstellungen — im Wesentlichen umschrieben durch die Begriffe „Mise en Scene"
und „Montage". Aus diesen Grundprinzipien und Techniken, wie Filme ihre In-
halte vermitteln, lassen sich methodische Grundlagen der Filmanalyse ableiten. Die
Geschichtswissenschaft profitiert hier enorm von den Erkenntnissen anderer Dis-
ziplinen, insbesondere der Semiotik, der Narratologie und der Film- und Medien-
wissenschaft. 9
Der Blick über den historiographisch-disziplinären Tellerrand ist auch hilf-
reich, wenn es um methodische Ansätze zur Untersuchung des filmischen
Kontextes geht. Dies betrifft die Produktionsgeschichte, die Einflussfaktoren für
die Filmentstehung, aber auch ihre zeitgenössische Aufnahme durch die Presse
und das Publikum. Presserezensionen sind leider oftmals die einzigen Relikte, die
heute noch ermöglichen, die einstige Wirkung beim Publikum einzuschätzen. In
9 Zu den zentralen Werken über den Film zählen: Wollen 1972; Metz 1973; Branigan 1984; Bordwell
1985; Deleuze 1989; Deleuze 1991; Eder 2008. Eine Einführung in die Filmanalyse geben u.a.:
Kanzog 2001; Bordwell; Thompson 2003; Faulstich 2 2008; Monaco 2009.
Copyrighted malerial
82
Wolfgang Koller
Fragen der Kontextuierung erweisen sich besonders die Erkenntnisse der
poststrukturalistischen Literatur- und Medienwissenschaft als gewinnbringend und
inspirierend für die Herausbildung einer historiographischen Filmforschung. 10
Filme werden angeregt und beeinflusst von anderen Filmen, literarischen Werken,
Deutungsmustern der Vergangenheit und der zeitgenössischen Welt, von
ökonomischen und künstlerischen Motiven. Sie sind an finanzielle und technisch-
industrielle Voraussetzungen geknüpft. Und sie hinterlassen ihrerseits Spuren in
anderen Medienerzeugnissen oder im öffentlichen Diskurs.
Ein Beispiel: Der berüchtigte antisemitische Spielfilm „Jud Süß" (Regie: Veit
Harlan, 1940) entstand im Auftrag des NS-Propagandaministers Josef Goebbels im
Zuge der verschärften medialen Mobilmachung gegen Juden — man denke nur an
die zeitgleich anlaufende, ebenso berüchtigte „dokumentarische" Produktion von
Fritz Hippler namens „Der ewige Jude". „Jud Süß" war aber auch eine späte Reak-
tion der Nazis auf den 1934 von deutschen Exilanten in Großbritannien gedrehten
Spielfilm „Jew Süss" (Regie: Lothar Mendes). Beide Filme gehen auf die historisch
verbürgte Person Josef Süß Oppenheimer (1698-1738) zurück. Aus einer jüdischen
Kaufmanns familie stammend stieg er bis zum einflussreichen Finanzrat des Her-
zogs von Württemberg auf, was für einen Juden der damaligen Zeit einzigartig war.
Spannungen zwischen dem absolutistisch herrschenden Landesfürsten und den
Landständen sowie aufgestaute Ressentiments gegen den Emporkömmling
entluden sich nach dem plötzlichen Tod des Herzogs an Süß Oppenheimer, der
unter Vorwürfen wie Bestechung und Jungfrauenschändung verhaftet und hin-
gerichtet wurde. Sein Schicksal wurde mehrfach literarisch verarbeitet, allerdings
auf sehr unterschiedliche Weise. Erste antisemitische Schriften über den Fall
erschienen noch im Jahr der Hinrichtung. Bekannt wurde dann Wilhelm Hauffs
Novelle „Jud Süß" aus dem Jahr 1868, die sich auf diese Rezeptionstradition stützt.
Einen völlig anderen Akzent setzte Lion Feuchtwanger mit seinem gleichnamigen
Roman von 1925. Zeichnet die eine Seite das Bild des habgierigen Ränkeschmieds,
begreift ihn Feuchtwanger als Sündenbock. Feuchtwangers Roman inspirierte
Lothar Mendes zur „Jew Süss"-Produktion von 1934, der damit indirekt auch die
Judenverfolgung unter den Nazis anklagt. Goebbels' Replik von 1940 greift
hingegen wieder tief in die Kiste überlieferter Schmähungen und transferierte
damit auch die antisemitische Geschichte Süß Oppenheimers auf die Leinwand
(vgl. Hollstein 1971).
111 Zur Rezeptionsforschung vgl. Turner 1998; Moores 1990. Mit intertextuellen Aspekten beschäftigt
sich Bennett; Woollacott 1987. Einen guten Uberblick über die verschiedenen interdisziplinären
Ansätze der Filmanalyse gibt Winter 1992. Auf Seiten der geschichtswissenschaftlichen Filmanalyse
sind insbesondere zu nennen: Elsaesser; Buckland 2002; Körte 1999; Bock 1997; Lagny 1992; Staiger
1992.
Copyrighted malerial
Der Film als historische Quelle
83
4 Vom einzelnen Filmwerk zum Mainstream-Filmprogramm
An den „Jud Süß"-Verfilmungen zeigt sich exemplarisch die intertextuelle und
intermediale Verflechtung von zwei Kinoproduktionen. Das Problem solcher
Einzelstudien ist aber, dass sie nur geringe Aussagekraft für das Kino einer Zeit
und seine gesellschaftlichen Einprägungen haben. Steht in früheren filmhisto-
rischen Arbeiten oftmals ein Kanon meist künstlerisch bedeutsamer oder häufig
zitierter Werke im Vordergrund, oder durchleuchten Wissenschaftler wie Marc
Ferro (vgl. Ferro 1987) Filme, die enthüllen sollen, was die offizielle und staatlich
protegierte Geschichtsschreibung verdeckt, fokussieren neuere kulturwissenschaft-
liche Ansätze hingegen gerade die breite Masse der Standardware. Die Populär-
kultur wird zunehmend zum Untersuchungsgegenstand. 11 Im Gegensatz zu den
subversiven Ausnahmeproduktionen, Propagandamachwerken oder künstlerischen
Highlights wandelt das Gros der Filmschaffenden auf den ausgetretenen Pfaden
von Klischees und Wertekonventionen. Die Durchschnittsfilme werden oft in
Serie gefertigt. Sie orientieren sich am Bekannten, an kommerziell bewähren
Erfolgsrezepten, beliebten Genremustern und Themen. 12
Genres entstehen, weil sie auf eine Art und Weise wiederholen, was besonders
nachgefragt wird. Sie sind das Ergebnis eines Wechselspiels aus kreativen
Impulsen, Produktion nach Schema und Reaktion an den Kinokassen. Für die
Filmanalyse ist hier vor allem der kinematographische und gesellschaftliche
Zusammenhang interessant. Warum ist ein Thema oder Genre zu einer bestimm-
ten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft so beliebt? Ein Beispiel aus dem TV-
Bereich: In den 1960er Jahren kommen Science-Fiction-Serien wie „Raum-
patrouille" (Deutschland) und „Star Trek" (USA) auf. Aufschlussreich ist schon
der Blick auf Modegeschmack, Gesten oder Rollenverhalten, die mittlerweile in die
Jahre gekommen und insofern „historisierbar" sind. Dies an einzelnen Folgen zu
erörtern wäre auch ein praktisches Anwendungsgebiet für DaF bereits in den unte-
ren Lernstufen. In höheren Niveaus könnten sich weitergehende Fragen an-
schließen, z.B. nach den zum Ausdruck kommenden damaligen Zukunftserwar-
tungen in der westlichen Welt angesichts des wahrgenommenen Fortschritts, etwa
des Apollo-Raum fahrtprojekts, des Sprungs in der Waffentechnik durch die
Erfindung der Kernwaffen oder der Entwicklung des Computers.
Mainstream-Filme lassen aufgrund ihrer Vielzahl und ihres Zuspruchs beim
Publikum Rückschlüsse sowohl auf landläufige Einstellungen und populäres
Gedankengut wie auf mehrheitliche Sehgewohnheiten zu. Je nach Art des Zugangs
fördern Untersuchungen Neues zu Tage, beispielsweise über das Filmstar-Phäno-
men, die in Kino und Fernsehen favorisierten Eigenschaften und Stereotypen von
Filmhelden oder über die Ausformungen des Persönlichkeits kults im Medien-
geschäft (vgl. Dyer 1979; Ascheid 2003). Ein bedeutendes Untersuchungsfeld
11 Einen solchen Ansatz wählt beispielsweise Stiasny 2009. Darin untersucht der Autor, welche
Spuren der Erste Weltkrieg im populären Kino der Weimarer Republik hinterlassen hat.
12 Zu Genreaspekten vgl. Moine 2005; Koebner 2003; Seeßlen 1995; Landy 1991.
Copyrighted malerial
84
Wolfgang Koller
markieren die Geschlechtervorstellungen, die Filme transportieren. Die Gender-
Forschung hat auf diesem Gebiet interessante Erkenntnisse z.B. zur männlich
dominierten Wahrnehmungsperspektive in Filmen hervorgebracht (Kaplan 1997;
Mulvey 1985). Zunehmend stehen hier geschlechtlich ebenso wie ethnisch und
sozial konstruierte Differenzen und Identitätsentwürfe im Fokus der Studien. 13
Wie entwerfen Filme Idealbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit? So wieder-
holt sich z.B. im Western häufig das Handlungsschema, dass der männliche Held
als Einzelkämpfer die Grenze der Zivilisation überschreitet, räumlich wie im
sozialen Gefüge, um letztlich seine Männlichkeit neu zu beweisen (vgl. Weidinger
2006).
Gegenstand vieler historiographischer Filmuntersuchungen ist die Konstruk-
tion kollektiver, meist nationaler Identitäten und Alteritäten. 14 Überschneidungen
gibt es hier vor allem zum Forschungsfeld der historischen Mythen, Geschichts-
deutungen und Erinnerungskulturen. 15 Historienfilme beeinflussen allein schon
durch die Breitenwirkung des Mediums die kollektiven Geschichtsbilder und Erin-
nerungskulturen in Gesellschaften. Dieser Umstand macht sie für die Forschung
so interessant. Was sagen beispielsweise Spielfilme wie „Der Name der Rose"
(Regie: Jean-Jacques Annaud, 1986) über unser Bild vom Mittelalter am Ende des
20. Jahrhunderts? Kinogroßproduktionen früherer Jahrzehnte setzen noch eher die
höfische Kultur und den ritterlichen Edelmut in Szene. Hier sehen wir hingegen,
wie Menschen in Schmutz und Elend vegetieren. Das Mittelalter erscheint uns als
eine von Entbehrung, religiösem Fanatismus und Aberglaube gebeutelte Zeit.
Bedeutende Arbeiten sind in den letzten Jahrzehnten auch zur Geschichte der
ökonomischen und organisatorisch-rechtlichen Rahmenbedingungen des Kinos
entstanden. Dies betrifft die Film Wirtschaft/ Filmindustrie, Konzernstrukturen,
Studios und ihre Finanzierung. Oftmals nicht davon zu trennen sind die häufigen
politischen Interventionen in das Filmwesen - ein Bereich, der verhältnismäßig gut
aufgearbeitet ist. 16 Ähnliches gilt für die staatliche Filmgesetzgebung und Zensur-
politik. 17
5 Quo vadis Filmgeschichte?
Die Filmgeschichtsschreibung ist heute stark interdisziplinär ausgerichtet und unter
vielfältigen Fragestellungen für die Geschichtswissenschaft von Nutzen. So ent-
13 Unter den zahlreichen Filmstudien der Genderforschung vgl. unter anderem Babington; Davies
Powrie 2004. Benshoff; Griffin 2009.
14 Zu diesem Forschungsgegenstand sind insbesondere zu nennen: McLaughlin 2010; Nagl 2009
Rother 1998.
15 Hierzu sind erschienen: Koller (in Vorbereitung); Braun 2010; Noack 2010; Erll; Wodianka 2008
Slanicka 2007; Chiari; Rogg; Schmidt 2003; Grindon 1994.
16 Bezogen auf Deutschland sind besonders erwähnenswert: Vande; Welch 2007; Hoffmann 1996
Rentschier 1996; Drewniak 1987; Spiker 1975.
17 Zur Filmzensur vgl. Sanders 2002; Robertson 1985.
Copyrighted malerial
Der Film als historische Quelle
85
stehen zunehmend alltags- und mikrogeschichtliche wie auch sozialhistorische
Studien über kulturelle Formen und Praktiken der Kinematographie. Das Aufkom-
men der „Lichtspielhäuser" verändert Anfang des 20. Jahrhunderts das Gesicht der
Städte und den Lebensrhythmus ihrer Bewohner. 18 Filmvorführungen in den
1920er oder 1930er Jahren haben mitunter Showcharakter, brisante Themen füh-
ren zu Ausnahmezuständen und Protestaktionen im Kinosaal. 19 Das neue Medium
wird zu einem Faktor des öffentlichen Lebens. 20 Es dringt, in manchen Fällen
mittels massiver staatlicher Förderung, bis zur Jahrhundertmitte mehr und mehr in
die Nischen des Alltags ein und erfasst immer größere Bevölkerungsteile (vgl. Stahr
2001).
Gerade die historiographisch so interessante Nahtstelle zwischen dem Unter-
haltungs- und Informationsprodukt Film und der zeitgenössischen Gesellschaft ist
aber oft nur schwer sichtbar zu machen. Besonders für die erste Hälfte des 20.
Jahrhunderts stellt sich das Problem, wie aufgrund der schlechten Quellensituation
die Verbreitungsräume von Filmen oder die Publikumsstrukturen rekonstruierbar
sind. Uber solche Studien ließe sich die gesellschaftliche Relevanz differenzierter
darstellen: beispielsweise, ob es bei einem Genre oder behandelten Thema lokale,
regionale, nationale Präferenzen oder Ubereinstimmungen gab, ob es stärkeren
Anklang unter Männern oder Frauen, im Arbeiter- oder bürgerlichen Milieu fand.
Nachweise über häufige Reaktionen und Geschmacksurteile erlaubten wiederum
konkretere Rückschlüsse auf die Aneignung von Filminhalten. Erschwerend für
Untersuchungen über diesen Zeitraum kommt hinzu, dass auch ein beachtlicher
Teil der Filme selbst als verschollen gilt. Wer sich der Erforschung der Anfangs-
jahre des Films oder des Zeitalters der Weltkriege verschreibt, begibt sich auf ein
schwieriges Terrain.
Die nächsten Jahre könnten hier für Historiker einen Zuwachs der Material-
basis bringen. Zumindest besteht Anlass zur Hoffnung, bedenkt man die Möglich-
keiten der elektronischen Massenspeicherung und Volltextdigitalisierung von histo-
rischen Tageszeitungen und Fachzeitschriften, die damals beispielsweise über ört-
liche Filmprogramme berichteten und eine Auswahl der Produktionen rezensier-
ten. Viel versprechende Projekte existieren bereits jetzt, etwa die Internetplattform
zur Informations- und Dokumentensammlung über verschollene Filme namens
Lost Films. 21 Weit gediehen sind in den letzten Jahren auch die Onlineportale, zu-
meist der nationalen Filminstitute, die über die Filmdaten hinaus teilweise auch
zeitgenössische Materialien wie Zensurprotokolle, Presserezensionen und Informa-
tionsbroschüren zum Filmstart zur Verfügung stellen. 22
18 Über den frühen Kinoboom ist erschienen: Hiley 2002. Mit lokaler Kinokultur befasst sich Maier
2009.
19 Hier2u ist kürzlich erschienen: Nowak 2010.
20 Besonders interessant ist hierzu Müller; Segeberg 2008.
21 Lost Films: http://www.lost-films.eu/
22 International ausgerichtet sind die Filmdatenbanken Internet Movie Database (www.imdb.com, frei
zugänglich), und Treasures from fhe Film Archives, eine zugangsbeschränkte Datenbank der
Copyrighted malerial
86
Wolfgang Koller
Es ist zu hoffen, dass eine bessere Erschließung von Filmzeitschriften künftig
auch zu mehr Studien führt, die sich an der historischen Wirklichkeit der
Kinokultur orientieren. Nach wie vor wird allzu häufig Filmgeschichte von ihrem
Produktions- und nicht ihrem Aufführungsort her gedacht. Sich hier nur auf das
nationale Filmschaffen zu konzentrieren, verzerrt aber die historische Realität.
Bereits in den 1920er Jahren kommen in Frankreich und Großbritannien mehr US-
amerikanische Filme in die Kinos als heimische Produktionen. Auch in Deutsch-
land ist die Situation in dieser Zeit nicht grundlegend anders. Ein stark inter-
nationales Filmangebot ist für Europa wie große Teile der Welt fast zu allen Zeiten
die Regel und nicht die Ausnahme. Warum untersuchen Filmhistoriker beispiels-
weise immer noch den deutschen Film anstatt der Kinokultur in Deutschland mit
all ihren Facetten, vom Heimatfilm bis hin zum Hollywood- Western? Warum gibt
es so wenige transnationale Studien, die den filmischen Kulturtransfer über die
Landesgrenzen hinaus betrachten oder Vergleiche zwischen Regionen und
Ländern vornehmen? Ein Grund liegt in der meist staatlichen bzw. öffentlich orga-
nisierten Sammlungspolitik, so dass Wissenschaftler in Fragen der Filmsichtung
und Dokumentenrecherche vor besonderen Herausforderungen stehen. Doch die
positiven Ansätze der letzten Jahre sind unverkennbar. Sie geben Anlass zur
Hoffnung, dass Historiker der gesellschaftlichen Bedeutung, die der Film seit dem
frühen 20. Jahrhundert hat, Stück für Stück in seinen vielfältigen Ausprägungen
näher kommen.
Literatur
Albrecht, Gerd (1969): Nationalsozialistische Filmpolitik. Stuttgart: Enke.
Altenloh, Emilie (1914): Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen
Schichten ihrer Besucher. Jena: Diederichs.
Ascheid, Antje (2003): Hitler 's Heroines. Stardom and Womenhood in Na%i Germany.
Philadelphia: Temple University Press.
Aurich, Rolf (1995): Wirklichkeit ist überall. Zum historischen Quellenwert von
Spiel- und Dokumentarfilmen. In: Wilharm, Irmgard (Hrsg.) (1995): Geschichte
in Bildern. Von der Miniatur bis %um Film als historischer Quelle. Pfaffenweiler:
Centaurus, 112-128.
Babington, Bruce; Davies, Ann; Powrie, Phil (Hrsg.) (2004): The Trouble withMen:
Masculinities in European and Hollywood Cinema. London: Wallflower Press.
International Federation of Film Archives (FIAF) zu Stummfilmen. Zu französischen Filmen sind die
Datenbanken der Archives francaises du film (http:/ /www.cnc-aff.fr) und der Bibliotheque du film
(http://www.bifi.fr) empfehlenswert, zu deutschen Filmen die zentrale Internetplattform
filmportal.de sowie die Materialsammlung des Deutschen Filminstituts (http://www.deutsches-
filminstitut.de), zu britischen Filmen die Datenbanken des British Film Institute (http:-
/ / ftvdb.bfi.org.uk und http://www.screenonline.org.uk).
Copyrighted malerial
Der Film als historische Quelle
87
Bennett, Tony; Woollacott, Janet (1987): Bond and Beyond: The Political Career of a
Populär Hero. Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan.
Benshoff, Harry; Griffin, Sean (2009 [2003]): America on Film: Representing Race,
Class, Gender, and Sexuality at the Movies. Oxford: Wiley-Blackwell.
Bock, Hans-Michael (Hrsg.) (1997): Recherche: Film. Quellen und Methoden der Film-
forschung. München: Edition Text + Kritik.
Bordwell, David (1985): Narration in the Fiction Film. London: Methuen.
Bordwell, David; Thompson, Kristin (2003): Film Art: An Introduction. New York:
McGraw-Hill.
Branigan, Edward (1984): Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and
Subjectivity in Classical Film. Berlin u.a.: Mouton.
Braun, Brigitte (2010): Mit FRIDERICUS REX gegen Franzosen und Belgier.
Nationales Kino im Ruhrkampf 1923, In: Filmblatt 42, 67-85.
Chiari, Bernhard; Rogg, Matthias; Schmidt, Wolfgang (Hrsg.) (2003): Krieg und
Militär im Film des 20. Jahrhunderts. München: Oldenbourg.
Deleuze, Gilles (1989): Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Deleuze, Gilles (1991): Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Drewniak, Boguslaw (1987): Der deutsche Film 1938-1945: Ein Gesamtüberblick.
Düsseldorf: Droste.
Dyer, Richard (1979): Stars. London: British Film Institute.
Eder, Jens (2008): Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren.
Elsaesser, Thomas; Buckland, Warren (2002): Studying Contemporary American Film.
A Guide toMovie Analysis. London u.a.: Arnold.
Erll, Astrid; Wodianka, Stephanie (Hrsg.) (2008): Film und kulturelle Erinnerung.
Plurimediale Konstellationen. Berlin: de Gruyter.
Faulstich, Werner ( 2 2008): Grundkurs Filmanalyse. Paderborn: Fink.
Ferro, Marc (1977): Cinema et Histoire. Paris: Hachette.
Ferro, Marc ( 2 1987): Der Film als „Gegenanalyse" der Gesellschaft. In: Honegger,
Claudia (Hrsg.): Schrift und Materie der Geschichte: Vorschläge %ur systematischen An-
eignung historischer Prozesse. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 247-271.
Grindon, Leger (1994): Skadows of the Past: Studies in the Historical Fiction Film. Phila-
delphia: Temple University Press.
Heiß, Gernot (2006): Film als Quelle. In: Wiener Zeitschrift %ur Geschichte der Neuheit
6/2, 99-108.
Copyrighted malerial
88
Wolfgang Koller
Heß, Klaus-Peter (1986): Film und Geschichte. Kritische Einführung und Litera-
turüberblick. In: Film Theory: Bibliographie Information and Newsletter \ 3, 196-226.
Hiley, Nicholas (1999): „Let's go to the pictures". The British Cinema and Audi-
ence in the 1920s and 1930s. In: Journal of Populär British Cinema 2, 39-53.
Hiley, Nicholas (2002): „Nothing More than a ,Craze"'. Cinema Building in Britain
from 1909 to 1914. In: Higson, Andrew (Hrsg.): Youngand Innocent? The Cinema
in Britain 1896-1930. Exeter: University of Exeter Press, 111-127.
Hollstein, Dorothea (1971): Antisemitische Filmpropaganda. Die Darstellung des Juden im
nationalsozialistischen Spielfilm. München-Pullach: Verl. Dokumentation.
Kaes, Anton (1992): Filmgeschichte als Kulturgeschichte. Reflexionen zum Kino
der Weimarer Republik. In: Jung, Uli; Schatzberg, Walter: Filmkultur %ur Zeit der
Weimarer Republik. München u.a.: Saur, 54-64.
Kaes, Anton (2009): Shell Shock Cinema: Weimar Culture and the Wounds o/War.
Princeton: Princeton University Press.
Kanzog, Klaus (2001): Grundkurs Filmrhetorik. München: Diskurs-Film-Verlag
Schaudig & Ledig.
Kaplan, Elizabeth Ann (1997): Lookingfir the Other: Feminism, Film, and the Imperial
Ga^e. London u.a.: Routledge.
Kester, Bernadette (2003): Film Front Weimar. Representations of the First World War in
German Films of the Weimar Period (1919-1933). Amsterdam: Amsterdam
University Press.
Koller, Wolfgang (in Vorbereitung): Die Erinnerungen an die Napoleonischen Kriege im
europäischen Film. Paderborn: Schöningh.
Körte, Helmut (1999): Einführung in die systematische Filmanalyse. Berlin: Erich
Schmidt.
Kracauer, Siegfried (1947): From Caligari to Hitler. Princeton: Oxford University
Press.
Lagny, Michele (1992): De l'histoire du cinema: methode historique et histoire du cinema.
Paris: Armand Colin.
Lagny, Michele; Sorlin, Pierre (1991): Zwei Historiker nach einem Film: ratlos. In:
Rainer Rother (Hrsg.): Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino. Berlin:
Wagenbach, 111-128.
Landy, Marcia (1991): British Genres. Cinema and Society, 1930-1960. Princeton:
Princeton University Press.
Maier, Margit (2009): Das Geschäft mit den Träumen: Kinokultur in Wür^burg. Würz-
burg: Königshausen & Neumann.
Copyrighted malerial
Der Film als historische Quelle
89
McLaughlin, Noah (2010): French War Films and National Identity. Amherst (NY):
Cambria Press.
Metz, Christian (1973): Sprache und Film. Frankfurt/Main: Athenäum.
Moine, Raphaelle (2005): Fe cinema fran^ais face auxgenres. Paris: AFRHC.
Monaco, James (2009): Film verstehen: Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des
Films und der Neuen Medien, deutsche Fassung hrsg. von Hans-Michael Bock.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Monaco, Paul (1973): Cinema and Society. France and Germany Düring the Twenties. New
York: Elsevier.
Moores, Shaun (1990): Texts, Readers and Contexts of Reading: Developments in
the Study of Media Audiences. In: Media, Culture and Society 12/1, 9-29.
Müller, Corinna; Segeberg, Harro (Hrsg.) (2008): Kinoöffentlichkeit (1895-1920).
Entstehung, Etablierung, Differenzierung. Marburg: Schüren.
Mulvey, Laura (1985): Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Nichols, Bill
(Hrsg.): Movies and Methods. Berkeley u.a.: University of California Press.
Nagl, Tobias (2009): Die unheimliche Maschine: Kasse und Repräsentation im Weimarer
Kino. München: Edition Text + Kritik.
Noack, Bettina (2010): Gedächtnis in Bewegung: Die Erinnerung an Weltkrieg und Holo-
caust im Kino. München: Fink.
Nowak, Kai (2010): Kinemaklasmus. Protestartikulation im Kino. In: Bosch,
Frank; Schmidt, Patrick (Hrsg.): Medialisierte Ereignisse. Performant^ Inszenierung
und Medien seit dem 1 8. Jahrhundert. Frankfurt/Main u.a.: Campus-Verlag, 179-
197.
Pithon, Remy (1995): Cinema et histoire: Bilan historiographique. In: Vingtieme
siede. Revue d'histoire 46, 5-13.
Rentschier, Eric (1996): The Ministry of Illusion. Na%i Cinema and Its Afterlife. Cam-
bridge (Mass.) u.a.: Harvard University Press.
Riederer, Günter (2003): Den Bilderschatz heben — vom Verhältnis zwischen
Geschichtswissenschaft und Film. In: TelAviver Jahrbuch für deutsche Geschichte
31, 15-40.
Robertson, James C. (1985): The British Board ofFilm Censors: Film Censorship in
Britain, 1 896-1 950. London u.a.: Croom Helm.
Rother, Rainer (Hrsg.) (1998): Mythen der Nationen: Völker im Film. München:
Koehler & Amelang.
Samaran, Charles (Hrsg.) (1961): L'Histoire et ses methodes. Paris: Gallimard.
Copyrighted malerial
90
Wolfgang Koller
Sanders, Lise Shapiro (2002): Indecent Incentives to Vice. Regulating Films and
Audience Behaviour from the 1890s to the 1910s. In: Higson, Andrew (Hrsg.):
Young and Innocent? The Cinema in Britain 1896-1930. Exeter: University of Exeter
Press, 97-110.
Seeßlen, Georg (1995): Western. Geschichte und Mythologie des Westernfilms. Marburg:
Schüren.
Slanicka, Simona (Hrsg.) (2007): Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion —
Dokumentation - Projektion. Köln u.a.: Böhlau.
Spiker, Jürgen (1975): Film und Kapital. Der Weg der deutschen Filmwirtschaft %um
nationalsozialistischen Einheits kontern. Berlin: Spiess.
Stahr, Gerhard (2001): Volksgemeinschaft vor der Leinwand? Der nationalsozialistische
Film und sein Publikum. Berlin: Hans Theissen.
Staiger, Janet (1 992): Interpreting Films — Studies in the Historical Reception of American
Cinema. Princeton: Princeton University Press.
Stiasny, Philipp (2009): Das Kino und der Krieg: Deutschland 1914-1929. München:
Edition Text + Kritik.
Turner, Graeme (1998): Film as Social Practise. London u.a.: Routledge.
Vande, Roel; Welch, David (Hrsg.) (2007): Cinema and the Swastika: The International
Expansion ofThird Reich Cinema. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Weidinger, Martin (2006): Nationale Mythen - Männliche Helden. Politik und Geschlecht
im amerikanischen Western. Frankfurt/Main: Campus.
Winter, Rainer (1992): Filmsoziologie. Eine Einführung in das Verhältnis von Film, Kultur
und Gesellschaft. München: Quintessenz.
Wollen, Peter (1969): Signs and Meaning in the Cinema. London: Secker & Warburg.
Copyrighted malerial
Zeitgeschichtliche Filmszenen für den DaF-
Unterricht - Praktische Beispiele und Erfahrungen
Jens Grimstein
1 Einleitung
Es hat lange gedauert, bis sich der Film als historische Quelle für kulturgeschicht-
liche Forschungsinteressen hat etablieren können. 1 Die Zweifel seitens einer sich
vor allem als Textwissenschaft verstehenden Geschichtswissenschaft gegen die
bewegten Bilder hielten lange an. Wenn überhaupt ein filmisches Medium zu For-
schungszwecken taugte, dann war es aus nahe liegenden Gründen der Dokumen-
tarfilm. Dass allerdings auch dieser film sprachlichen Inszenierungskonventionen
(und Manipulationsversuchungen) unterlag, wurde zu selten in Betracht gezogen
und stattdessen sein dokumentarischer Wert im realitätsgetreuen Abbilden histori-
scher Ereignisse hervorgehoben. Ihm gegenüber zählte man den typischerweise
abendfüllenden, durchschnittlich ein- bis zweistündigen fiktionalen Spielfilm zur
Unterhaltung und übersah dabei sein Vermögen als Vermittler diskursiver Prak-
tiken.
Dies hat sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Mittlerweile erfährt
der Spielfilm als historische Quelle eine große Aufmerksamkeit in der Kultur- und
Alltagsgeschichte. Er eröffnet Einblicke in die Gewohnheiten, Vorlieben, Denk-
1 Vgl. Abraham; Kepser 2009: 168f. Da grundsätzlich vorausgesetzt werden darf, was ein Film ist, soll
an dieser Stelle auf ein Standardwerk zur Filmtheorie und -praxis verwiesen werden. Vgl. auch
Hickethier 2007: 22ff.
92
Jens Grimstein
und Handlungsweisen von Menschen einer sowohl vergangenen als auch jüngeren
Zeit. 2 Der Einsatz von Filmmaterial im praxisnahen „Deutsch als Fremdsprache"
(DaF) -Unterricht gilt heutzutage ebenfalls als normal, auch wenn methodisch-
filmdidaktische Theoriewerke hierfür bislang noch fehlen. 3 Der Film darf somit als
„fiktionales Leitmedium" (Abraham; Kepser 2009: 167) gelten, der in einer aktuell
bildwütigen Zeit enorme Aufmerksamkeit auf sich zieht. Unsere Weltwahrneh-
mung orientiert sich demnach maßgeblich an den bewegten und hörbaren Bildern. 4
Dies gilt auch für geschichtliche Filmthemen, die von einem großen Publikum rezi-
piert werden. 5 Ein offenkundig gesellschaftliches Bedürfnis nach Geschichte
scheint im Film auf fruchtbaren Boden zu fallen.
Filme sind multimediale Werke, die verschiedene technische und geistige
Komponenten in sich vereinigen. 6 Als Zuschauer nimmt man den Film als
darstellendes Kunstwerk wahr. Er zeigt in rascher Folge - der englische Begriff
„pictures" erinnert daran - Einzelbilder, die technisch so schnell vor unserem
Auge ablaufen, dass wir sie als bewegt wahrnehmen. Auf diese Weise wird in Ein-
stellungen, Szenen und Sequenzen der Film erzählt. 7 Diese kinematographische
Grundlage ist von großer Wichtigkeit, denn über die (geschnittenen) Bilder neh-
men wir im Einklang mit Dialogen der Protagonisten, Hintergrundgeräuschen und
ggf. Musik die unterschiedlichen Informationen auf, um den Film zu verstehen. Im
Vergleich zur Schriftsprache ist dies die Symbolebene des Films, die im Begriff der
Bildästhetik oder „Bildsprache" (und deren Narration) ihre Entsprechung findet.
In einem sich vor allem als Sprach- und weniger als Landeskundeunterricht
verstehenden Fremdsprachenunterricht besetzt die Bildsprache auf diese Weise
eine Position, die es erlaubt, zwei Kategorien in Aufgaben für DaF-Lerner zusam-
menzuführen: Die Ebene der Bildsprache und die Ebene der Sprachfertigkeit, in
diesem Fall die der deutschen Sprache. 8 Beide Kategorien produzieren Zeichen, die
ihrerseits mit unterschiedlichen Mitteln Mitteilungen über die Wirklichkeit inner-
halb eines kommunikativen und medialen Bezugsrahmens machen. Konkret für
die Arbeit mit Filmszenen als historische Queller für den DaF-Unterricht bedeutet
dies, dass eine Filmszene ein bestimmtes Aussagepotential über einen historischen
2 Zur Kulturgeschichte des Films am Beispiel der Darstellung der Napoleonischen Kriege im Film
des frühen 20. Jahrhunderts vgl. exemplarisch Koller (in Vorbereitung). Es beschäftigen sich außer-
dem mit Geschichte im Film: Wedel 2011; Gehrke 2011; Schanze 1996; Kotulla 1964.
3 Vgl. Abraham; Kepser 2009: 167.
4 Noch offen ist, inwiefern die neue Videospielfilmkultur, die intensiv das aktive Einbringen des Nut-
zers fordert und fördert, einen neuen Einfluss auf die Sehgewohnheiten jüngerer Generationen hat.
3 Es ist davon auszugehen, dass Film und Fernsehen in der Rezeption historischer Stoffe weit vor
Textquellen liegen. Die Zuschauerzahlen für historische Filme wie „Gladiator" (USA 2000, Regie:
Ridley Scott) oder „Der Untergang" (BRD 2004, Regie: Oliver Hirschbiegel), aber auch die erfolg-
reichen Geschichtsserien des Senders ZDF belegen dies.
6 Damit sind z.B. Filmideen, das Schreiben eines Drehbuchs, aber auch alle technischen Hilfsmittel
von der Kamera über die Requisiten bis zum Schnitt gemeint.
7 Vgl. Hickethier 2007: 52.
8 Nicht berücksichtigt werden hier filmsprachliche Analyse- und Arbeitskriterien, wie z.B. die Mon-
tage, der Schnitt usw., die man analog zur Schriftsprache auch „Filmgrammatik" nennt.
Copyrighted malerial
Zeitgeschichtliche Filmszenen für den DaF-Unterricht - Beispiele und Erfahrungen
93
Abschnitt liefert. Dieses Aussagepotential wiederum kann angewandt werden in
fremdsprachenspezifischen Übungen für Deutschlerner, indem es innerhalb einer
Übung verbalisiert wird und dadurch zur eigenen Produktion von sprachlichen Er-
zeugnissen motiviert. Die Filmszene kann in dieser Hinsicht als eine „Verbild-
lichung" kulturell-sozialer Gesellschaftsbedingungen didaktisch in einer Übung
ihre Anwendung finden und hierbei die Sprachkompetenz des Lerners fördern.
Zwischen der Symbolsprache des Bildes mit Bezug auf historische Begebenheiten
und der Zielsprache ergibt sich so eine Synthese, indem die Bildsprache und die
historische Begebenheit im fremdsprachlichen Medium ihren Ausdruck finden. So-
wohl ein mehrdeutiges Leseverstehen (im Sinne eines Dechiffrierens des Films und
des Verstehens von Lesetexten in der Aufgabe) als auch Sprechen und Schreiben
können durch die Arbeit mit Filmen geschult werden. 9
Diese Auseinandersetzung mit dem Film im DaF-Unterricht kann neben der
obligatorischen Arbeit mit kompletten Filmen (d.h. der ca. zweistündigen Spiel-
filmlänge) insbesondere auch am Kleinformat der Filmszene stattfinden. 10 Die
Vorteile des Kleinformats für die Benutzung des Films als historische Quelle liegen
darin, dass so
- die Filmszene sich leicht in eine Unterrichtsstunde/-einheit integrieren lässt;
- die Filmszene sich geschichtsthematisch gut kanalisieren lässt;
- die Filmszene mit der Kombination von Geschichtsthema und Analyse der
Filmsprache Kontextwissen und Medienkompetenz fördert;
- landeskundliche und linguistische Fähigkeiten miteinander an einem kon-
kreten, überschaubaren Beispiel miteinander kombiniert werden können;
- sich durch die Filmszenen ein zielgerichteter Lernerfolg realisieren lässt.
Im Folgenden sollen diese Überlegungen anhand dreier ausgewählter Beispiele für
Filmszenen als historische Quelle mit der Präsentation von Unterrichtsanwen-
dungen konkretisiert werden.
9 Vgl. hierzu auch Leitzke-Ungerer 2009: 12-21.
10 Vgl. zum „Kleinformat" auch Abraham; Kepser 2009, S. 174. Dort wird statt des Wortes Film-
szene der Begriff „Filmausschnitt" benutzt. Selbstverständlich bedarf es aber für ein ganzheitliches
Verstehen eines Filmes und seiner Mittel des Schauens eines ganzen Films. Der Filmausschnitt
ersetzt keinesfalls die Vorzüge, einen Spielfilm „von vorne bis hinten" gesehen und durch an-
schließende Aufarbeitung verstanden zu haben. Vgl. auch zum Einsatz von Filmen im Deutschunter-
richt Abraham 2006.
Copyrighted malerial
94
Jens Grimstein
2 Filmbeispiele
2.1 Auswahl und Einordnung der Filmbeispiele
Die Beispiele decken entweder vom Produktionszeitpunkt oder vom Filminhalt
her einen Zeitraum von etwa 30 Jahren ab und lassen sich der jüngeren Zeit-
geschichte zuordnen. Dabei beziehen sich die Szenen auf unterschiedliche histo-
risch prägnante oder alltagsweltliche Ereignisse. Zwei der sämtlich in Berlin spie-
lenden Werke können hierbei als Spielfilme eingeordnet werden, darunter eine
Literaturverfilmung (Herr Lehmann), der andere wiederum als ein so genanntes
Biopic (Christiane F.) mit biographisch-dokumentarischem Gehalt. Der dritte Film
ist ein klassischer Dokumentarfilm (Prinzessinnenbad). Die Literaturverfilmung
wiederum nimmt Bezug auf zeitgeschichtliche Ereignisse (Mauerfall) und verar-
beitet sie auf eine fiktive Weise. 11
Die Beispiele zur Übersicht: „Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo"
(BRD 1980, Regie: Uli Edel) erzählt die Geschichte des dreizehnjährigen Mäd-
chens Christiane F., das im Berlin der frühen 1980er Jahre im sozialen Umfeld
ihrer Clique heroinabhängig wird und später in der Prostitution landet. Der Film
basiert auf der Lebensgeschichte der Protagonistin. Die Komödie „Herr Leh-
mann" (BRD 2003, Regie: Leander Haussmann, nach dem gleichnamigen Roman
von Sven Lehmann) gibt einen Einblick in das Leben des Barbesitzers Frank Leh-
mann, gespielt von Christian Ulmen, der in Berlin-Kreuzberg eine Kneipe betreibt.
Rahmenhandlung ist der Fall der Mauer 1989. Der Kinoerfolg „Prinzessinnenbad"
(BRD 2007, Dokumentarfilm, Regie: Bettina Blümner) zeigt dokumentarisch den
Alltag dreier jugendlicher Berliner Mädchen aus dem Stadtteil Berlin-Kreuzberg.
Neben dem einheitlichen Schauplatz ist allen Filmen gemein, dass sie die All-
tagswelt ihrer Hauptfiguren abbilden, deren Milieus sich kreuzen. 12 Dadurch erhal-
ten die Filmszenen auch einen sozialhistorischen Wert. Die drei Filme repräsen-
tieren in ihrer Thematik dabei soziale und politische Zustände aus drei Perioden
der jüngeren deutschen Geschichte.
2.2 Lernziel und Lerngruppe
Die jeweiligen Filmszenen bieten sich für folgende Lernziele an: Die Lerner sollen
anhand der Kleinformate ihre sprachlichen Kenntnisse in den Bereichen der
Grammatik, des Ausdrucks, des Wortgebrauchs und der mündlichen Sprechfertig-
11 Vgl. zur Ästhetik von Literaturverfilmungen Bohnenkamp 2005.
12 Bei Christiane F. und Prinzessinnenbad kann man von einem Jugendmilieu sprechen, das sich
durch Merkmale wie Musikgeschmack, zwischenmenschliche Beziehungen und „typische" Probleme
Heranwachsender (Schule, Verhältnis zu Drogen und Narkotika, Eltern, Gelderwerb usw.)
auszeichnet. Selbst für den Film „Herr Lehmann" können mit den Verweisen auf die Musikkultur,
eine Trink- und alternative Kneipenkultur, die Lebensfragen eines Endzwanzigers sowie Bezie-
hungsprobleme Parallelen gezogen werden.
Copyrighted malerial
Zeitgeschichtliche Filmszenen für den DaF-Unterricht - Beispiele und Erfahrungen
95
keit verbessern und vertiefen. Dabei wurden teilweise in die Aufgaben historische
Bezüge wie Mauerfall, West-Berliner Drogenmilieu der 1980er Jahre oder zeithisto-
rische Jugendkultur in Berlin eingewoben, um die beiden oben genannten Bereiche
zu kombinieren. Es wurde versucht, beide Ebenen ausgewogen zu verbinden; ver-
einzelt können aber entweder historische oder linguistische Fragstellungen in der
einzelnen Aufgabe dominieren. Es wurde außerdem darauf geachtet, die Übungen
im Hinblick auf handlungs- und produktionsorientiertes Lernen zu gestalten. Auf
medienvertiefende Mittel wie Filmbearbeitung oder spezielles Arbeiten am Com-
puter wurde bei der Konzeption der Übungen wiederum verzichtet.
Die Aufgaben beziehen sich nach dem Europäischen Referenzrahmen für
Fremdsprachen auf die Niveaus A2-B2; es wurde bei der Erstellung vornehmlich
an erwachsene Lerner gedacht. 13 Die einzelnen Aufgaben pro Filmausschnitt
bauen nicht aufeinander auf und können jeweils selbstständig im Unterricht
eingesetzt werden. Dauer, Lernziel und Sozialform der Aufgabe wird im Einzelnen
immer angegeben.
2.3 Aufgaben
Beispiel 1 : Christiane F. — Wir Kinder vom Bahnhof Zoo
Lehrerinformation: Die Szene zeigt die Situation der jugendlichen Drogen-
abhängigen, die sich auf der Rückseite des Bahnhofs Zoo prostituieren, um so
Geld für den nächsten Drogenkauf zu bekommen. Christiane F. bringt ihnen ein
paar Butterbrote vorbei und gerät dabei in ein Streitgespräch mit ihrem Freund
Detlev. Die Sequenz beginnt bei Minute 01:10:05 und endet bei 01:12:07.
Niveau: B 1
Zeit: ca. 45 Minuten
Sozialform: Gruppenarbeit (ä 2 oder 3 Personen)
Lerntätigkeiten: schriftliches Nacherzählen; Konzentration auf ein
Szenenelement 14 im historischen Kontext; Textverständ-
nis (Grammatik oder Vokabular); Erstellen eines Lücken-
textes für andere Teilgruppen.
13 Allerdings findet das Niveau A2 nur einmalig Verwendung, was mit der niveauadäquaten
Ausrichtung auf Spracherwerb zusammenhängt und leider weniger Spielraum zur Verbindung mit
komplexerem, in diesem Falle historischem Wissen erlaubt.
14 Der Begriff „Szenenelement" bezeichnet alles, was in einer Szene repräsentiert wird, also vom
materiellen Gegenstand wie einem Schlüssel bis zum Dialog oder Klängen. Die Lehrkraft sollte vorab
den Begriff verständlich machen, damit die Lerner wissen, was in der Aufgabe damit gemeint ist.
Copyrighted malerial
96
Jens Grimstein
Aufgabe 1:
Setzen Sie sich mit 2 oder 3 Personen aus Ihrem Kurs zusammen. Schauen Sie sich
die Szene zwei- bis dreimal an. Achten Sie in Ihrer Gruppe auf „Ihr"
Szenenelement:
Teilgruppe 1 achtet auf die Kleidung und das Aussehen der Figuren
Teilgruppe 2 achtet auf die Passanten
Teilgruppe 3 achtet auf den Verkehr und die Umgebung
Teilgruppe 4 achtet auf die Dialoge der Figuren
Teilgruppe 5 achtet auf das Thema der Szene
Erzählen Sie die Szene in Ihrer Teilgruppe nach. Orientieren Sie sich an den
folgenden Fragen: In welcher Zeit spielt die Szene? Wie finden Sie das Aussehen
der Figuren? Wo spielt die Szene? Was sieht man überhaupt? Was machen die
Figuren? Was sagen die Figuren? Was machen die Passanten?
Aufgabe 2:
Erzählen Sie die Szene nochmals nach und heben Sie in Ihrer Nacherzählung Ihr
Szenenelement (Kleidung oder Umgebung oder Dialoge oder Thema) diesmal beson-
ders hervor, d.h. es soll besonders oft in Ihrem Text vorkommen. Fügen Sie dann
Lücken in ihren Text ein, in denen entweder nach der grammatischen Form eines
Faktors (z.B. „die dunkl (= dunklen) Haare des Jungen") oder nach dem
passenden Ausdruck für ein Wort (z.B. „der Junge trägt eine jacke (=
Jeansjacke)") gesucht wird. Tauschen Sie danach ihren Text mit einer anderen
Teilgruppe und füllen Sie die Lücken aus.
Beispiel 2: Herr 'Lehmann
Lehrerinformation: Die Szene spielt in einer Kneipe in Kreuzberg nahe der U-
Bahnstation „Kottbusser Tor". Herr Lehmann betrinkt dort seinen Liebeskummer.
Die Frau mit den dunklen Haaren neben ihm informiert die gesamte Kundschaft
über das Ereignis der Maueröffnung am 9. November 1989. Die Szene erhält ihre
Komik durch die verhaltene, fast desinteressierte Reaktion vieler Gäste. Die Szene
beginnt bei Minute 01:36:35 und endet bei 01:37:50.
Niveau:
Zeit:
Sozialform:
Lerntätigkeiten:
B1-B2
30-45 Minuten
Gruppen- und Einzelarbeit
Finden eines gemeinsamen Themas in einer Gruppe,
Erstellen von Einzeldialogen zum Thema, freies Sprechen
(Synchronisation von Schauspielern); schriftliches Be-
gründen, Aufnahme und Verarbeitung von historischem
Copyrighted malerial
Zeitgeschichtliche Filmszenen für den DaF-Unterricht - Beispiele und Erfahrungen
97
Grundwissen; Interpretation von Figurenverhalten und
Szenenästhetik.
Aufgabe 1:
Schauen Sie sich die Szene mehrmals ohne Ton in einer Gruppe von vier Personen
an. Jeder der Gruppenteilnehmer übernimmt eine Rolle der Szene: 1. Herr Leh-
mann; 2. Herr Lehmanns Freund Silvio; 3. der weibliche Gast; 4. der Barkeeper.
Überlegen Sie sich in Ihrer Gruppe ein Thema für die Szene (Beispiel: „Liveschal-
tung aus Deutschland: Das Volk jubelt. Das neue Superauto ist endlich da!").
Überlegen Sie sich dann individuell Sätze, die ihre Rolle in der Szene sprechen soll.
Achten Sie dabei auf die Länge ihrer Sätze, so dass Sie zu den Mundbewegungen
der Figuren passen. Lassen Sie anschließend die Szene ohne Ton laufen und syn-
chronisieren Sie die Szene mit ihren Dialogen. Wiederholen sie dies mehrmals.
Aufgabe 2:
Schauen Sie sich die Szene mehrmals an und beantworten sie schriftlich die fol-
genden Aufgaben. Begründen Sie Ihre Antworten. Welches Ereignis steht im
Mittelpunkt der Szene? Was sieht man für Bilder im Fernsehen? Welcher Zeit und
welchem Ereignis würden Sie diese Fernsehbilder zuordnen? Warum?
Aufgabe 3:
Schauen Sie sich die Szene an und achten Sie auf das Verhalten der Figuren und
auf die Szenen, die im Fernseher gezeigt werden. Beantworten Sie folgende Fragen
schriftlich: Wie verhalten sich die Figuren in der Bar, wie die Menschen in den
Fernsehbildern? Die Szene wirkt auf den Zuschauer komisch. Warum?
Beispiel 3: Prin^essinnenbad
Lehrerinformation: Der Dokumentarfilm „Prinzessinnenbad" zeigt ein Jahr im
Leben dreier jugendlicher Mädchen in Berlin-Kreuzberg. Der Filmtitel verweist
bereits auf die dazugehörige U-Bahnstation in Berlin-Kreuzberg, die Prinzenstraße
auf der Linie U 1. Der Ausschnitt zeigt eine mit Musik unterlegte Ansicht der
Gegend nahe der U-Bahnstation „Kottbusser Tor". Die Szene beginnt bei 00:06:11
und endet bei 00:06:45.
Aufgabe 1.1:
Niveau: A2
Zeit: 30-40 Minuten
Sozialform: Einzelarbeit
Lerntätigkeiten: Leseverstehen von Aussagen und Zuordnen richtiger/ fal-
scher Antworten
Copyrighted malerial
98
Jens Grimstein
Die folgende Szene besteht hauptsächlich aus Einstellungen bzw. 6 Bildern. Sind
die folgenden Sätze richtig oder falsch? Schauen Sie sich die Szene mehrmals an.
Bild 1 : Man sieht nur ein Taxi in dem Bild. r/ f
Bild 2: Ein weißer Lastwagen ist vor einem roten Torbogen zu sehen. r/ f
Bild 3: Es sind keine Passanten auf der Straße zu sehen. r/ f
Bild 4: Man sieht eine gelbe U-Bahn fahren. r/ f
Bild 5: Eine Person auf einem Motorrad fährt im Bildvordergrund her. r/ f
Bild 6: Der Bus hat die Nummer M 29 und fährt in Richtung Roseneck. r/ f
Aufgabe 1.2:
Schreiben Sie einen kurzen Erzähler-Kommentar („voice over") zu den Einstel-
lungen, indem Sie die Umgebung um das Kottbusser Tor präsentieren. Tragen Sie
Ihren Kommentar zu den laufenden Bildern laut vor.
Aufgabe 3:
Niveau: B2
Zeit: ca. 30 Minuten
Sozialform: Einzelarbeit
Lernziel: schriftliches Erörtern und Diskutieren
Schauen Sie sich die Szene ein- bis zweimal an. Lesen Sie anschließend folgende
Zeilen, die aus einem Artikel der Wochenzeitung „Die Zeit" vom 03.07.2003
stammen:
„Berlin-Kreuzberg, Kottbusser Tor: Deutschlands älteste Sanierungs- Story
geht nach fast vier Jahrzehnten zu Ende. Die Hoffnung, mit Städtebau
Sozialpolitik betreiben zu können, ist gescheitert. Spaziergang durch ein
aufgegebenes Biotop."
Beantworten Sie schriftlich: Was sind dem Artikel nach die Besonderheiten des
Bezirks rund um das Kottbusser Tor? Vergleichen Sie die Aussagen mit den Film-
bildern. Diskutieren Sie, inwiefern die Bilder diesen Aussagen entsprechen oder
nicht.
2.4 Unterrichtserfahrungen mit einzelnen Beispielen
Zwei der genannten Beispielfilme 15 kamen in einer französischen Universität in
den Jahrgängen der Licence 2 (vgl. mit dem Bachelor 2. Studienjahr) in den Kursen
15 Das dritte Beispiel wurde eigens für diesen Text entworfen und konnte daher noch nicht im Unter-
richt erprobt werden.
Copyrighted malerial
Zeitgeschichtliche Filmszenen für den DaF-Unterricht - Beispiele und Erfahrungen
99
„Expression et comprehension ecrites" und „Pratique orale" zum Einsatz. Das Ni-
veau der Lerner kann in beiden Fällen auf Bl angesiedelt werden.
In den „Expression ecrite"-Kursen wurden die Lerner in fünf Teilgruppen z.B.
gebeten, sich die „Christiane F. "-Filmszene zweimal anzuschauen und sich wäh-
rend des Schauens Notizen zur Szene (Kleidung, Umwelt, mündlicher Sprach-
gebrauch, Thema des Dialogs) zu machen. Texte zum Merkmal aus der jeweiligen
Zeit waren dazu in den vorherigen Unterrichtsstunden mit den Teilnehmern bear-
beitet worden, so dass die Lerner auf ein passendes Vokabular und eine historische
Einordnung zurückgreifen konnten. Im Anschluss daran wurden die Lerner auf-
gefordert, mittels ihrer Notizen die Filmszene in ihrem Verlauf schriftlich wieder-
zugeben, wobei jeder Lerner sich auf eines der Merkmale (s. Aufgabe) konzen-
trieren sollte. Dazu wurde parallel die Aufgabe gestellt, den Handlungsverlauf in
einen historischen Rahmen einzubetten und dabei jeweils das Merkmal gemäß der
Zeit zu thematisieren.
Im „Pratique orale"-Kurs erhielten die Teilnehmer die Szene aus dem Film
„Herr Lehmann" mit der Aufgabenstellung, die Szene ohne Ton dreimal gut anzu-
sehen. Hinterher wurden sie dann in Partnerarbeit gebeten, zu dieser Szene einen
Fernsehbericht zu halten, d.h. sie sollten in die Rolle eines Reporters schlüpfen, der
die zweiminütige Szene für ein fiktives Fernsehpublikum kommentiert. Das Fern-
sehpublikum stellten dann die anderen Teilnehmer dar, während die beiden Lerner
abwechselnd ihren Kommentar zu den Bildern vorlasen. Damit dieser nicht zu
stockend abgelesen klingt, bekamen sie vorher zusätzliche Zeit für eine Leseprobe.
Die Lerner wurden dabei von einem Abspielgerät (z.B. I-pod) aufgenommen und
konnten sich hinterher ihre Leistung anhören, wobei die Lehrkraft die Stellen no-
tierte, in denen die Satzmelodie oder die Wortbetonung verändert werden musste.
Auf diese Weise konnten sich die Lerner in ihrem Sprechfluss verbessern. Von
Vorteil in dieser Stunde war, dass die Lerngruppe nur aus vier Personen bestand.
Bei einer größeren Gruppe könnte man in diesem Fall die Aufgabe zur Abgabe
eines themengebundenen Berichts vergeben, d.h. die Szene soll in einem neuen
Kontext wie z.B. einer „Fußballspielberichterstattung" oder eines „politischen
Staatsbesuchs" nacherzählt werden.
In beiden Gruppen war die Resonanz auf die Übungen weitestgehend positiv,
allerdings war in der schriftlichen Aufgabe zur Filmszene „Christiane F." weitaus
mehr Betreuung sowohl im Verstehen als auch während der Aufgabenfertig-
stellung nötig. Dies gilt es bei der Durchführung zu beachten, um so vor allem
schwächeren Kursteilnehmern stärker zu helfen und ggf. die Gruppeneinteilung
vom Niveau her ausgewogener vorzunehmen.
Copyrighted malerial
100
Jens Grimstein
3 Zusammenfassung
Bei der Arbeit mit Filmszenen als historischen Quellen stellt sich die Frage, mit
welchen didaktischen Mitteln man diese in den DaF-Unterricht integriert: Oft wird
der Film en bloc gezeigt und dann die Variante des Vortrags gewählt, und man er-
klärt am Film die jeweiligen Zeitumstände in einer Plenardiskussion oder im Fron-
talunterricht. Eher selten folgen aus der Beschäftigung damit sprachkompetenz-
orientierte Übungen, d.h. Aufgaben, die versuchen, das historische Wissen so
niveau-adäquat zu vermitteln, dass der Lerner parallel dazu seine Sprachfähigkeit
selbstständig trainieren kann. Das Ziel hierbei ist, dem Lerner die in einer Film-
szene enthaltenen geschichtiichen Informationen als Herausforderungen zum Er-
werb (höherer) Sprachkompetenz anzubieten. Die drei oben erwähnten Beispiele,
die teilweise auch im Unterricht ihre Anwendung fanden, versuchen dies zu be-
legen und laden Kolleginnen und Kollegen ein, sie ebenfalls auszuprobieren.
Es hat einige Zeit gebraucht, bis der Film als Arbeitsmittel im Geschichts- und
DaF-Unterricht vollständig anerkannt wurde. Dass der Film als solcher sich, zu-
mindest als historische Quelle für den DaF-Unterricht schließlich hat durchsetzen
können, verdankt er sicherlich auch der strukturellen Offenheit des Fachs, Material
aus verschiedenen lebensnahen Kontexten aufzunehmen und zu didaktisieren.
Literatur
Abraham, Ulf; Kepser, Matthis ( 3 2009): 'Literaturdidaktik Deutsch. Line Einführung.
Berlin: Erich Schmidt.
Abraham, Ulf (2006): Mehr als nur „Theater mit Videos". Theatralität in einem
medienintegrativen Deutschunterricht und szenische Verfahren im Umgang
mit Film und Fernsehen, in: Frederking, Volker (Hrsg.): Jahrbuch Medien im
Deutschunterricht 2005. Filmdidaktik und Filmästhetik. München: kopaed, 130-144.
Behrens, Ulrich (2009): Geschichte im Film - Film der Geschichte. Norderstedt: Books
on Demand.
Bohnenkamp, Anne (2005): Vorwort. In: Bohnenkamp, Anne/Lang, Tilman
(Hrsg): Interpretationen Eiteraturverfilmungen. Stuttgart: Reclam, 9-33.
Gehrke, Ulrich (2011): Veit Harlan und der „Kolberg"-Film. Filmregie zwischen Geschichte,
NS ^-Propaganda und Vergangenheitsbewältigung. Hamburg: Hamburg
Marmorweg 14: U. Gehrke.
Hickethier, Knut ( 3 2007): Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart und Weimar: Metzler.
Koller, Wolfgang: Die Erinnerungskultur der Revolutions- und Napoleonischen Kriege im
europäischen Kino, 1914 bis 1945 (in Vorbereitung).
Copyrighted malerial
Zeitgeschichtliche Filmszenen für den DaF-Unterricht - Beispiele und Erfahrungen 101
Kotulla, Theodor (1964): Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente Bd. 2. 1945 bis
heute. München: Piper.
Leitzke-Ungerer, Eva (Hrsg.) (2009): Film im Fremdsprachenunterricht. Literarische
Stoffe, interkulturelle Ziele, mediale Wirkung. Stuttgart: Ibidem.
Schanze, Helmut (Hrsg.) (1996): Fernsehgeschichte der Uteratur. Voraussetzungen —
Fallstudien - Kanon. München: Fink.
Wedel, Michael (201 1): Filmgeschichte als Krisengeschichte. Schnitte und Spuren durch den
deutschen Film. Bielefeld: Transkript.
Filme
Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. BRD 1981, Regie: Ulrich Edel.
Herr Fehmann. BRD 2003. Regie: Leander Haussmann.
Prin^esinnenbad. BRD 2007. Regie: Bettina Blümner.
Copyrighted malerial
Copyrighted malerial
Historische Audio- und Videodokumente im
DaF-/Phonetikunterricht - Vorschläge und
Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis
Beatrice Wiegan d
Einleitung
Historische Tondokumente wirken auf heutige Hörer manchmal übertrieben
gesprochen und seltsam „aus der Zeit gefallen". Während sie im landeskundlichen
DaF-Unterricht häufig eine Abwechslung und Bereicherung darstellen, erscheinen
sie für den Sprachunterricht aus diesem Grund hingegen eher ungeeignet. Dieser
Beitrag will dennoch für den Einsatz historischer und zeithistorischer Audio- und
Videodokumente im Sprach- und Phoneükunterricht werben, beziehungsweise sol-
cher Dokumente, deren Sprecher sich wie der Sänger Max Raabe sehr stark an
historische Vorbilder angelehnt haben oder sich in einem Kontext jahrzehnte-
langer Traditionen bewegen, die sie aufgreifen oder bewusst abzuwandeln versu-
chen, wie der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache.
Solche Hördokumente — im Folgenden zusammengefasst „historische" Doku-
mente genannt — können nach Erfahrung der Verfasserin in besonderer Weise für
phonetische und klangliche Aspekte der Sprache sensibilisieren. Dazu gehören
Aussprachephänomene wie Akzentuierung, Rhythmisierung und Melodisierung im
Deutschen, aber auch Aus Sprache Varianten und die sich in ihnen realisierenden
Sprechabsichten (Ironie, Feierlichkeit, Spannungserzeugung usw.). Gerade dort,
wo die Aussprache stilistische Auffälligkeiten aufweist, möglicherweise von
heutigen Hörgewohnheiten abweicht und übertrieben erscheint, werden Gestal-
104
Beatrice Wiegand
tungsmittel und Realisierungsformen oft besonders deutlich. Das erleichtert
erstens die Wahrnehmung phonetischer Aspekte, zweitens kann dies in einer
anschließenden Phase sprachlicher Produktion einen spielerischen Kontext und
Freiraum bieten.
Der Einsatz historischer Audio- und Videodokumente erscheint außerdem
dadurch gerechtfertigt, dass es sich um authentische Materialien handelt, denen die
Lerner auch außerhalb des Sprachunterrichts begegnen können, und anhand derer
sich Hörerfahrungen erweitern lassen. Auch in Sprachprüfungen, z.B. den Zerti-
fikatsprüfungen des Goethe-Instituts oder den auf diese Prüfungen vorbereitenden
Unterrichtsmaterialien begegnen Deutschlerner verschiedenen Varianten der
deutschen Sprache und Aussprache.
Im Folgenden sollen Unterrichtseinheiten vorgestellt werden, die auf histo-
rischen und zeithistorischen Audio- und Videodokumenten basieren und anhand
derer verschiedene sprachliche Fertigkeiten, vor allem aber phonetische Aspekte
des Deutschen thematisiert und geübt werden. Die einzelnen Beispiele sind als
Anregungen für den Sprachunterricht gedacht.
Unterrichtsentwurf 1: „Mein kleiner grüner Kaktus"
Interpretation: Max Raabe & Palast Orchester
Musik: Albrecht Marcuse; Bert Reisfeld
Text: Hans Herda, 1934
Blumen im Garten,
so zwanzig Arten,
von Rosen, Tulpen und Narzissen,
leisten sich heute
die feinen Leute,
das will ich alles gar nicht wissen.
Mein kleiner grüner Kaktus
steht draußen am Balkon,
hollari, hollari, hollaro.
Was brauch' ich rote Rosen,
was brauch' ich roten Mohn,
hollari, hollari, hollaro.
Und wenn ein Bösewicht
was Ungezog'nes spricht,
dann hol' ich meinen Kaktus
und der sticht, sticht, sticht.
Mein kleiner grüner Kaktus
Historische Audio- und Videodokumente im DaF- /Phonetikunterricht
105
steht draußen am Balkon,
hollari, hollari, hollaro.
Heute um viere
klopft's an die Türe.
Nanu, Besuch so früh am Tage?
Es war Herr Krause
vom Nachbarhause,
der sagt: Verzeih'n Sie, wenn ich frage...
Sie ham' doch einen Kaktus
da draußen am Balkon,
hollari, hollari, hollaro.
Der fiel soeben runter,
was halten Sie davon?
Hollari, hollari, hollaro.
Er fiel mir aufs Gesicht,
ob's glauben oder nicht,
jetzt weiß ich, dass Ihr kleiner grüner Kaktus sticht.
Bewahr'n Sie Ihren Kaktus
gefälligst anderswo,
hollari, hollari, hollaro.
Aufgabenstellungen
1 . Hören Sie das Lied „Mein kleiner grüner Kaktus" in der Interpretation von Max
Raabe! Wie finden Sie das Lied?
2. Hören und sehen Sie nun den Auftritt noch einmal! Charakterisieren Sie die
Sprechweise, indem Sie die folgenden Adjektive an den passenden Stellen in den
Kästen neben dem Liedtext oben ergänzen!
vergnügt I gut gelaunt verärgert gelangweilt I gleichgültig
Spannung erzeugend erstaunt/ verwundert
misstrauisch
3. Mit der Stimme kann man Emotionen, Ironie, Spannung usw. erzeugen. Womit
noch?
4. Wo in dem Lied und wie erzeugt Raabe Ironie?
106
Beatrice Wiegand
5. Sprechen Sie die folgenden Textstellen jetzt mit unterschiedlicher Sprechweise!
Sprechen Sie so, wie auf dem Los gefordert! Die anderen raten/erkennen, wie Sie
gesprochen haben!
vergnügt/
gut gelaunt
verärgert
misstrauisch
Aufgeregt
erstaunt/
verwundert
gelangweilt/
gleichgültig
Traurig
schüchtern
gan% normal
wie Max Raabe
Nach: Endt; Hirschfeld (1995: 54).
Was brauch' ich rote Rosen,
was brauch' ich roten Mohn,
Dann hol ich meinen Kaktus
und der sticht, sticht, sticht.
Nanu, Besuch so früh am Tage?
Verzeih'n Sie, wenn ich frage...
Sie ham' doch einen Kaktus
da draußen am Balkon...
... der fiel soeben runter,
was halten Sie davon?
Bewahr'n Sie ihren Kaktus
gefälligst anderswo auf!
Ziele und Erfahrungen mit dem Unterrichtsentwurf
Bei der im Unterricht verwendeten Videoaufnahme handelt es sich nicht um eine
historische Aufnahme aus der Entstehungszeit des Liedes, also den 1930er Jahren
des 20. Jahrhunderts, sondern um eine Interpretation Max Raabes aus dem Jahr
2006, im Stil der Entstehungszeit, aber auch im persönlichen Stil des Interpreten. 1
1 Für den vorliegenden Unterrichtsentwurf wurde der Interpretation Raabes der Vorzug vor einer
historischen Aufnahme z.B. der Comedian Harmonists gegeben. Zum einen erlaubt dies den Einsatz
eines Videos und damit die Berücksichtigung von Gestaltungsmitteln wie Mimik und Inszenierung
(Kleidung, Orchester etc.). Zum anderen werden bei Raabe — dessen Interpretation sich auf histo-
rische Vorbilder bezieht, jedoch auch übertreibt und ironisiert — Aussprachephänomene besonders
deutlich.
Historische Audio- und Videodokumente im DaF- /Phonetikunterricht
107
Ziel der anhand des Videomaterials entwickelten Unterrichtseinheit, die sich an
Lerner ab Niveau Bl richtet, ist eine Sensibilisierung für emotional und situativ
bedingte Sprechweisen 2 und Aussprachevarianten im Deutschen, hier eine
bestimmte Emotionalisierung und Ironisierung. In Aufgabe 2 sollen die Lerner
diese Modi des Sprechens erkennen. Die Aufgaben 3 und 4 tragen dem
Sachverhalt Rechnung, dass auch andere Gestaltungsmittel zum Ausdruck von
Emotionen, Ironie oder Spannung beitragen, was in Raabes sparsam, aber
wirkungsvoll eingesetzter Mimik im Video deutlich wird. Aufgabe 5 stellt eine
produktive Ausspracheübung spielerischer Form dar und basiert auf der Übungs-
form „Lies den Text so!" des Phonetikmaterials „Die Rhythmuslokomotive"
(Endt; Hirschfeld 1995: 54). Anhand der ihnen bereits bekannten Verse aus dem
Lied können die Lerner hier selbst emotionale Varianten in der Fremdsprache
Deutsch produzieren und ausprobieren. Zur Unterstützung phonetischer Mittel
(z.B. Sprechtempo, Lautstärke, Melodieverläufe und andere Parameter der Proso-
die) 3 können die Lerner auch Mimik und Gestik einsetzen.
Im Sprachunterricht mit französischen Studierenden der Germanistik ließ sich
zunächst feststellen, dass die Humorlage des Liedes und seiner Vortragsweise
durchaus der relativ jungen Zielgruppe entsprach. Als lustig wurden der Kontrast
zwischen ernstem festlichem Vortrag (Orchester, Kleidung, Aussprache und
Vortragsweise) und dem „lustigen, albernen Text" (Zitate der Studierenden), aber
auch die „energische, flotte Musik" sowie die Tendenz zu Deutlichkeit und
Übertreibung empfunden. Während die Körperhaltung als reglos beschrieben
wurde, imitierten die Lerner schnell Blick und Mimik Max Raabes. Im Bereich der
Aussprache fielen die stellenweise hohe Deutlichkeit sowie die Realisierung der R-
Laute auf. Beides lässt sich auf eine erhöhte Sprechspannung und
Artikulationspräzision 4 einiger Passagen des Kunstgesangs zurückführen. Auch
diese phonostilistische Aussprachevariante konnten die Deutschlerner im Verlauf
der anschließenden produktiven spielerischen Übung imitieren, wenn sie gemäß
ihrem Los „so wie Max Raabe" sprechen sollten.
2 Zum Begriff „Sprechweise" vgl. Reinke 2008: 35ff.
3 Einen Überblick über Begrifflichkeiten, Realisierungsmittel und Funktionen prosodischer Aspekte
des Deutschen bieten Hirschfeld; Neuber 2010: 10-16.
4 Zur Kategorie der Artikulationspräzision und phonostilistischen Varianten der Aussprache vgl. das
Kapitel „Phonostilistische Differenzierungen der Standardaussprache" in: Krech; Stock; Hirschfeld;
Anders 2009: 98ff.
Copyrighted malerial
108
Beatrice Wiegand
Unterrichtsentwurf 2:
„Eine Rede halten - die Weihnachtsansprache 2010"
Aufgabenstellungen
1. Sie sehen die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten Christian Wulff aus
dem Jahr 2010. Was sind zentrale Themen seiner Rede? Was sind zentrale
Botschaften?
2. Sehen Sie das Video nun noch einmal und notieren Sie Ihre Beobachtungen zu
den unten genannten Aspekten! Präsentieren Sie anschließend die Beobachtungen
Ihrer Gruppe!
Gruppe 1: Inszenierung
(Ort, Requisiten, Gäste, Kameraführung usw.)
Gruppe 2: Gestik, Mimik, Blick, Körperhaltung
Gruppe 3: Sprache und Aussprache
(z.B. Wortwahl, Redetempo, Tempoänderungen, Pausen, Betonung etc.)
3. Wie wirkt die Rede des Bundespräsidenten auf Sie?
4. Halten Sie nun eine eigene kleine Ansprache! Die Situation ist die folgende: Sie
haben ein dreimonatiges Praktikum in Deutschland absolviert, das nun zu Ende
geht. Aus diesem Anlass geben Sie für Ihre zehn Kolleginnen einen Ausstand. Sie
haben ein kollegiales Verhältnis, sind aber keine „Kumpel". Sie möchten sich
positiv äußern und versprechen sich auch in Zukunft etwas von Ihren
Praktikumsgebern, möchten sich aber auch nicht einschmeicheln. Sie haben einen
Kuchen gebacken und bevor Sie diesen gemeinsam essen, richten Sie ein paar
Worte an die Runde. Bereiten Sie einige Sätze zu den folgenden Inhaltspunkten
vor!
Copyrighted malerial
Historische Audio- und Videodokumente im DaF- /Phonetikunterricht
109
- Resümee des Praktikums
- Dank für die Zusammenarbeit
- Hoffen auf weiteren Kontakt
Halten Sie anschließend Ihre kleine Rede und benutzen Sie dabei eigene Mittel
der Gestik, Mimik, Sprache und Aussprache!
Ziele und Erfahrungen mit dem Unterrichtsentwurf
Die Idee, eine Weihnachts- oder Neujahrsansprache zu analysieren, ist nicht neu.
Eine interessante kontrastierende Perspektive eröffnet beispielsweise die Sendung
„Karambolage" des Fernsehsenders Arte, indem sie eine französische und zwei
deutsche Ansprachen gegenüberstellt (vgl. Clairon; Doutriaux 2005). Was nun die
Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten Christian Wulff aus dem Jahr 2010
für den Fremdsprachenunterricht Deutsch meines Erachtens interessant macht,
betrifft einige Merkmale der Gestaltung seiner Rede, die auf eine direkte
Ansprache des Adressaten zielen und in ihrer beabsichtigten Wirkung vielleicht am
besten damit beschrieben werden können, dass sie „Verbindlichkeit" herstellen
sollen.
In der vorgeschlagenen Didaktisierung dient das erste Hören und Ansehen des
Dokuments der Erarbeitung seiner inhaltlichen Seite. Die Aufgabenstellung,
zentrale Themen und Inhalte der Rede herauszuhören, ist als Training des globalen
Hörverstehens angelegt. Dieser inhaltlichen Auseinandersetzung folgt eine Analyse
verschiedener Aspekte der Präsentation. Vorgeschlagen wird dabei eine Aufteilung
der Beobachtungsaspekte auf drei Gruppen: Gruppe 1 konzentriert sich auf
Aspekte der Inszenierung (Ort, Requisiten, Gäste, Kameraführung usw.), Gruppe
2 beobachtet Gestik, Mimik, Blick und Körperhaltung des Redners und Gruppe 3
macht Notizen zu Sprache und Aussprache (z.B. Wortwahl, rhetorische Mittel,
Redetempo, Tempoänderungen, Pausen, Betonung usw.). Im Anschluss an ein
zweites Ansehen des Videos erhalten die Studierenden einige Minuten Zeit, um
innerhalb ihrer jeweiligen Gruppe Beobachtungsergebnisse auszutauschen und zu
diskutieren. Danach präsentieren die Gruppen ihre Beobachtungen im Plenum.
Die Frage 3 des Unterrichtsentwurfs, „Wie wirkt die Rede des Bundespräsidenten
auf Sie?", zielt unter anderem auch darauf, die zunächst differenzierten
Analyseaspekte und Blickpunkte in der Interpretation ihrer Wirkung wieder
zusammenzuführen.
In der Unterrichtspraxis war interessant zu sehen, wie die Interpretationen und
Bewertungen der Rede durch verschiedene Lernergruppen auseinander ging.
Während Gestik und Mimik in einem ersten Unterricht beispielsweise mit „steht
aufrecht, gerade; lächelt, blickt freundlich" charakterisiert wurden, beschrieben
Studierende eines anderen Kurses dasselbe Verhalten als „steht steif, bewegt nur
die Hände; lächelt nur einmal". Bei der Frage nach der Wirkung der Rede führte
das zu Wertungen wie „freundlich, nah, nicht distanziert" innerhalb der ersten
Copyrighted malerial
110
Beatrice Wiegand
Lernergruppe, während die Gruppe aus der anderen Unterrichtseinheit „feierlich,
offiziell, ernst, optimistisch, idealisierend, klischeehaft" urteilte.
In beiden Unterrichtsstunden führte ich den Begriff und die Kategorie der
„Verbindlichkeit" der Ansprache ein, auf welche meines Erachtens sowohl
Inszenierung als auch Gestik und Mimik sowie Sprache und Aussprache zielen.
Die Studierenden selbst erwähnten in diesem Kontext den Blick als Kontaktmittel,
aber auch den phonetischen Aspekt einer starken Akzentuierung „wichtiger
Wörter", zentraler Begriffe der Rede und der Anreden von Personengruppen.
Bei der Konzeption der produktiven Aufgabe, zu zweit eine eigene kleine
Ansprache zu entwerfen und zu präsentieren, ging es vor allem darum, eine
adäquate realitätsnahe Situation zu schaffen und diese möglichst konkret vor
Augen zu führen. Die Lerner wurden schriftlich und mündlich dazu angehalten,
bei der Gestaltung ihrer Ansprache nach ,,eigene(n) Mittel(n) der Gestik, Mimik,
Sprache und Aussprache" zu suchen. Die präsentierten Ergebnisse wiesen, auch im
Einsatz von Blick und Gestik, deutliche Unterschiede und persönliche Züge auf.
Eine Aufzeichnung mit Videokamera kann hinsichtlich der Präsentation sicher zu
noch mehr Ernsthaftigkeit führen und in der Auswertungsphase noch fundiertere
Reflexion erlauben.
Unterrichtsentwurf 3:
„Die Prinzessin auf der Erbse - ein Märchen vortragen"
Text: Hans Christian Andersen
Vortrag: Alexander Moissi, 1928
Aufgabenstellungen
1. Welche Merkmale charakterisieren in der Regel den Vortrag eines Märchens?
Kreuzen Sie an, was Ihrer Meinung nach zutrifft!
Man spricht meist □ langsam □ schnell
Pausen macht man □ viele □ wenige
Die rhythmischen Gruppen sind L eher klein U eher groß
(vgl. Stock 1996: 71)
2. a Hören Sie nun den Vortrag des Schauspielers Alexander Moissi aus dem Jahr
1928! Wie finden Sie seine Vortragsweise? Was charakterisiert sie?
2.b Welche Merkmale sind stark der Zeit (den 1920er Jahren) verhaftet? Was
würde Sie heute anders machen?
Copyrighted malerial
Historische Audio- und Videodokumente im DaF- /Phonetikunterricht
111
3. Auch wenn Ihr eigener Vortrag heute ganz anders ist, Akzente, Melodieverläufe
und sinnfällige Pausen werden in dem historischen Vortrag doch sehr deutlich.
Hören Sie den Text jetzt noch einmal! Markieren Sie - mit Bleistift - Pausen und
wichtige Satzakzente!
Es war einmal ein Prinz , // der wollte eine Prin zess in heiraten. // Aber / es
sollte eine wirk liche Prinzessin sein. Er reiste nun in der ganzen Welt umher,
um eine solche zu finden, aber immer kam etwas dazwischen. Prinzessinnen
waren ja genug da, aber ob es eine wirkliche Prinzessin war, dahinter konnte er
durchaus nie kommen. Immer war irgend etwas, das nicht recht stimmte. So
kam er denn wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er hätte doch so
gern eine wirkliche Prinzessin gehabt. [...]
4. Überprüfen Sie, ob Sie selbst dieselben Akzente und Pausen setzen würden!
Ändern Sie eventuell Ihre Markierungen und bereiten Sie einen eigenen Vortrag
vor! Machen Sie eine Aufnahme!
Ziele und Erfahrungen mit dem Unterrichtsentwurf
Den Vortrag eines Märchens kennzeichnen spezifische prosodische Merkmale.
Insbesondere in Bezug auf Sprechtempo und Pausen können Lerner diese
Textsorte sicher schnell beschreiben (vgl. Aufg. 1). Märchen kennzeichnet gemäß
Stock (1996: 71) darüber hinaus, dass sie aus relativ kleinen rhythmischen Gruppen
bestehen. Das prädestiniert sie für die Arbeit an prosodischen Aspekten wie
Akzentuierung, Rhythmus, Pausierung und Melodisierung. Der Unterrichts-
vorschlag setzt sich aus zwei angewandten Übungen 5 , einer Hörübung und einer
textgebundenen Sprech- und Aus Spracheübung zusammen. Da das zu hörende
Tondokument, eine Aufnahme des Schauspielers Alexander Moissi, ganz allgemein
von unseren heutigen Hörgewohnheiten abweichen dürfte und beim Hören erst
einmal sicher Heiterkeit verursacht, wird den Lernern zunächst die Frage nach
phonetischen und sprechkünstlerischen Besonderheiten dieses Vortrags gestellt.
Im CD-Cover werden Vortragsweise und Wirkung wie folgt beschrieben:
„Auch dem Laien werden im Vergleich mit unseren heutigen Hör-
gewohnheiten die Empathie, die „Übertreibung", das Theatralische, Pathe-
tische nicht verborgen bleiben. Es entsprach den sprechstilistischen Auffas-
sungen dieser Zeit, dass mehr „deklamiert" denn „rezitiert" wurde. Auch der
Grad der Artikulationspräzision scheint heute überhöht. Besonderheiten wie
das sogenannte rollende R sind dem damaligen Zeitgeschmack zuzuschreiben."
(Müller: 2004)
5 Die Klassifizierung und Charakterisierung der Übungen folgt in diesem Artikel der Typologie in
Dieling; Hirschfeld 2000: 47ff.
Copyrighted malerial
112
Beatrice Wiegand
Der übertreibende Gestus in Moissis Vortrag führt dazu, dass prosodische
Merkmale und die Mittel ihrer Realisierung besonders deutlich hervortreten, was
die Aufnahme meines Erachtens für den Einsatz im Phonetikunterricht interessant
macht. Die starke Empathie und Dramatik seiner Interpretation des Märchens
realisiert er nicht nur mittels verstellter Stimme in Passagen direkter Figuren-
sprache, sondern auch mittels starker Akzentuierung. Auch die Mittel der Akzen-
tuierung im Deutschen (erhöhte Lautstärke und Sprechspannung, herausgehobene
Tonhöhe, verlangsamtes Sprechtempo, vgl. Hirschfeld; Neuber 2010: 12) treten
deutlich hervor. Wenn auch den Lernern in jedem Fall deutlich werden muss, dass
eine zeitgemäße Interpretation des Märchens heute anders klingt, prädestiniert
diese Deutlichkeit prosodischer Aspekte und ihrer Realisierungsmittel meines
Erachtens doch das historische Hörmaterial in besonderer Weise für einen Einsatz
im Phonetikunterricht. Mit Hilfe des Hördokuments sollen die Lernenden auf
ihrem Arbeitsblatt Pausen und Wortgruppenakzente markieren, denkbar wäre auch
eine Markierung von Melodieverläufen. 6 Im Anschluss an eine Kontrollphase im
Plenum soll ein eigener Vortrag des Märchens vorbereitet und realisiert werden.
Die Lerner müssen sich nicht in jedem Fall an die Pausen und Akzentuierungen
Moissis halten. In jedem Fall aber sollte eine Aufnahme des jeweiligen Vortrags
erfolgen, um eine Auswertung des Ergebnisses zu ermöglichen.
Zusammenfassung und Schlusswort
Historische Audio- und Videodokumente, das sollte in diesem Beitrag gezeigt
werden, bieten über ihre landeskundlichen Lernmöglichkeiten hinaus Potenzial für
den Deutsch-als-Fremdsprache- und Phonetikunterricht. Sie sind authentische
Materialien, mit denen sich Hörfertigkeiten trainieren und Hörerfahrungen
erweitern lassen. Sie können für phonetische und rhetorische Aspekte der
Gestaltung gesprochener Sprache sensibilisieren, und das auch und gerade dort, wo
sie durch ihre Distanz zu heutigen Sprech- und Hörgewohnheiten auffallen und
dadurch Phänomene und Gestaltungsmittel besser erkennbar werden lassen. Auch
Übungen zum Training produktiver Fertigkeiten, Sprech- und Ausspracheübungen
lassen sich anschließen. Damit können die Materialien nicht nur einen für viele
Lerner vereinfachenden, sondern nach Erfahrung der Verfasserin immer auch
unterhaltsamen und motivierenden Zugang zur komplexen Materie phonetischer
Gestaltung bieten.
6 Vorausgesetzt wird, dass die Studierenden mit Grundlagen der Prosodie des Deutschen wie den
Regeln und Mitteln der Wort- und Satzakzentuierung, Melodieverläufen usw. vertraut sind.
Historische Audio- und Videodokumente im DaF- /Phonetikunterricht
113
Literatur
Dieling, Helga; Hirschfeld, Ursula (2000): Phonetik lehren und lernen
(Fernstudieneinheit 21). Berlin, München: Langenscheidt.
Endt, Ernst; Hirschfeld, Ursula (Hrsg.) (1995): Die Rhythmuslokomotive. München:
Goethe-Institut.
Hirschfeld, Ursula; Neuber, Baidur (2010): Prosodie im Fremdsprachenunterricht
Deutsch — ein Überblick über Terminologie, Merkmale und Funktionen. In:
Deutsch als Fremdsprache, 1. Quartal 2010/Heft 1, 10-16.
Krech, Eva-Maria; Stock, Eberhard; Hirschfeld, Ursula; Anders, Lutz Christian
(2009): Deutsches Aussprachewörterbuch. Berlin, New York: de Gruyter.
Müller, Beate (2004): Zu den Tonaufnahmen. In: Deutsches Historisches
Museum/Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt/Main — Potsdam-Babelsberg/
Institut für Sprechwissenschaft und Phonetik, Martin-Luther-Universität Halle-
Wittenberg (Hrsg.): Der Klang der zwanziger Jahre. Reden Reportagen Rezitationen
1920-1930 (Booklet der CD).
Reinke, Kerstin (2008): Zur Wirkung phonetischer Mittel in sachlich intendierter Sprechweise
bei Deutsch sprechenden Russen. (Hallesche Schriften zur Sprechwissenschaft und
Phonetik Bd. 26). Frankfurt/ Main: Peter Lang.
Stock, Eberhard (1996): Deutsche Intonation. Berlin, München: Langenscheidt.
Quellen der Audio- und Videodateien
Clairon, Elsa; Doutriaux, Ciaire (2005): les voeux/die Neujahrsansprachen. In:
Doutriaux, Ciaire: Karambolage. Une emission franco-allemande ludique et
impertinente I Eine deutsch-französische Sendung, frech und verspielt. DVD, Arte Video.
Die Prinzessin auf der Erbse: Deutsches Historisches Museum/Deutsches Rundfunk-
archiv, Frankfurt/Main - Potsdam-Babelsberg/Institut für Sprechwissenschaft
und Phonetik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Hrsg.) (2004): Der
Klang der zwanziger Jahre. Reden Reportagen Rezitationen 1920-1930 (CD).
Mein kleiner grüner Kaktus: http://www.youtube.com/watch?v=qBl_DDv7iF0
(letzter Zugriff: 10.05.2011)
Weihnachtsansprache 2010: http:/ /www.youtube.com/watch?v=qFaHVwJdQhk
(letzter Zugriff: 10.05.2011)
Copyrighted malerial
Copyrighted malerial
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und
DaF-Unterricht
Jens Grimstein
1 Einleitung
Aktuelle literaturdidaktische Diskussionen beziehen zunehmend auch kulturwis-
senschaftliche Fragestellungen mit in ihre Überlegungen ein. 1 Unter Berücksich-
tigung moderner Theorien eines erweiterten Textbegriffs wird das Medium Lite-
ratur verstärkt in seinen sozialen, anthropologischen und symbolsystematischen
Dimensionen betrachtet. Literatur erfüllt angesichts ihres Einflusses auf Wahr-
nehmung und Verhalten Einzelner lebenspraktische Bedürfnisse und erweitert so
ihre vormals begrenzte Stellung in der hermeneutischen Textwissenschaft. 2
Mit diesen neuen Prämissen bietet sich ein literarisches Genre zur Didakti-
sierung im Germanistik- und/oder DaF-Unterricht an: die Arbeiterliteratur. Bevor
im weiteren Verlauf konkrete Anwendungsbeispiele vorgestellt werden, soll zu-
nächst theoretisch erörtert werden: Was bezeichnet Arbeiterliteratur? Welchen
Stellenwert kann sie als historische Quelle beanspruchen? Und warum überhaupt
eignet sich Arbeiterliteratur für den Germanistik- oder DaF-Unterricht?
1 Vgl. Abraham; Kepser 2009: 10
2 Mit „Textwissenschaft" ist die analytische Beschäftigung mit in diesem Fall literarischen Texten
gemeint. Innerhalb eines Medienpluralismus der Humanwissenschaften wird damit der Literatur
neben beispielsweise dem Film, der Musik oder der Fotographie ein gleichberechtigter Rang einge-
räumt und jeweils jedes Medium innerhalb seiner eigenen Repräsentationsgrenzen bewertet.
Copyrighted malerial
116
Jens Grimstein
2 Arbeiterliteratur
In ihrer klassischen Ausprägung beschäftigt sich die Arbeiterliteratur 3 mit der Dar-
stellung von menschlichen Lebensverhältnissen innerhalb gesellschaftlich unter-
privilegierter Schichten unter besonderer Berücksichtigung ihrer beruflichen Tätig-
keiten. 4 Ihre stärkste Prägung fand die Arbeiterliteratur in den historischen und
sozialen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts, denen sie einen Großteil
ihrer Werke verdankt. Es sind vor allem die Arbeitsbedingungen des Industrie-
proletariats bis zum 2. Weltkrieg, die im Zentrum der Beschreibungen stehen. Auf
diese Weise bildete sich der originär-industrielle Typus des Arbeiters bzw. der Ar-
beiterin heraus, der bis heute Einfluss auf politische Diskurse hat. In Opposition
zum bürgerlichen Unternehmer (auch: Kapitalisten) definierte sich die Arbeiterlite-
ratur über ihre Protagonisten, die sie auf verschiedenen Ebenen mit gesellschaft-
lichen Problemen konfrontiert. In der literarischen Praxis entwickelte sich so eine
genrespezifische Poetik und Ästhetik der Arbeiterliteratur, die für die realen sozial-
politischen Veränderungen einen eigenen, mit einem politischen Impetus verbun-
denen künstlerischen Ausdruck fand. Gegenüber stärker kunsttheoretischen Bewe-
gungen wie der Romantik oder dem Symbolismus ist es ein erklärtes Anliegen der
klassischen Arbeiterliteratur, mittels literarischer Werke auf die soziopolitischen
und ökonomischen Verhältnisse einzuwirken.
Dies gelingt ihr in unterschiedlicher Qualität vor allem in dem Zeitraum
zwischen ca. 1850 und 1980, wobei ihre Hochphase in Europa zwischen 1880 und
1950 angesiedelt werden kann. Ihre thematischen Schwerpunkte fand sie für die
deutschsprachige Literatur insbesondere in den Epochen des Naturalismus, in der
Weimarer Republik/ Sachlichkeit sowie in der Literatur der DDR. Mit ihrer deut-
lichen gesellschaftlichen Ausrichtung steht die Arbeiterliteratur so in Teilen der
Aufklärung nah. Es geht ihr primär um die Emanzipationsbestrebungen einer
sozial vernachlässigten Klasse, deren politisches Bewusstsein durch die materiellen
Bedingungen nicht zur Entfaltung kommen kann. Eine historische und ideo-
logische Nähe der Arbeiterliteratur zum Historischen Materialismus und später zur
Kritischen Theorie zieht sich somit wie ein roter Faden durch die verschiedenen
Epochen, an denen sie partizipiert (vgl. Scholz 2007: 41f.). 5 Umso ironischer
3 Die Prämissen der Arbeiterliteratur für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sollen hier ausdrück-
lich nur auf die Literatur der BRD bezogen verstanden werden. Die Arbeiterliteratur der DDR wird
aus Gründen ihrer Vielfalt und ihrer politisch anders zu bewertenden Nähe zur staatlichen Doktrin
hier ausgeschlossen, da dies einen eigenen Artikel verlangen würde, der auf angemessene Weise die
DDR- Arbeiterliteratur und ihren Wert für den DaF- und Germanistikunterricht behandelt.
4 Vgl. dazu auch Goette 1975: 2. — In diesem in der BRD erschienen Band enthält sich der Heraus-
geber einer Definition der Arbeiterliteratur und versucht stattdessen, die Texte für sich sprechen zu
lassen.
5 Diese Verbindung findet im Selbstverständnis der klassischen Arbeiterliteratur ihren vorläufigen
Höhepunkt in den literarischen Werken der sozialistischen DDR, in der sie quasi als Hypostase
ihres teleologischen Programms auftritt. Nicht zufällig forderte die Kulturpolitik des „Bitterfelder
Weges" die schriftstellerische Tätigkeit der landwirtschaftlichen und industriellen Arbeiter, um im
Gegensatz die Künstler zur materiellen Produktionstätigkeit zu verpflichten.
Copyrighted malerial
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und DaF-Unterricht
117
nimmt sich die Tatsache aus, dass häufig die Autoren, die sich für die Belange der
Arbeiter/-innen einsetzten, aus bürgerlichen Kreisen stammten und auch als
Künstler diesem Milieu fest verhaftet blieben.
3 Warum Arbeiterliteratur?
3.1 Allgemeine kulturelle Gründe
Im Verlauf ihrer Entwicklung durchläuft die Arbeiterliteratur diverse Epochen,
präsentiert sich in unterschiedlichen Gattungen und variiert vielfältig ihr Thema.
Dadurch präsentiert sie ihren zentralen Begriff, die „Arbeit", in seiner Diskonti-
nuität und Wandelbarkeit und entfaltet ein beträchtliches historisches Reflexions-
potential. Eines der Leitmotive, die Arbeitsbedingungen, aber auch „Arbeit" selbst
zeigen sich in ihren diachronen Differenzen und machen so auf Kontexte
aufmerksam, die mithilfe moderner Theorie neu bewertet werden können, wie z.B.
das Funktionieren ökonomischer Zusammenhänge im Vergleich zur Rechtspre-
chung oder die Polyphonie literarischer Stimmen über Arbeit. Damit bietet die
Lektüre die Möglichkeit zur individuellen und kollektiven Sensibilisierung für die
Verhältnisse der Gegenwart, aber auch für die Fragen nach einer gerechten Welt
oder den (Un)Sinn von z.B. staatlich verwalteter Berufsausübung (oder Nicht-
ausübung).
Darüber hinaus vermittelt die Arbeiterliteratur konkretes geschichtliches
Wissen z.B. zu Gründungen und Entwicklungen politischer Parteien und Pro-
gramme. Sie kann als ein Verbreitungsmedium soziohistorischer Ereignisse be-
trachtet werden, deren größere Kontexte sie notwendigerweise als klassenüber-
greifendes Phänomen mitthematisiert. Arbeiterliteratur vermag die Gesetzmäßig-
keiten allgemeinen sozialen Wandels kritisch zu prüfen und auf Zukunfts fragen hin
auszurichten. Mit dieser inhärenten pädagogischen Ausrichtung eignet sie sich ins-
besondere für aktuelle Debatten über die Abläufe in und um Ausbildungsinsti-
tutionen wie Schulen oder Universitäten.
3.2 Gründe für den Mutter- und Fremdsprachenunterricht
Aus der oben beschrieben Ästhetik und Poetik der Arbeiterliteratur ergeben sich
weitere theoretische Anschlüsse bezüglich ihrer Repräsentationseigenschaften. 6 Mit
dem Anspruch, die soziale und politische Wirklichkeit für eine bestimmte soziale
Gruppe verändern zu wollen, bedient sich die Arbeiterliteratur eines vielfältigen
Inventars an literarischen Formen, denen gattungstechnisch bestimmte Funktionen
zugeschrieben werden. Dazu gehören u.a. politische Lyrik, dramatische Texte,
6 Dabei sollen ideologieaffine Stellungnahmen wie die Goettes zugunsten einer pluralistischen
Perspektive auf die didaktischen und politischen Einflüsse vermieden werden, vgl. Goette 1975: 2f.
118
Jens Grimstein
autobiographische und satirische Schriften sowie journalistische Reportagen und
allgemein Berichte. Ihre Textsortenvielfalt bietet für einen sprach- und textorien-
tierten Germanistik- oder DaF-Unterricht eine Breite an schriftlichen Übungen
und Ausdrucksformen, die für ein differenziertes, tiefschichtiges Verstehen (im
Falle der Germanistik bei Muttersprachlern) und sprachorientiertes Lernen (im
Falle des DaF-Unterrichts) relevant sind. Eine literarische Form kann hierbei
unterschiedliche Fertigkeiten anregen, wenn z.B. anhand eines journalistischen Be
von E.E. Kisch oder G. Wallraff beobachtendes und kommentierendes Schreiben
geübt werden.
4 Arbeiterliteratur als historische Quelle
Mit dem Verweis auf Epochen und Entwicklungen innerhalb der Arbeiterliteratur
wird eines ihrer Charakteristika hervorgehoben: Arbeiterliteratur kann neben einer
synchronen, d.h. je nach Zeitabschnitt gegenwartsbezogenen Lektüre auch schwer-
punktmäßig aus einem historischen Interesse gelesen werden. Diese Historizität
bedarf einer Klärung ihres geschichtswissenschaftlichen Wertes, d.h. ihres Status
als historische Quelle. Unter welchen Bedingungen kann die Arbeiterliteratur einen
Beitrag für historische Studien leisten? Und was sind die Merkmale einer histo-
rischen Quelle?
4.1 Primär- oder Sekundärquelle?
Eine grundlegende Unterscheidung in der Geschichtswissenschaft betrifft die
Klassifizierung eines Gegenstandes als Quelle 7 (vgl. Jordan 2005: 49 ff.). Man
differenziert hierbei in der Regel zwischen Primär- und Sekundärquellen. Als
Quelle gilt zunächst aus historischer Perspektive, was mittelbar oder unmittelbar
mit der zur erforschenden Zeit in Verbindung steht. 8 Inwiefern ein Text der Arbei-
terliteratur aus Sicht einer Quellenklassifikation in Betracht kommt, hängt vom
Untersuchungsgegenstand ab. Da sich meist das Interesse, sei es literaturwissen-
schaftlicher oder didaktischer Natur, auf den Text als solchen bezieht, gehört er zu
den Primärquellen. Lediglich bei einem Untersuchungsgegenstand, bei dem ein
7 Als Quelle kann prinzipiell alles gelten, was für das Verständnis eines historischen Sachbestands
bedeutsam ist, also sowohl schriftliche Zeugnisse allgemein als auch auditive und visuelle Medien.
Vgl. dazu auch die Beiträge von Marc Hieronimus (Einleitung) und Thomas Roth in diesem Band.
8 Als Beispiele für den Unterschied Primärquelle (1) und Sekundärquelle (2) können dienen: 1) z.B.
eine Reportage E.E. Kischs über die Stahlindustrie im Ruhrgebiet der 1920er Jahre, in welcher die
journalistische Darstellung der Zustände interessiert, d.h. wie Kisch seinen Gegenstand beschreibt;
2) wenn besagte Reportage bei einer Untersuchung der realen Arbeitsbedingungen in den Stahl-
werken im Ruhrgebiet als Kontext herangezogen wird, aber nicht ausschlaggebend für die Unter-
suchung ist. — Ein besonderer Fall dieser Quellenlage für die Literaturwissenschaft könnte „In
Stahlgewittern" von Ernst Jünger darstellen, welches einerseits als authentisches Kriegstagebuch
verfasst, anschließend aber in zahlreichen Überarbeitungen publiziert wurde.
Copyrighted malerial
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und DaF-Unterricht
119
Text der Arbeiterliteratur assistierend für dessen Verständnis von Belang ist, wird
von einer Sekundärquelle gesprochen.
Für die Arbeiterliteratur gilt in dieser Hinsicht, dass sie je nach Lese- und For-
schungsinteresse, sofern es sich aus historischem Anliegen auf einen bestimmten
Zeitraum bezieht, in beiden Fällen als Quelle für die damaligen Lebens-
bedingungen der Menschen gewertet werden kann. Ihre Motivation, der Wirklich-
keit ein möglichst getreues Abbild zu verschaffen, steht hierbei in Spannung zu
ihrem Status als fiktionalem Text. Die Arbeiterliteratur nimmt hier einen Sonderfall
ein: Einerseits hat sie den Anspruch, die Arbeitswelt durch ihre literarischen
Formen und ihre Bezugnahme auf reale Probleme empirisch abzubilden; anderer-
seits teilt sie das Schicksal einer sich auch als Kunstform verstehenden Literatur,
die bewusst ästhetisch Gebrauch von rhetorischen und narrativen Instrumenten
macht. 9 Damit verweisen die Werke der Arbeiterliteratur auf einen weiteren
Zusammenhang in ihrer Funktion als historische Quelle.
4.2 Kulturwissenschaftliche Quelle
Der amerikanische Anglist Louis A. Monrose prägte einen Chiasmus, der die
Beziehung von Geschichte und Literatur, d.h. Texten, auf den Punkt bringt: Die
„Geschichtlichkeit von Texten und die Textualität von Geschichte" (Monrose
2001: 67) verbindet ein genuin kulturwissenschaftliches Interesse zweier erkennt-
nistheoretischer Leitbegriffe. Dieses aus dem New Historicism 10 kommende Bonmot
verweist auf die Rückführung literarischer Phänomene auf kulturelle Kräfte, denen
sie wechselseitig entstammen. Es sind demnach besondere, von bestimmten Kon-
texten abhängige soziale Umstände, die in einem literarischen Text ihre signifi-
kanten Spuren hinterlassen. Umgekehrt beeinflusst die Literatur wiederum ihre
Kultur und damit die auf sie einwirkenden sozialen Bedingungen. Mag dieser
Zusammenhang einer wechselseitigen Beeinflussung auch zunächst banal
erscheinen, zeigt sich doch im Einzelfall die Unhintergehbarkeit dieses Gedankens.
Gerade Werke, die der Arbeiterliteratur zuzurechnen sind, haben in besonderem
Maße und zweifachem Sinn die „sozialen Energien" (so ein Ausdruck Stephen
Greenblatts) ihrer Zeit aufgenommen und künstlerisch verarbeitet, um wiederum
Einfluss auf die Arbeiterbewegungen zu nehmen. Aus den Straßenkämpfen des
9 So zeugen Brechts „Episches Theater" der mittleren, marxistisch geprägten Werkphase oder Pisca-
tors experimentelles Agitprop-Theater eindrucksvoll davon.
10 Mit der Erfolgsgeschichte der Foucaultschen Diskursanalyse entwickelten sich auch theoretische
Ableger wie der besagte „New Historicism". Berühmtester Vertreter ist der Literaturtheoretiker
Stephen Greenblatt, der vor allem mit seinen Shakespeare-Studien großen Erfolg hatte (Greenblatt
1993). Leitgedanke des New Historicism ist vor allem die Annahme einer dynamischen Natur
literarischer Werke und ihr reziprokes Verhältnis zu ihrer nächsten Umgebung, die maßgeblich an
ihrer Entstehung beteiligt ist. — Als geschichtswissenschaftliches Pendant zum Zusammenhang
Geschichte und Literatur kann Hayden Whites These von der Poetik der Geschichte gelten,
wonach er Geschichtsschreibung in ihrer Eigenschaft als Narration untersucht, vgl. White 1991.
Zur Verwendung kulturwissenschaftlicher Inhalte im Deutschunterricht siehe Raith 2009.
Copyrighted malerial
120
Jens Grimstein
Proletariats entstandene und später aufgezeichnete Lieder, von Arbeitern verfasste
Autobiographien, Dramentexte und journalistische Texte, aber auch die Aneignung
literarischer Werke für die eigene Sache geben hiervon Zeugnis.
Für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung kann die Arbeiterliteratur
somit einen Beitrag dazu leisten, die Schnittstellen und Bündelungen von symbo-
lischen Ordnungen, in denen sich sozioökonomische und politische Prozesse kreu-
zen, zu sammeln und hervorzuheben. Eine literarische Gattung stellt hierbei einen
wortwörtlichen Kontext bereit, der das Verständnis historischer Phänomene er-
weitert. Dass ein solcher auch für konkrete Sprachvermittlungsmaßnahmen zur
Verfügung steht, soll nun mit Beispielen verdeutlicht werden.
5 Anwendungsbeispiele für Arbeiterliteratur im Germanistik-
und DaF-Unterricht
Im Folgenden werden für die oben beschriebenen Erläuterungen drei Unterrichts-
beispiele vorgestellt, um die didaktische Funktionalität der Arbeiterliteratur dar-
zustellen. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf die Textsortendidaktik gelegt
werden, d.h. das Üben und/oder Vertiefen bereits erlernter Kenntnisse anhand
schrifdicher Aufgaben mit den gattungsdifferenten Texten der Arbeiterliteratur.
Wichtig ist zu betonen, dass die einzelnen Übungen keine in sich abgeschlossene
Unterrichtseinheit darstellen, sondern als anwendungsorientierte Einzelbeispiele
gedacht sind, die sich, z.B. als Impulsgeber, in einen umfangreicheren Kontext
„Arbeit" oder „Arbeiterliteratur" integrieren lassen. 11 Hierbei bietet sich im Übri-
gen ein interdisziplinärer Austausch mit Nachbardisziplinen wie Geschichte oder
Sozialwissenschaften an.
5.1 Gegenstand
Die Übungen decken die drei literarischen Hauptgattungen Lyrik, Drama und Epik
ab, d.h. ein Gedicht, ein Theater- und ein Prosatext werden drei (literatur)histo-
rischen Epochen zugeordnet. Das Gedicht „Kinderlied für Arbeitslose" wurde
gegen Ende der Weimarer Republik vom Lyriker und Kinderbuchautor Erich
Kästner verfasst. Der Dramenbeitrag des Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann
ist ein Auszug aus seinem frühen naturalistischen Erfolgsstück „Vor Sonnen-
aufgang" aus den späten 1880er Jahren. Kathrin Rögglas Prosatext „Wir schlafen
nicht" aus dem Jahr 2006 kann der aktuellen Gegenwartsliteratur zugerechnet
werden. 12
11 Aus diesen Gründen wird auch auf eine tabellarische Unterrichtsübersicht, wie sie für Lehr-
einheiten üblich ist, verzichtet; es werden nur die didaktisch relevanten Kriterien am Anfang jeder
Übung genannt.
12 Literaturgeschichtlich hat sich für Texte aus diesem Zeitraum noch kein mehrheitsfähiges Epo-
chenetikett durchsetzen können. Will man nichtsdestotrotz eine Epochenbezeichnung, dann bietet
sich wohl das höchst undeutliche Kennwort „Postmoderne" an.
Copyrighted malerial
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und DaF-Unterricht
121
5.2 Thema und Lernerinteresse
Die drei genannten Textbeispiele stellen aufgrund ihrer Gattungsdifferenzen unter-
schiedliche didaktische und ästhetische Herausforderungen dar. Dramatische und
epische Texte finden bei Lernern und Lehrern häufig eine stärkere Resonanz als
lyrische Werke. Dennoch darf die Bedeutung lyrischer Formen nicht unterschätzt
werden, wie schon Abraham und Kepser (2009: 15 Off.) erläutern: Die drei alltäg-
lichen Ausdrucksformen Kinderreim, Poetry Slam und (Pop-)Musik verwenden sie
intensiv, darüber hinaus stellt aber die Lyrik eine oft gebrauchte Grundlage zur
Darbietung der Arbeiterliteratur dar. 13 Nicht minder zahlreich sind daneben die
Prosawerke und Dramen der Arbeiterliteratur. Hier dürften also bei den drei
Gattungen verschiedene Interessen seitens der Lehrenden und Lernenden bedient
werden.
Lyrik, Drama und Prosa vermitteln daneben auch unterschiedliche Rezeptions-
angebote, die sich wiederum aus didaktischer Sicht mit der Frage nach dem Bezug
zur — auch beruflichen — Lebenswirklichkeit verbinden lassen. Anders gefragt:
Welche für den (Arbeits) all tag eines Lerners notwendigen kommunikativen Fertig-
keiten stellt die Auseinandersetzung mit Arbeiterliteratur zur Verfügung? Jede
Textsorte setzt hierfür andere Schwerpunkte. Dramentexte fordern dialogisches
Sprechen und szenisches Verhalten und bieten eine Grundlage für phonetische
Aufgaben. Prosatexte bedienen alltägliche Lesegewohnheiten (man denke z.B. an
Zeitungen oder Erläuterungen) und sind aufgrund ihrer Gattungsbreite (Essay,
Bericht, Aufsatz, Kommentar usw.), zumal in einer Fremdsprache, ein nicht leicht
zu beherrschendes Format. Lyrik verfügt formal und inhaltlich über Mittel, die den
Rezipienten für sprachliche und rhythmische Qualitäten einer Sprache in seiner
Sprachwahrnehmung sensibilisieren, indem hier „mit wenigen Worten viel gesagt
werden kann." 14 Dementsprechend verfolgen die Übungen das Ziel, die Stoffe
über die rezeptionsästhetische und textgebundene Beschäftigung hinaus für lebens-
praktische Bereiche nutzbar zu machen. Es sei dennoch bemerkt: Es handelt sich
bei dieser Angelegenheit immer noch primär um eine literarische Ressource, die
Impulse für eine produktions- und handlungsorientierte Didaktik geben kann.
Lernerfolge bei der Beschäftigung mit Arbeiterliteratur können die kommunika-
tiven Kompetenzen des Lerners sensibilisieren und im Idealfall bei einer späteren
Berufsausübung unterstützend wirken. Dies allerdings gilt auch für viele andere
Bereiche der (Fremd-) Sprachendidaktik.
13 So schrieben Heinrich Heine und Georg Herwegh und später Brecht, Johannes R. Becher oder
Wolf Biermann (neben den vielen Arbeiterliedern weniger prominenter Autoren) eine Vielzahl von
Gedichten zum Thema Arbeit.
14 Abraham; Kepser 2009: 150.
Copyrighted malerial
122
Jens Grimstein
5.3 Lerngruppe und Lernziel
Die folgenden Aufgaben sind für eine Lerngruppe nach den GER-Kriterien des
Niveaus B2 konzipiert. Zeit, Material und Sozialformen werden jeweils genannt.
Die Begründung für die genannte Niveaustufe ist, dass diese Stufe für den Germa-
nistikunterricht auch für Muttersprachler noch ausreichend Arbeitsanreize bietet,
und in den meisten Fällen können die Aufgaben seitens der Lehrkraft ohne große
Anstrengungen auf ein höheres Niveau gehoben werden, indem die Arbeits-
anweisungen geringfügig verändert werden. Andererseits darf ein Niveau B2 bei
Fremdsprachenlernern für den Abschluss einer Licence 3 (z.B. im Falle Frank-
reichs) vorausgesetzt werden; häufig aber lassen sich mit ebenfalls veränderter
Arbeits anweisung die Übungen leicht nach unten, d.h. auf Niveau Bl verlegen und
so dem Lernerniveau anpassen. Niedrigere Niveaus als die genannten kommen für
eine Nutzung nicht in Betracht, da ein angemessenes Verständnis literarischer
Werke dort mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geleistet wird. 15 Für den mutter-
sprachlichen Unterricht beziehen sich die didaktischen Vorschläge vor allem auf
den schulischen Bereich der Sekundarstufen I (Klassen 9 und 10) und II.
Jedem Textbeispiel wurden verschiedene Aufgaben beigefügt, die allerdings
zusammen keinen thematischen oder didaktischen Zusammenhang bilden. Viel-
mehr sollen die Aufgaben einzeln für sich stehen und so für die Einzelstunde
Material zum Thema bieten. Statt einer in sich geschlossenen Unterrichtseinheit
zum Thema, die man idealerweise unter strukturell stabilen und regelmäßigen
Lehrbedingungen durchführen kann, sollen die Einzelaufgaben dem Umstand
Rechnung tragen, dass sich längere Unterrichtseinheiten gerade nicht immer
problemlos in den Lehralltag integrieren lassen.
Als Lernziel sollen die Lerner bei der sprach- und formanalytischen Aufarbei-
tung anhand einer oder mehrer Textsorten zum Themenkomplex Arbeiterliteratur
kulturelle Problemzusammenhänge kennen lernen und vor dem Hintergrund ihrer
sprachlichen Kompetenz in einen neuen, sprachlich alltagspraktisch relevanten
Zusammenhang transportieren können. Sie tun dies im Einzelnen, indem sie
- mit den historischen Texten ihr Weltwissen reaktivieren,
- anhand konkreter sprachlicher Formen Grammatik und Bedeutung des
Textes untersuchen und
- die zentrale Thematik Arbeit in neue sprachlich fundierte Handlungsmuster
ihrer Lebenswirklichkeit überführen.
5.4 Unterrichtsbeispiele
Folgende drei Übungen werden exemplarisch für eine Nutzung der Arbeiter-
literatur im DaF- und Germanistikunterricht beschrieben:
15 Für Beispiele dieser Art vgl. Abraham; Kepser 2009: 150-160.
Copyrighted malerial
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und DaF-Unterricht
123
Prosa - Kathrin Röggla: „Wir schlafen nicht" (Auszug)
Lyrik - Erich Kästner: „Kinderlied für Arbeitslose"
Drama - Gerhart Hauptmann: „Vor Sonnenaufgang" (Auszug)
/. Rögg/a, „Wir schlafen nicht"
Textauszug: 16
Reinkommen (die Praktikantin)
„Und wieder kennen sich andere aus mit Vorständen und Aufsichtsräten."
Und wieder sei sie nicht dabei. Ihr sei immer noch keine Firmenvergangenheit
zur Hand, obwohl sie alles versucht habe. Dabei wolle sie doch gute PR- Arbeit
machen, dabei wolle sie doch irgendwann ein guter Coach sein oder Kunden
gut beraten, „was weiß ich". Heute müsse man eben für alles offen sein, müsse
man sich auf alles einstellen können.
Ja, so eine Verlagsvergangenheit würde sie gerne zusammenbringen wie
Frau Mertens, oder eine Medienvergangenheit wie Frau Bülow, oder eine
Beratervergangenheit wie Herr Bender. Aber von einer Pressestelle könne man
heute nur noch träumen, so von einer Fixanstellung mit vernünftigem Gehalt.
Nur noch träumen könne man von einer Stelle in einer Agentur und mit-
geträumt sei dann immer auch schon eine kleine Vergangenheit, ein kleiner
Erfahrungsschatz, den man austauschen kann.
Aber die anderen hätten ja alle Eltern. Die anderen hätten ihre
Steuerberatereltern und Wirtschaftsprüfereltern, bei denen sie ein und aus
gingen und die ihnen bezahlte Praktikumsplätze und Volontariate verschafften.
Die anderen hätten ihre Eltern, so besorgende, besorgte und übersorgte, und
sie habe eben keine Eltern. Zumindest nicht in dem Sinn, also keine Steuer-
berater-, keine Wirtschaftsprüfer-, und keine Unternehmensberatereltern. Gder
Zahnarzteltern. Kleinbürgereitern, das ja, das könne man schon sagen, also
praktisch nicht existierende, zumindest, was ihre berufliche Situation betreffe.
In Wirklichkeit brauche man wieder richtige Eltern. Das müsse sie jetzt
einmal laut sagen, aber das glaube ihr niemand, genauso wenig wie jemand
glaube, dass sie keine Krankenversicherung hat.
Z.B. ihre Eltern verstünden das nicht. Die würden immer nur sagen, es
müsste doch möglich sein, einen Job zu finden, bei dem man Geld verdienen
könne und nicht nur ein unbezahltes Praktikum.
Röggla 2006: 87-92. — Für den vorliegenden Textauszug wurden behutsame Veränderungen im
Originaltext zur eindeutigeren didaktischen Aufbereitung unternommen: Benutzung der Groß- und
Kleinschreibung sowie Ersetzung des Konjunktivs durch den Indikativ. Auch sind einzelne Sätze,
kürzere Satzteile oder kürzere Paragraphen weggelassen worden und stattdessen durch die Absätze
angegeben. Zur Vollständigkeit wird auf den Originaltext verwiesen.
Copyrighted malerial
124
Jens Grimstein
Außerdem wolle sie ja gar nicht ins Consulting-Business hinein, da habe
man sie schon richtig verstanden, sie habe da auch nichts verloren, aber wo-
anders sei kein Job zu holen gewesen. Ja, was solle sie schon groß sagen, das ist
nur ein Idiotenjob, den sie hier mache, und selbst der sei unbezahlt.
Nein, sie wisse nicht, zu was sie bereit wäre, um einen Job zu kriegen, das
wisse sie nicht, sie vermute mal, zu einigem.
Glossar:
der Vorstand (PL die Vorstände): eine Kommission von Personen, die ein Unter-
nehmen führen, z.B. ein Direktor.
der Aufsichtsrat (PL die Aufsichträte): eine Kommission in einem Unternehmen, die
den Vorstand kontrolliert.
die PRArbeit (Public Relations): Kommunikation einer Firma mit der Öffent-
lichkeit.
der Berater (PI. die -,er): ein Angestellter einer Firma, der einem Unternehmen mit
wirtschaftiichen Problemen hilft.
der Steuerberater (PL die -,er): jemand, der Unternehmen und Privatpersonen bei
Steuerfragen hilft.
der Wirtschaftsprüfer (PL die -,er): jemand, der die wirtschaftliche Existenz einer
Firma kontrolliert.
Aufgabe 1:
Zeit: ca. 10 Minuten
Sozialform: Einzelarbeit
Lernziel: Grammatische Formen der direkten und indirekten Rede
Fassen Sie die Aussagen der Praktikantin zusammen. Benutzen Sie dafür die
indirekte Rede und setzen Sie die konjunktivischen Verbformen in den Indikativ
Präsens. Variieren Sie die Verben, die den Relativsatz einleiten. Bsp.: „.Ihr sei
immer noch keine Firmenvergangenheit zur Hand, obwohl sie alles versucht habe"
wird zu „Sie sagt, dass ihr immer noch keine Firmenvergangenheit zur Hand ist,
obwohl sie alles versucht hat."
Aufgabe 2:
Zeit: ca. 40 Minuten
Sozialform: Partnerarbeit
Lernziel: freies Sprechen, einen Dialog führen, Ratschläge geben
Entwerfen Sie stichwortartig Sprechhandlungsanweisungen für einen drehbuch-
artigen Dialog mit einem Teilnehmer und verteilen sie folgende Rollen: 1 . die Rolle
der Praktikantin; 2. die Rolle einer Freundin /eines Freundes.
Copyrighted malerial
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und DaF-Unterricht
125
Die Freundin/der Freund soll in einem frei gesprochenen Dialog der Prakti-
kantin persönliche Ratschläge für ihre Situation geben. Wiederholen Sie im Dialog
auch Aussagen zu Ratschlägen wie „Uberleg doch mal, X oder Y zu machen"; „Du
könntest/du solltest..."; „Geh doch einfach mal zu/zum...", „Wie findest du denn
die Idee, ...."; Hast du schon an X gedacht?"; „Ich würde dir raten,...."
Bsp.: Praktikantin: (Stichwort Sprechhandlungsanweisung: „unsicher, nach-
denklich"): „Irgendwie ist alles etwas komisch zur Zeit."
Freundin: (auf sie eingehend, interessiert): „Was ist los? Warum machst du so
einen traurigen Eindruck?"
Aufgabe 3:
Zeit: ca. 10 Minuten
Sozialform: Einzelarbeit, auch Partnerarbeit möglich
Lernziel: sprachliche Abstraktion von einem Text in Form von Stichworten
Extrahieren Sie in Stichworten die Haltung der Protagonistin zur Arbeitswelt. Bsp.:
„Ihr sei immer noch keine Firmenvergangenheit zur Hand, obwohl sie alles ver-
sucht habe" wird zu „kein Glück bei der Jobsuche, trotz großer Motivation".
Aufgabe 4:
Zeit: ca. 60 Minuten
Sozialform: Partnerarbeit und anschließend Gruppenarbeit
Lernziel: freies Sprechen, Erstellen/Verbalisieren von Argumenten
Katrin Rögglas Textausschnitt zeigt nicht nur die Zweifel einer jungen Frau an
ihren Fähigkeiten, sondern auch den mangelnden Glauben an einen Arbeitsmarkt,
der Berufseinsteigern kaum noch reale Chancen einräumt, sich durch gute Leistung
beruflich zu etablieren oder aufzusteigen.
Aber es gibt sicherlich auch Menschen, die z.B. in freien oder kreativen
Berufen tätig sind und die ihre Arbeit mögen. Die Aufgabe ist es, als Gruppe in
einem freien Vortrag den anderen Teilnehmern den Beruf zu empfehlen und
positiv darzustellen. Bilden Sie also fünf Gruppen ä zwei bis drei Lerner und
übernehmen Sie folgende berufliche Rollen: 17
Gruppe 1 = Angestellte(r) der Arbeitsagentur/ Arbeitsvermittlung,
Gruppe 2 = Coaches,
Gruppe 3 = Kundenberater,
Gruppe 4 = PR-Fachmann,
17 Berufsbezeichnungen sollten hier ggf. von der Lehrkraft vorher erklärt und evtl. anhand von
Beispielen erläutert werden, z.B. mit Beschreibungen dieser Berufe von Seiten der Arbeitsagentur
oder der entsprechenden Verbände.
Copyrighted malerial
126
Jens Grimstein
Gruppe 5 = Jury.
Notieren Sie nun in ihrer Gruppe (Ausnahme: die Jury!) Argumente für ihre Rolle,
d.h. für den Beruf als Coach, Kundenberater, Angestellter der Arbeitsagentur oder
PR-Fachmann. Bsp.: „Ich arbeite als Coach, weil ich die Fähigkeiten einer Person
im Beruf fördern möchte"/„Ich arbeite als PR-Fachmann, weil mich Kommu-
nikation und Öffentlichkeit interessieren." Präsentieren Sie nun in Gruppe 1 bis 4
nacheinander ihre Argumente so überzeugend wie möglich vor der Jury. Die Jury-
Gruppe soll am Ende anhand der besten Argumentationen die Gewinnergruppe
aussuchen.
2. Kästner, „Kinderlied für Arbeitslose"
Text: 18
Schlafzimmer habt ihr immer noch keins.
Doch Kinder kriegt ihr fast jedes Jahr eins.
Warum ihr das wohl tut?
Euch geht's wohl zu gut?
Der letzte Groschen wird verfeuert.
Der Vater wird bald ausgesteuert.
Das Hinterhaus ist voll Geschrei.
Eia popeia, eia popeia —
Von wegen Eiapopei!
2)
Die Dummheit sollte Grenzen haben.
Was sollen denn die vielen Knaben?
Sie werden erstens groß
Und zweites arbeitslos.
Wann werdet ihr denn nur gescheit?
Ihr seid nicht mehr, je mehr ihr seid!
Was soll die ewige Fortpflanzerei?
Eia popeia, eia popeia —
Von wegen Eia popei!
18 Kästner 1987: 43-44.
Copyrighted malerial
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und DaF-Unterricht
127
3)
Und jeder hat Töchter, und jeder hat Söhne.
Und immer tiefer drückt man die Löhne.
Las st doch die Kindereien!
Begnügt euch mit einem und zweien.
Ihr seid der Bund der Kinderreichen.
Ihr liefert für die Zukunft Leichen.
Ihr liefert dem Elend frei ins Haus.
Eia poeia, eia popeia —
Schlaft ein? Nein! Schlaft aus!
Glossar:
Groschen: früheres Zahlungsmittel vor der Einführung der D-Mark 1949.
Aussteuern: hier: jemandem kündigen und ihm einen letzten Geldbetrag auszahlen.
Eia poeia: Reim aus einem Kinderlied.
Leiche: ein toter Körper.
Aufgabe 1:
Zeit: ca. 20 Minuten
Sozialformen: Einzelarbeit
Lernziel: Bewerten und Begründen von Aussagen
Sehen Sie sich die Überschriften an. Welche Meldungen passen Ihrer Meinung
nach am besten zu dem Gedicht? Begründen Sie ihre Wahl. Verwenden Sie auch
mindestens einmal kausale Konjunktionen (weil, da) oder Präpositionen-Nomen-
Konstruktionen (aufgrund/wegen + Genetiv; aus/vor + Dativ) und achten sie auf
die Position des Verbs.
„FAZ" (Februar 2007): Schulessen für Hartz-IV-Kinder
„BILD-Zeitung" (Mai 2009): Kinderkriegen sollte nicht durch
Sozialleistungen lukrativ gemacht werden
„Thüringer-Allgemeine Online" (Juli 2010): Debatte um kostenlose
Verhütung für Hartz-IV-Empfänger
„Merkur Online" (Januar 2010): Von der Leyen besteht auf Kindergeld-
Rückzahlung von Hartz-IV-Empfängern
„Der Tagesspiegel Online" (Juni 2010): Dann lieber Abtreiben. Kinder
kriegen trotz unsicherer Jobs?
„Handelsblatt" (Juli 2010): Haushalte mit Kindern sollten nicht mehr Geld
bekommen. Allerdings über Gutscheine und Direktzahlungen Schul-Essen
für Kinder
„Die Welt Online" (Dezember 2010): Familien brauchen wieder mehr
Planungs Sicherheit
Copyrighted malerial
128
Jens Grimstein
Aufgabe 2:
Zeit:
Sozialform:
Lernziel:
ca. 90 Minuten
Einzelarbeit, die auch Partnerarbeit sein kann/ darf
Erstellung eines tabellarischen Lebenslaufs, poetikaffine Übungen
(Produktion von Elfchen, eines Hip-Hop-Textes)
1. Wer könnte die Person hinter den Zeilen 1-7 jeder Strophe sein, an die sich
der Sprecher des Gedichts wendet? Aus welchem sozialen Umfeld kommt er/ sie?
Was für einen Beruf könnte er/sie haben? Ist er/sie arbeitslos? - was für eine
Arbeit sucht die Person? Entwickeln Sie schriftlich einen tabellarischen Lebens-
lauf. 19
2. Notieren Sie am (von der Lehrkraft vorher an die Tafel gezeichneten!) Wort-
igel ihre spontanen Assoziationen zum Thema „Arbeit" und „Arbeitslosigkeit".
Schreiben Sie anschließend ein Elfchen in Partnerarbeit. Ein Elfchen ist ein
Gedicht, in dem es höchstens elf Wörter gibt und in deren
1 . Zeile - ein Wort
2. Zeile — zwei Wörter
3. Zeile — drei Wörter
4. Zeile — vier Wörter
5. Zeile - ein Wort
stehen/steht.
3. Verwandeln Sie schließlich das Elfchen in einen rhythmischen Text, d.h. ein
Gedicht oder einen Hip-Hop-Song, und erzählen Sie darin die Kurzbiographie
Ihrer Person aus Aufgabe 1 nach.
3. Hauptmann, „Vor Sonnenaufgang"
Textauszug (Dritter Akt): 20
HOFFMANN: Sag mal, Loth, was führt dich eigentlich in unsere Gegend?
Ich hab' bisher ganz vergessen, dich danach zu fragen.
LOTH: Ich möchte die hiesigen Verhältnisse studieren.
HOFFMANN: Bitte...? ... Was für Verhältnisse?
LOTH: Präzise gesprochen: Ich will die Lage der hiesigen Bergleute
studieren.
HOFFMANN: Ach, die ist im allgemeinen doch eine sehr gute.
19 Musterbeispiele und Konzeption tabellarischer Lebensläufe sollten je nach Lernervorwissen vor
der Übungsdurchführung eingeführt werden.
20 Hauptmann 1999: 70-72. Das Stück würde 1889 in Berlin uraufgeführt und veröffentlicht.
Copyrighted malerial
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und DaF-Unterricht
129
LOTH: Glaubst du? - Das wäre ja übrigens recht schön... Doch eh ich's
vergesse: du musst mir dabei einen Dienst leisten. Du kannst dich um die
Volkswirtschaft sehr verdient machen, wenn...
HOFFMANN: Ich? I! wieso ich?
LOTH: Nun, du hast doch den Verschleiß der hiesigen Gruben?
HOFFMANN: Ja! und was dann?
LOTH: Dann wird es dir auch ein leichtes sein, mir die Erlaubnis zur
Besichtigung der Gruben auszuwirken. Das heißt: ich will mindestens vier
Wochen lang täglich einfahren, damit ich den Betrieb einigermaßen
kennenlerne.
HOFFMANN: Was du da unten zu sehen bekommst, willst du dann wohl
schildern?
LOTH: Ja. Meine Arbeit soll vorzugsweise eine deskriptive werden.
HOFFMANN: Das tut mir nun wirklich leid, mit der Sache habe ich gar
nichts zu tun. - Du willst bloß über die Bergleute schreiben, wie?
LOTH: Aus dieser Frage hört man, dass du kein Volkswirtschaftler bist.
HOFFMANN: Bitte sehr um Entschuldigung. Du wirst mir wohl
zutrauen... Warum? Ich sehe nicht ein, wieso man diese Frage nicht tun
kann? — und schließlich: es wäre kein Wunder... Alles kann man nicht
wissen.
LOTH: Na, beruhige dich nur, die Sache ist einfach die: wenn ich die Lage
der hiesigen Bergarbeiter studieren will, so ist es unumgänglich, auch alle
Verhältnisse, welche diese Lage bedingen, zu berühren.
HOFFMANN: In solchen Schriften wird mitunter schauderhaft
übertrieben.
LOTH: Von diesem Fehler gedenke ich mich freizuhalten.
Glossar:
hiesig, hier befindlich, ansässig
Grube: ein Bergbau
Verschleiß: Verbrauch
schauderhaft, schrecklich, sehr
Aufgabe 1:
Zeit:
Material:
Sozialform:
Lernziel:
ca. 20 Minuten
ggf. Computer mit Internetzugang & Email- Account des Lerners
Einzelarbeit
Schriftliches Erstellen einer Kurzbiographie
Suchen Sie sich einen Partner und verteilen Sie die Rollen untereinander.
Entwerfen Sie auf Grundlage der vorliegenden Zeilen für ihre Rolle eine Kurz-
biographie (Name, Alter, Herkunft, Studium/Ausbildung, Familie, wichtige Reisen,
Copyrighted malerial
130
Jens Grimstein
Berufserfahrungen, persönliche Interessen und anderes). 21 Lesen Sie anschließend
mit einem Partner zusammen die Szene in ihren jeweiligen Rollen. Uberlegen Sie
außerdem: Wie würden Sie ihre Figur stimmlich klingen lassen?
Aufgabe 2:
Zeit: ca. 15 Minuten
Sozialform: Einzelarbeit
Lernziel: Schreiben einer offiziellen Email
Angenommen, die Szene würde in der Gegenwart spielen: Formulieren Sie eine
Email 22 aus der Sicht des Chefs (= Herr Hoffmann) an seine Mitarbeiter, in der Sie
die Belegschaft über den Studienbesuch des Volkswissenschaftlers (= Dr. Alfred
Loth) informieren. Bringen Sie dabei auch Hoffmanns Zurückhaltung als Firmen-
chef gegenüber dem Besuch in der Email unter.
Aufgabe 3:
Zeit: ca. 45 Minuten
Sozialform: Einzelarbeit
Lernziel: Lese- und Textverständnis, schriftlicher Ausdruck und schrift-
liches Bewerten von Texten
Die folgenden drei Auszüge sprechen jeweils von „Arbeit". Nennen Sie schriftlich
die Unterschiede der drei Texte zueinander (ca. 250 - 350 Wörter).
Die Figur Loth sagt im Hauptmann-Text den Satz „...du hast doch den Ver-
schleiß der hiesigen Gruben". Was meint er damit? Auf welchen der drei folgenden
Texte trifft der Satz am meisten zu? Begründen Sie ihre Wahl schriftlich.
Lesen Sie die drei Texte:
1. Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. (Erfurt 1891,
Auszug)
Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Natur-
nothwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das
Privateigenthum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt
21 Beispiele und Übungen zu Kurzbiographie bzw. Kurzporträt (Name, Geburtsdatum, Herkunft,
Ausbildung, wichtige Stationen im Leben etc.) sollten dieser Übung in einer anderen Lehreinheit
vorgeschaltet werden, d.h. in einer Stunde vor Anwendung der obigen Übung bereits durch-
genommen worden sein, damit die Lerner sie durchführen können.
22 Dasselbe gilt für die Email. Hier sollten die Lerner vor allem auf die verschiedenen Varianten
(formell-informell) einer Email hingewiesen und daran Lernelemente wie z.B. die korrekte Anrede
(Sehr geehrte(r), Guten Tag, Hallo usw.), sachgerechte Beschreibung des Anliegens oder Ver-
abschiedung (Mit freundlichen Grüßen, Herzliche Grüße, Ciao usw.) je nach sozialem Kontext
eingeübt werden.
Copyrighted malerial
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und DaF-Unterricht
131
den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen
besitzlosen Proletarier, indeß die Produktionsmittel das Monopol einer verhält-
nismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Grundbesitzern werden. Hand in
Hand mit dieser Monopolisirung der Produktionsmittel geht die Verdrängung
der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht die Ent-
wicklung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes Wachsthum der
Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vortheile dieser Umwandlung
werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern monopolisirt. Für das
Proletariat und die versinkenden Mittelschichten - Kleinbürger, Bauern —
bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz [...].
2. Max von der Grün, „Irrlicht und Feuer" (1963, Auszug)
So ist das also. Eineinhalb Jahrzehnte tat ich meine Arbeit recht und schlecht,
war pünktlich und zuverlässig. Aber dann wird man plötzlich zur schiefen
Nummer in der dreitausendköpfigen Belegschaft, nur weil man zweimal unent-
schuldigt gefehlt hat. [...] Menschliche Schwächen haben in einem modernen
Industriebetrieb nichts zu suchen, da wird mit Psychologen Kalkulation
gemacht, mit Stoppuhren die Produktion errechnet.
3 Ralf Dahrendorf: „Neue Weltordnung" (1997, Auszug)
Die Frage ist also: Was tun Menschen mit ihrer Zeit, woher kriegen sie ihren
Lebensunterhalt und ihr Selbstbild? Das wird in den nächsten 100 Jahren
anders aussehen als in den letzten 100 Jahren. Vor 100 Jahren gab es keine
Arbeitslosigkeit, sie ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Vorher
hatten Menschen kompliziertere Leben. Auch die Industriearbeiter hatten
meist noch eine Beziehung zum Land oder zu anderen Lebenstätigkeiten. 23
6 Zusammenfassung
Texte der Arbeiterliteratur besitzen aufgrund ihrer lebensnahen Problematisierung
eines universalen Gegenstandes ein großes Potential für die Darstellung histo-
rischer Prozesse im Hinblick auf Themen aus der Arbeitswelt. Die gegenwärtigen
globalen Dynamiken von Arbeitsgesellschaften richten das Interesse auch auf die
geschichtlichen Entwicklungen von Arbeit, die exemplarisch auf dem Gebiet der
(Arbeiter) literatur ihren Niederschlag finden. Sie ermöglicht dem Leser dadurch ein
breiteres Verständnis der Bedingungen, unter denen sich bis heute Arbeit als Dis-
kurs präsentiert. Die Arbeiterliteratur reflektiert texthermeneutische Modelle der
Kulturwissenschaften und wird so doppelt lesbar: Einerseits als literarischer Text,
andererseits als schriftliche Verkörperung konkreter sozialer Umstände der
Arbeitswelt. Dies drückt sich nicht zuletzt auch in der Wahl ihrer Textsorten aus,
23 Vgl. Beck 2007: 126.
Copyrighted malerial
132
Jens Grimstein
die vom fiktionalen Text über die Autobiographie bis zur dokumentarischen Dar-
stellung reicht.
Unter Berücksichtigung dieser Prämissen bietet sich die Arbeiterliteratur in
besonderem Maße für didaktische Bearbeitungen und Benutzungen an, da sie in
ihren Übungen sowohl bereits bestehendes als auch neues Wissen von Lernern
aktiviert. 24 Zudem bildet sie auf der Basis Spracherwerbs- und/ oder sprachanwen-
dungsorientierter Übungen Kompetenzen aus, die für einen späteren Berufsalltag
von Interesse sein können. Die Beispielübungen sollen einen Eindruck von den
Möglichkeiten eines didaktischen Transfers zwischen Literatur, Unterrichtsanwen-
dung und imaginierter Berufswelt vermitteln. Dass an ihnen wie auch an anderen
Übungen dazu noch gearbeitet werden kann, versteht sich von selbst.
Literatur:
Abraham, Ulf; Kepser, Matthis (2009): Eiteraturdidaktik Deutsch. Eine Einführung.
Berlin: Erich Schmidt.
Beck, Ulrich (2007): Schöne neue Arbeitswelt. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Goette, Jürgen W. (1975): Arbeiterliteratur. Texte und Materialien %um Eiter aturunterricht.
Frankfurt/Main: Diesterweg.
Greenblatt, Stephen (1993): Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen
Renaissance. Frankfurt/Main: Fischer.
Greenblatt, Stephen (1995) Kultur. In: Baßler, Moritz (Hrsg.) (1995): New
Historicism. Eiteraturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt/Main: Fischer, 48-59.
Hauptmann, Gerhart (1999): Vor Sonnenuntergang. Berlin: Ullstein.
Jordan, Stefan (2005): Einführung in das Geschichtsstudium. Stuttgart: Reclam.
Kästner, Erich (1987): Gedichte. Stuttgart: Reclam.
Monrose, Louis A. (1995): Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der
Kultur. In: Baßler (Hrsg.) (1995), 60-93.
Sarter, Heidemarie (2006): Einführung in die Fremdsprachendidaktik. Darmstadt: WBG.
Scholz, Rüdiger (2007): Arbeiterliteratur. In: Burdorf, Dieter; Fasbender, Chris-
toph; Moenninghoff, Burkhard (2007): Methler Eexikon Eiteratur. Stuttgart:
Metzler, 41-42.
Raith, Markus (2009): Vom Marmorbild %ur Venus von Samoa. Kulturwissenschaftliche
Perspektiven für die Deutschdidaktik. München: kopaed.
24 Zum Einsatz von Literatur im Fremdsprachenunterricht zwischen Sprachrezeption und Sprach-
produktion vgl. Sarter 2006: 94-99.
Formen der Arbeiterliteratur für den Deutsch- und DaF-Unterricht
133
Röggla, Kathrin (2006): Wir schlafen nicht. Frankfurt/Main: Fischer.
Von der Grün, Max (1963): Irrlicht und Feuer. Recklinghausen: Klartext.
White, Hayden (1991): Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 1 9. Jahrhundert.
Frankfurt/Main: Fischer.
Copyrighted malerial
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere
Namensfelder im DaF-Unterricht
Arndt Krem er
1 Einleitung
Forschungsansätze, die Fragen nach Identität und Mentalität mit kulturellen Raum-
konzepten verbinden, haben Konjunktur. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass
gerade kulturwissenschaftliche Reflexionen zu Straßennamen derzeit so en vogue
sind. Lange Zeit eher heimatkundlich-anekdotisch ambitioniert, hat die Straßen-
namenforschung sich Ende der 1980er Jahre verstärkt kulturhistorisch-mentalitäts-
geschichtlichen Erkenntniszielen gewidmet. So wurde dem Gedanken Rechnung
getragen, dass Straßennamen nicht nur eine spezifische Orientierungs-, sondern
auch eine ausgeprägte Erinnerungsfunktion haben, weshalb sie für die mnemische
Interaktion und Kommunikation eine zentrale Rolle spielen. Besonders durch die
Ergebnisse der Forschungsgruppe um den Kölner Sprachwissenschaftler Dietz
Bering stehen der kulturwissenschaftlich interessierten Straßennamenforschung
nun auch immer feiner justierte systematische Analyseraster zu vollständigen Kor-
pora zur Verfügung. 1
Dass sich die Bennennungspraxis von Straßennamen im Verlauf der Ge-
schichte signifikant verändert hat und weiter verändern wird, und dies eben nicht
1 Der erste Projektentwurf zu Straßennamen in Köln ist rückblickend beschrieben bei: Bering 2001:
270-281. Dann, fortführend, bei: Bering; Großsteinbeck 1994: 97-117; Bering; Großsteinbeck;
Werner 1999: 135-166; Bering; Großsteinbeck 2007: 311-335. Neben Köln sind mittlerweile auch
andere deutsche Großstädte mit günstiger Quellenlage gut untersucht, z.B. Magdeburg: Föllner;
Luther; Weinert 201 1 .
Copyrighted malerial
136
Arndt Kremer
willkürlich, sondern aufgrund bestimmter gesellschaftlich-kulturell bedingter
Wandlungen, ist eines der spannendsten Phänomene der Straßennamenforschung.
Gerade hier bietet sich eine Didaktisierung des Themas im DaF-Bereich an, weil
der Sprachunterricht durch landeskundliche und interkulturelle Fragestellungen
bereichert werden könnte, deren Antworten die Lebenswelt der Lernenden
betreffen, weniger pädagogische Legitimationsprobleme haben und für kognitive
Lernprozesse sehr förderlich sind. Die kontrovers, ja oft hoch emotional geführten
Bennennungsdebatten zu Straßennamenbenennungen und -umbenennungen sind
historische Quellen, die höchst anschaulich vermitteln, dass dieses Feld keine
quantite negligeable einer linguistischen Randdisziplin darstellt, sondern den Kern
individueller und kollektiver Identitätsauslegungen trifft.
Zunächst werden im theoretischen Teil Straßennamen linguistisch verortet und
ihre kulturhistorische Bedeutung erläutert, dann diachrone und synchrone Analyse-
ergebnisse am Beispiel des mittelalterlichen Kölns präsentiert und schließlich die
neuzeitlichen Straßennamen in Köln seit Anfang des 19. Jahrhundert beleuchtet.
Im zweiten fachdidaktischen Teil wird aufgezeigt, inwiefern vor dem Hintergrund
dieser kulturgeschichtlichen Erkenntnisse die Verwendung von Straßennamen,
aber auch anderer Namensphänomene wie Objektnamen (hier: Namen von
Fußballstadien) sinnvoll sein kann für den DaF-Unterricht. Abschließend werden
in einer kontrastiv-interkulturellen Perspektive Straßennamen in einem anderen
europäischen Land, in diesem Fall Malta, untersucht.
2 Systematische Grundlagen
2.1 Die kulturhistorische Bedeutung von Straßennamen
Namen stiften und sichern Identität, sie bilden feste Ankerpunkte, die
Orientierung verschaffen. Das gilt für Eigennamen, aber auch für Straßennamen,
den so genannten Hodonymen (von griech. hodos = Weg), die als Teilgebiet der
Namensforschung (Onomastik) zu den Örtlichkeitsnamen (Toponymen) gehören.
Straßennamen zählen linguistisch zur Kategorie der Eigennamen (Nomen
proprium), grenzen sich insofern von der größeren Gruppe der Gattungsnamen
(Nomen appellativum) ab. Auf der denotativen Ebene bewegen sie sich jedoch auf
einer gleitenden Skala zwischen beiden Nomina, indem ihr Bestimmungswort
sowohl proprialen {Adenauerallee) als auch appellativen Ursprungs (Eichenstraße) sein
kann. Straßennamen setzen sich zumeist aus einem Bestimmungswort (Hölderlin-)
und einem Grundwort (Straße) zusammen, besonders bei Toponymen (Flur, Orts-
namen) oft auch in Verbindung mit Präpositionalbildungen (An der hing).
Auf semiotischer Ebene bilden Straßennamen Signifikanten, die —
entsprechend der Unterteilung nach Charles Sanders Peirce (1 903) — im Sinne von
Icons ein Ähnlichkeitsverhältnis (Am Hügel) zum Bezeichneten oder als Indizes ein
Folgeverhältnis bzw. eine Hinweis funktion (Plat^ der deutschen Einheit) anzeigen
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
137
können. Dabei haben Straßennamen zunächst einmal eine Primärfunktion: Sie
dienen der Orientierung im Raum. Dass die Straße, die direkt an der Universität
vorbeiführt, den Namen Universitätsstraße trägt, verwundert niemanden. Der Name
erklärt sich von selbst. Straßennamen wären jedoch einseitig interpretiert, würde
man ihre Bedeutung auf diese Primärfunktion beschränken. Der Name
Universitätsstraße transportiert darüber hinaus noch etwas anderes, etwas, das bei
dieser rein funktionalen Bezeichnung immer impliziert ist. Er zeigt nämlich auch
an, dass die jeweilige Stadt eine Universitätsstadt ist und damit ein gewisses
Prestige verbinden will (man denke nur an die Ortsnamensschilder direkt an der
Stadtgrenze: Universitätsstadt Tübingen^). Straßennamen sind also auch Träger einer
Sekundärfunktion, durch die bestimmte, fast immer bewusst gesetzte, aber vom
Rezipienten oft nicht bewusst erkannte Botschaften und Inhalte übermittelt
werden sollen. Gottfried Korff spricht von „Notationssystemen, die eine starke
bewußtseinsformierende, eine mentalitäts- und affektprägende Wirkung haben."
(Korff 1992: 325). Man könnte auch davon sprechen, dass Hodonyme als Ober-
flächenindizes die Tiefenstrukturen einer Kultur abbilden, dass also die kulturellen
Codizes einer Gesellschaft, Gemeinschaft, Gemeinde dem Sprachmaterial
Straßenname regelrecht eingeschrieben sind. Die Perzeption offenbart Konzep-
tionen), und zwar die des Wahrnehmenden ebenso wie die hinter dem Wahrgenom-
menen stehenden Ideenentwürfe. Öffnet man den Blick auf diese Sekundärfunktion
und Tiefenstruktur, so wird das Lesen eines Straßennamens zur kulturellen Nabel-
schau: Sage mir, wie du deine Straße, deine Städte, deine (Vor)-Orte, deine Stadien
usw. benennst - und ich sage dir, wer du bist.
Insgesamt liefern uns Straßennamen mindestens vier Informationsebenen, die
Bering und Großsteinbeck herausgearbeitet haben (Bering; Großsteinbeck 1999:
147-155):
1. Basisinformationen (nichtlinguistische Daten wie z.B. die Tatsache, dass
sich in Köln das Straßenschild Heinestraße und die so benannte Straße im
Stadtteil Lindenthal befinden);
2. Formebene (die morphologisch-syntaktische Struktur des Kompositums
Beethovenstraße) ;
3. Bezugsebene (das konnotative Potential: Ludwig van Beethoven war
Rheinländer, Komponist der Unvollendeten, er wurde taub etc.) sowie die
4. Bedeutungsebene (denotative Aspekte wie die Tatsache, dass Beethoven-
straße ein Anthroponym ist, dass es eine kulturelle Funktion ausübt, einen
lokalen, regionalen oder überregionalen Wirkungsbereich intendiert etc.).
Kurzum: Straßennamen sind Teil der städtischen Physiognomie und Teil des
Erfahrungsschatzes eines Menschen bzw. einer Gruppe von Menschen, die mit
der Benennung Beheimatungs-Erlebnisse verbinden. Viele Straßennamen sind auf-
geladen mit „menmischer Energie" (Assmann; Hölscher 1988: 12), indem sie
neben ihrer erwähnten topografischen Funktion (Rheinuferstraße) Ankerpunkte in
einem Wunschraum darstellen (Im Finkenhain, Pariser Passage) und oft auch
Copyrighted malerial
138
Arndt Kremer
Ausdruck einer gelenkten Erinnerungskultur sind (Tannen bergalle in Berlin, die an
den Sieg der Schlacht bei Tannenberg gegen die russische Armee im Ersten
Weltkrieg erinnern soll). Sie können Zeichen symbolischer Ortsbezogenheit sein
und dabei als „verstecktes Politikum" (Koß 1990: 91) wirken, dessen mnemische
Potenz am augenfälligsten zutrage tritt, wenn bestimmte Interessensgruppen poli-
tisch-institutionellen Vorhaben der Umbenennung etablierter Straßennamen teils
heftigen Widerstand entgegensetzen.
Die Straßennamenforschung lässt sich an drei wissenschaftlichen Horizonten
verorten: Erstens erforscht sie stadtsemiotisch das Verhältnis von Topografie und
Namenschatz, untersucht zweitens mentalitätsgeschichtlich die Straßennamen-
gebung und -pflege als Ausdruck kollektiv unbewusster Sprachpraxis im Rahmen
alltäglicher Wahrnehmungsweisen und versucht drittens, Straßennamen als identi-
tätsstiftende und -sichernde, nicht selten politisch-administrativ gelenkte Bestand-
teile des „kulturellen Gedächtnisses" (Assmann 1992) zu eruieren.
Bevor wir auf Gründe für eine Didaktisierung von Straßennamen in Gruppen
von Deutschlernenden näher eingehen und konkrete Beispiele für Unterrichts-
einheiten nennen, empfiehlt es sich zunächst, am Beispiel einer einzelnen Stadt
einige grundsätzliche Aspekte von Benennungswandlungen aufzuzeigen. Es ist
natürlich sinnvoll, sich vor dem eigentlichen Unterricht ein Grundwissen zu histo-
risch-kulturgeschichtlichen Phänomenen der Straßennamen-Praxis anzueignen.
Zentrale diachrone Aspekte sollen anhand der Stadt Köln kurz beleuchtet werden.
Als Forschungsliteratur und gleichzeitig quellendokumentarische Fundgruben dienen
uns in erster Linie die Ergebnisse der seit 1990 konstituierten Forschergruppe um
Dietz Bering, wobei vor allem Peter Glasners zweibändige Dissertation zur Kultur-
geschichte der mittelalterlichen Straßennamen Kölns (Glasner 2002) und Marion
Werners umfassende Untersuchung für die Zeit von 1933 bis 1989 (Werner 2008)
hervorzuheben sind.
3 Historische Perspektiven
3.1 Vom Toponym zum Mnemotop: Straßennamenpraxis Kölns vom
Mittelalter zur Moderne
Vor der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert existierte noch kein breiteres
öffentliches und schon gar kein wissenschaftliches Interesse an Straßennamen. Im
Mittelalter waren sie Bestandteile einer weder administrativ reglementierten noch
politisch gelenkten Sprachpraxis des Alltags, motiviert in erster Linie durch sinn-
liche Evidenz. In einer mittelalterlichen Stadt gab es weder Straßenschilder, noch
waren die Straßennamen auf andere Weise optisch sichtbar. Ein der Stadt als Raum
eingeschriebener symbolischer Zeichencharakter von Plätzen, Kirchen, Wohn-
häusern und Verkehrs führungen konnte zuweilen „unheimliche Konnotationen"
(Dinzelbacher 1993: 609) wachrufen. Da die mittelalterliche Kultur viel stärker als
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
139
heute bestimmt war durch Religiosität, also durch die Gegenwart des Religiösen in
der Lebenswelt, und durch Mündlichkeit, d.h. durch relative Schriftarmut und weit
verbreitetes Analphabetentum, geschah die Aufladung mnemischer Energien vor
allem mit Hilfe von religiös-liturgischen Ritualen, nicht aber vermittels des sicht-
baren Sprachzeichens Straßenname. 2
Am Beispiel des mittelalterlichen Kölns, damals eines der bedeutendsten
urbanen Zentren Mitteleuropas, lassen sich vier Kernbereiche von Wahr-
nehmungsobjekten für die Straßennamen-Gebung herauskristallisieren: Erstens
ökonomische Gesichtspunkte (Produktionsstätte, Handelsplätze), zweitens topo-
grafische Gegebenheiten (Flur- und Naturnamen), drittens religiöse Bezüge (Klöster,
Kapellen, Heilige), viertens personenbezogene lokale Referenzen. Der vierte Bereich
betrifft nicht-hageonymische Anthroponyma, also Personennamen nach städtischen
Grundbesitzern und Familien, ferner nach stadtbekannten Außenseitern. Gerade die
Personen- und Außenseiternamen eignen sich dazu, das exzeptionell Charakteristische
an der mittelalterlichen Straßennamenpraxis herauszuarbeiten.
Mittelalterliche Anthroponyma-Straßennamen sind niemals aus einem Gestus
des ehrenden Erinnerns entstanden, weswegen ihnen jede Vorbildfunktion fehlt.
Alle Benennungen sind daraus motiviert, dass die entsprechenden Personen
ursprünglich im Stadtraum ansässig waren (remers gaß, oirtmanns gaß). Da Benen-
nungspraxis von Straßennamen durch dominante, phänomenologisch erkannte
Fakten bedingt ist, ohne von Instanzen festgeschrieben oder kultiviert zu werden,
kommt auch keinem einzigen der 198 Straßennamen auf dem Mercator-Plan von
1570/71 eine ideologische Bedeutung zu. Die Straßennamen auf diesem Plan
verweisen auch nicht auf außerstädtisch oder gar reichsweit bekannte Persön-
lichkeiten. Ein Canossaplat^ ein Besanconplat^ oder gar eine Barbarossastraß sind im
mittelalterlichen Köln undenkbar. Dass Straßen und Plätze nicht nach Reichs für sten,
wohl aber nach Außenseitern benannt wurden, ist symptomatisch für den engen
Zusammenhang von Sehen und Bezeichnen im Mittelalter. Fremde und Andere
konnten deshalb namenmotivierend sein, weil sie - im Unterschied zum fernen
Kaisers Friedrich Barbarossa — Bestandteil des alltäglichen Wahrnehmungsbildes
waren: bljnderjohansgasse; juedengaß; slungasse, benannt nach dort ansässigen Prosti-
tuierten (mhd. slun für „Hure").
Einer der zentralsten Gründe für mittelalterliche Straßennamen ist ihre
topografische, ortsanzeigende Funktion. Sie haftet auch Straßennamen mit reli-
giösem Bezug an (so liegt die apostel straiß an der Apostelkirche, die S. Cicilien straiß
an der Klosterkirche etc.), ist aber besonders augenfällig in den Straßenbezeich-
nungen dort ansässiger Zünfte, die innerstädtisch mitunter zu Namens-Karto-
grafien des Handels vernetzt waren. So konnten die einzelnen Produktions schritte
des Wollgewerbes in der Kölner Altstadt nachverfolgt werden, und zwar genau in
ergonomischer Reihenfolge: schaeffen straiß (Schafzucht), An der Wollkuchen (Woll-
2 Glasner hat, anhand einer akribischen Analyse der Quellen, diesen Zusammenhang am Beispiel
Kölns in umfassenden Pionierstudien herausgearbeitet: Glasner 2001; 2002a; 2002b.
140
Arndt Kremer
waschen), keimer gaß (Wollkämmen), Weber straiß (Weben), f oller straiß (Walken),
schaers gaß (Wollscheren), onder glaf erber (Färben).
Während Bering und Großsteinbeck (1994) eine nahezu identische Relation
von Benennung und Realität noch für das spätmittelalterliche Köln hervorheben, 3
stehen für Glasner (2001) Stadt und Namenschatz trotz der genannten Wahrneh-
mungsmotivierung da schon nicht mehr in einem spiegelartigen Abbildverhältnis
zueinander. 4 Vielmehr zeige die mittelalterliche Nominationspraxis ein eigenes,
codiertes Bild aus Betonungen und Ausblendungen, das seine mentalitätsgeschicht-
lichen Brechungen in der Stadtwahrnehmung bereits ansatzweise enthülle und deshalb
als „Mentalitätsgeschichte des Sehens" zu bezeichnen sei (Glasner 2002a: 45). Hierbei
kommen drei zentrale methodische Prinzipien zum Tragen:
1. Prinzip der (sinnlichen) Evidenz: Straßennamen sind symptomatisches,
eben evidentes Zeichen eines Erscheinungsbildes der Namensträger; der
Zusammenhang von Bezeichnetem und Bezeichnendem im Moment der
Übereinstimmung ist auf ein charakteristisches Merkmal hin verdichtet: blynder-
johansgasse
2. Prinzip der Relevanz: Die zeitspezifische Bedeutung eines Straßen-
Merkmals - also der „mentalitätsgeschichtliche Zeitbezug" (Peter Glasner) -
entscheidet über dessen Benennung; die Namensgebung ist gleichbedeutend
mit einem Code, der Wahrnehmungsschwerpunkte setzt (Bsp: Teilstück der
heutigen Hohe Straße — > 1260: Lapidea platea nach der damals seltenen Pflas-
terung; 1449: under spermecheren nach den dort ansässigen Speermachern)
3. Prinzip der Varianz/Konsensorientierung: Jeder Namens-Entscheidung
gehen insofern unbewusste Auswahlprozesse voraus. Über Varianzen kollek-
tiver Wahrnehmungen gelangen die Stadtbewohner zu einem Konsens, der bei
jeweils veränderten Wahrnehmungspräferenzen wiederum korrigiert werden
kann.
Die mittelalterliche Praxis, Straßennamen in erster Linie als Abbildung städtischer
Gegebenheiten und als Bilder einer Geschichte des Sehens zu nutzen, änderte sich
in Köln erst allmählich im 18. Jahrhundert, ganz entscheidend dann mit der Beset-
zung der Stadt durch die Franzosen Anfang des 19. Jahrhunderts. Der reichs-
städtische Universitätsrektor Ferdinand Franz Wallraf, von den französischen
Besatzern 1812/1813 mit der Übersetzung der da noch unsystematischen und
nicht ver schriftlichten Straßennamen beauftragt, charakterisiert die größtenteils aus
dem Mittelalter herrührenden Benennungen mit wenig schmeichelhaften Worten:
3 Bering; Großsteinbeck 1994: 106: „Die Namen auf dem Mercator-Plan sind im großen und ganzen
nichts anderes als der Spiegel der Wirklichkeit in geographischer, sozialer und wirtschaftlicher
Hinsicht."
4 Glasner 2002b: 41: „Das Verhältnis der Stadt zu ihrem Namensschatz ist also kein spiegelartiges
Abbildungsverhältnis, sondern ein eigenes Bild aus Betonungen und Ausblendungen."
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
141
„An den mehrsten unserer bisherigen Straßen und Gassen kleben wirklich nur
pöbelhafte, seichte, unsichere, ihrer Herleitung nach oft so unbedeutende,
größtenteils in den Zeiten der crassesten Ignoranz entstandene und nur durch
Gleichgültigkeit und Gewohnheit angenommene [...] Benennungen [...], deren
einiger wir uns vor allen fremden Ohren schämen müssen." (Zit. n. Kramer
1993: 230).
Wallraf startete ein Projekt, das den Stadtraum wie ein Erinnerungsbuch
ausstaffieren sollte. Geleitet von aufklärerischem Eifer und klassizistischen Idealen
sollten die Kölner Straßennamen, seit 1812 sukzessive an Häuserwände gemalt,
nun einen vermeintlich ehrwürdigeren Charakter bekommen. Pissgasse, Schmierstraße
oder Hunderücken wurden in Börsengasse {Passage de la Bourse), Komödienstraße (Rue de la
Comedie) und Hunnenrücken umbenannt. Durch Straßennamen wie Trajanstraße,
Capitolstraße und Agrippa-Plat^ sollte die „glorreiche" Antike symbolisch wieder ans
kollektive Gedächtnis gekoppelt und zugleich die Erinnerung an das als dunkel
empfundene Mittelalter überwunden werden.
Nicht die alltägliche Wahrnehmung wie im Mittelalter (in Spilmannsgassin,
mördergasse) , sondern Wunschbilder und identitätssichernde Erinnerung standen im
Vordergrund dieses neuen Programms, das mit der Preußenherrschaft über Köln
1880 bis 1890 einen weiteren Höhepunkt erreichte. Die stilisierte Kartografie einer
deutschen Geschichte am Rhein, in präziser Reihenfolge beginnend am Bayenturm
in der Südstadt und kulminierend in den Deutschen Ring, findet in dieser Tendenz
zur Ideologisierung der Straßennamen ihre Begründung: Ubierring und Chlodwigplat^
sollten an die germanischen Ursprünge gemahnen, Karolinger Ring, Salierring,
Barbarossaplat^ und Hohenstaufenring an königliche Herrschergeschlechter des
Mittelalters erinnern, der Habsburger Ring an die Stabilisierungs- und Endphase des
Reichs unter der österreichischen Dynastie, der Hohen^ollernring und der Kaiser-
Wilhelm-Ring an die preußisch dominierte Neuinstallierung der Reichseinheit
denken lassen. Ein längerer Spaziergang entlang dieser Ringe konnte so schnell
zum historischen Erinnerungs-Parcours geraten.
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts fungierten die Straßennamen nicht mehr als
Topografien oder als Realitätsbenennungen entlang der Wahrnehmungsweisen des
kommunikativen Alltagsgedächtnisses, sondern als Mnemotope, als Denkmäler mit
Belehrungsfunktion. Von daher wird auch verständlich, weshalb neuzeitliche
Straßen - oft in Cluster-Bildung - nach (zumeist verstorbenen) militärischen,
kulturellen, religiösen oder politischen Leitfiguren, aber in aller Regel nicht - wie
im Mittelalter - auch nach Randgruppen oder Außenseitern benannt wurden: Der
Zusammenhang von Wahrnehmen und Bezeichnen hatte einer Erinnerungskultur
zu weichen, die, da sie gelenkt war, viel konsequenter das eine aufnahm, das andere
eskamotierte.
Freilich barg und birgt dieser politisch installierte und nicht genuin aus der All-
tagspraxis der Bewohner stammende Prozess der Historisierung, Ideologisierung,
Ästhetisierung und Kultivierung des semiotischen Systems Stadt mittels Straßen-
Copyrighted malerial
142
Arndt Kremer
namen ein nicht unbeträchtliches Problematisierungspotenzial: Einmal im identi-
tätskonkreten kollektiven Gedächtnis eingeschriebene und in der Form des
Sprachzeichens Straßennamen verdichtete Erinnerungen können zumeist nicht
widerstandslos ad hoc durch andere Wissensbestände ersetzt werden. „Soziales
Erinnern heißt immer auch öffentliches Ringen um elementare Bausteine des
kollektiven Selbstverständnisses." - Diese Analyse Glasners (Glasner 2002b: 20)
trifft auf diachroner Ebene auf viele historische Dissense um Straßen(um)benen-
nungen zu. Sie gilt für den Konflikt, der am 6. Juli 1922 im Kölner Rat in einem
Tumult endete, als die SPD-Fraktion vorschlug, aus Anlass der Ermordung des
Außenministers Walter Rathenau den Kaiser-Wilhelm-King in Walter-Kathenau-King
umzutaufen und ein polemischer Zwischenruf die Gemüter erhitzte; und sie gilt
sechzig bzw. siebzig Jahre später auch noch für die langwierige Auseinander-
setzung um die Frage, ob der Keichenspergerplat^ oder der Appellhoff) lat% zu einem
Heinrich-Böll-Plat^ werden dürfe oder ob der an Schlesien erinnernde Breslauer Plat%
gegen das weltpolitische Schwergewicht Willy Brandt ankommen könne.
In diesen Ausführungen wurden noch einmal einige der wichtigsten Prinzipien
zusammengefasst, nach denen neuzeitliche Straßennamen-Gebung funktioniert. 5
Sie begleiten den seit der Franzosenherrschaft einsetzenden Paradigmenwechsel
urbaner Gestaltungspräferenzen vom alltäglichen Abbild zum unverwechselbaren
Denkbild und sind deshalb abschließend eigens zu explizieren:
1. Prinzipien der Raumgliederung und Richtungsweisung: Die
Zusammenfassung von Straßen zu Straßenvierteln durch spezifische Gattungs-
namen erleichtert das Zurechtfinden. Cluster-Bildungen helfen, Räume besser
erfahrbar zu machen: Markomannenstraße, Alemannenstraße, Teutonenstraße;
daneben bleibt die richtungweisende Orientierungsfunktion von Straßen mit
Städtenamen in aller Regel gewahrt: Aachener Straße, Neusser Straße.
2. Prinzipien der Eindeutigkeit und Gleichwertigkeit: Straßennamen
müssen unverwechselbar sein, weswegen Namendopplungen auszuschließen
sind; die Bedeutsamkeit des Namensträgers muss in etwa mit der Bedeutung
der Verortung des Straßennamen korrespondieren.
3. Prinzip der (nationalen, regionalen, lokalen oder ideologischen)
Identitätsstiftung bzw. -Sicherung: Auf Straßennamen werden gedächtniskulturelle
Inhalte projiziert, die mittels konkreter lokaler oder regionaler Bezüge der
seelischen Beheimatung der Stadtbewohner dienen bzw. nationale Erinnerungs-
werte festhalten sollen; sie können auch ganz im Dienst einzelner Ideologien
stehen.
4. Prinzip der Heilung/Verschleierung lebensweltlicher Diskrepanzen:
Mittels euphemistischer (z.B. idyllischer) Beheimatungsnamen in Reißbrett-
vierteln soll die gedächtniskulturelle Armut eines eben noch nicht „gewach-
senen" Viertels ausgeglichen werden (ein Beispiel ist die 1921 erfolgte Straßen-
5 Vgl. zu diesen und weiteren „Gesetzen" bzw. Prinzipien für moderne Namensgebung: Werner
2008:232-241.
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
143
namen-Vergabe in der Neusiedlung Bickendorf nach Naturnamen: Unter
Birken, Unter Bergamotten).
Teilweise gelten diese Prinzipien bis in die heutige Zeit, in der sich im ohnehin
immer unruhiger werdenden Zeichenfeld Stadt die Denkbilder rasant verändern.
Ob man angesichts einer Kölner Toyota-Allee (1995) schon vom beginnenden
Ausverkauf der Erinnerungskultur oder, weniger dramatisch, von ersten Schritten
zu einer Neuformulierung der Wissensbestände im Sprachzeichen Straßennamen
sprechen kann, ist eine von vielen Fragen, die sich dabei aufdrängen.
3.2 Straßennamen als historische Quellen
Hodonyme sind im Stadtraum sichtbare, alltägliche Zeichen und Sachquellen, aber
an historischem Quellenwert gewinnen sie erst, wenn über sie in dokumentierbarer
Weise reflektiert, diskutiert, entschieden wird, wenn also ein Diskurs entsteht, der
sich wiederum in Alltagszeugnissen wie Leserbriefen, Zeitungsartikeln, Rats-
sitzungsprotokollen, administrativen Dokumenten etc. widerspiegelt. Vor allem das
diskursiv-kommunikative Für und Wider bei erfolgreichen oder gescheiterten (Um-)
Benennungen von Straßennamen macht sie zu einer historischen Quelle, die sich
für Didaktisierungen eignet: „Gerade weil sich Kulturen als historisch gewachsene
Resultate von Kommunikationsprozessen darstellen, sollte ihre Beschreibung
sinnvoller Weise auch an konkreten Kommunikationsprodukten orientiert sein,
wobei natürlich insbesondere solche Quellen aufschlussreich sind, die derartige
Kommunikationsprozesse thematisieren." (Bolten 2007: 26).
Es war bereits erwähnt worden, dass die Straßennamen Kölns als historische
Quellen für den Unterricht auch deshalb so prädestiniert sind, weil erstens zu
ihnen eine umfängliche Forschungsliteratur existiert, auf die der Lehrende
zurückgreifen kann, kurzum: Das theoretische Fundament ist gesetzt. Zweitens
verfügt die Stadt Köln mit ihrer über 2000jährigen Geschichte nicht nur über ein
seit 1130 fast lückenlos dokumentiertes Schreinswesen (den Vorläufern des heu-
tigen Grundbuches), sondern auch über ein Zentrales Archiv für Straßenbenen-
nungen — insgesamt also über ein Korpus an Primärquellen und Forschungs-
literatur, das unter den deutschen Großstädten seinesgleichen sucht. Darüber
hinaus existiert zu Köln eine Vielzahl von historischen Stadtführern, die - meist in
anekdotischer Erzählweise - auch Hintergründe zu Kölner Straßennamen liefern. 6
Folgende Quellen sind für die Straßennamensforschung in Köln besonders
relevant:
6 Z.B. Kaufman; Lutz; Schmidt-Esters 1996; Jung 2004; Klever 2001; Schmid 2005; Priebe 2008.
Natürlich ließe sich eine solche Liste an kulturell orientierten Reiseführern anhand von Straßennamen
und Plätzen auch problemlos für andere Großstädte finden, wie z.B. Berlin.
Copyrighted malerial
144
Arndt Kremer
a) Mittelalter
1. Schreinsbücher (Vorläufer des Grundbuches, zunächst in Latein, ab dem
13 Jh. aber auch verstärkt in Deutsch: 1130-1789) mit 150 000 Eintragungen
allein bis zum Jahr 1400;
2. Erinnerungsbücher des Ratsherren Hermann von Weinsberg (1518-
1597), in denen Weinsberg sich sogar an etymologische Deutungen von
Straßennamen versucht;
3. Stadtplan von Arnold Mercator (1570/71) mit 196 Örtlichkeitsangaben:
Eine um Entsprechung bemühte, wissenschaftlich-kartografische Darstellung
Kölns aus der Vogelperspektive, im Unterschied zu den typisiert-idealisierten
Stadtbildern in Tafelmalereien, Holzschnitten und Kupferstichen des 16.
Jahrhunderts.
b) Neuheit
1. Adressbücher: ab 1795 (inkl. kurzer etymologisch-historischer Deutungen);
2. Zentrales Straßennamenarchiv (in Köln für jede Straße eine Akte: über
5000 Einzelakten!);
3. Artikel in den lokalen Medien, vor allem in Tageszeitungen wie „Kölner
Stadt-Anzeiger", „Kölnische Rundschau", „Express"), aber auch in Rundfunk
und Lokalfernsehen (WDR etc.)
Besonders hilfreich für Unterrichtseinheiten zur Straßennamen-Praxis seit der
Neuzeit sind gerade alle online und kostenfrei zugänglichen Artikel der lokalen
Tagespresse.
4 Didaktische Perspektiven
4.1 Gründe für die Behandlung von Straßennamen im DaF-Unterricht
Eine Didaktisierung von Straßenschildern in Gruppen von Deutschlernerinnen
und -lernern erscheint besonders aus folgenden Gründen sinnvoll:
1. Dass sich jede Sprache auf diachroner Ebene wandelt, ist oft beschrieben
worden (z.B. bei Keller 1994). Sprachliche Zeichen sind arbiträr und historisch
konventionalisiert. Variantenreichtum ist dabei ein grundlegendes Merkmal sprach-
licher Realisation. Dies gilt auf grammatikalischer wie lexematischer Ebene. Was
aber im Bereich der Grammatik bei Deutschlernerinnen und -lernern zu Ver-
unsicherung führen könnte - schließlich tendieren Fremdsprachenlerner vor allem
im Anfängerbereich dazu, die Sprache erst einmal als feststehendes System
begreifen zu wollen und nicht als ein stetem Wandel unterworfenes Phänomen —
stellt im Bereich der Straßennamen eine Bereicherung dar. DaF-Lerner erfahren,
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
145
dass es ganz bestimmte historische, politische, kultur- und mentalitätsgeschicht-
liche Gründe für die Bennennung und Umbenennung von Straßen gibt. Die
Lerner/-innen können somit das wichtige Phänomen des Sprachwandels konkret
erfassen, ohne sich in schwierige und abstrakte linguistische Theorien einarbeiten
zu müssen.
2. Straßennamen eignen sich besonders gut, den Lernenden die immense
Bedeutung von Signifikanten in einem kulturell-politischen Kontext zu vermitteln.
Sie zeigen, welch starke mnemische Energie die Konnotate von Denotaten ent-
falten können. Der sprachliche Vollzug ist immer auch Ausdruck einer bestimmten
„Weltansicht" (Humboldt 1830-35: 60), und zwar sowohl auf individueller wie auf
kollektiv-nationaler Ebene. Namen sind nun besonders eng an Identität gebunden,
können diese fördern, aber auch gefährden. Straßennamen schildern dabei
zweierlei: Erstens weisen sie auf synchroner, aber vor allem auch diachroner Ebene
Wege zum kollektiven Gedächtnis einer Stadt; zweitens demonstrieren sie, dass
Sprache immer auch ein Politikum sein kann. Jung fasst dies folgendermaßen
zusammen: „Wer als Deutschlernender mehr erfahren möchte als die Abläufe der
Deklination von Substantiven oder der Konjugation von Verben, der hat mit dem
Straßenschild ein Sesam-öffne-dich zur Hand, das ihm hilft, die Tür zum
Deutschtum einen Spalt zu öffnen." (Jung 2005: 95) . 7
3. Die Praxisrelevanz von Straßennamen fällt schnell ins Auge. Als
„lebendiges Sprachmaterial" (Schultheis; Walter 1968: 7) bieten sie den unschätz-
baren Vorteil lebensweltlicher Alltagsnähe, denn sie sind Teil dessen, was Jan
Assmann im Rückgriff auf die Theorien von Maurice Halbwachs das „kommu-
nikative Alltagsgedächtnis" genannt hat (Assmann 1992: 50): Jeder kennt Straßen-
namen, so gut wie jeder wohnt an einer Straße, die einen Namen trägt und
verbindet damit bestimmte Erinnerungen. Sie erfüllen also in besonderer Weise
zentrale Forderungen einer handlungsbezogenen Sprachdidaktik: Handlungsorien-
tierung und Nutzbarkeit der Sprache unter Berücksichtigung verschiedener
Ebenen der Sprachverwendung (sozial, politisch, pragmatisch etc.); Vorrang
sprachlicher Funktionen vor rein formalen Aspekten; Einsatz authentischer Texte,
Quellen, Übungen (vgl. Roche 2005: 21 5f.).
4. Sie bieten darüber hinaus besonders vielfältige Möglichkeiten zur
Erfahrbarkeit, Visualisierung und Medialisierung. Straßennamen haben immer auch
einen alltäglichen, ganz praktischen Gebrauchswert. DaF-Lerner können erkennen,
dass Kenntnisse beispielsweise über die Cluster-Bildung von Straßennamen (also
die areale Konzentrierung von Straßennamen nach Bennennungsmotiven wie
Komponisten, Feldherren, Tiernamen etc.) ihnen konkret helfen können, sich in
einer ihnen zunächst fremden deutschen Stadt besser zu orientieren. Mittels Inter-
net und Straßenplänen wird die Suche nach dem Gedächtnis der Stadt visualisier-
bar, mittels angeleiteter Parcours-Erkundungen erlebbar.
7 Zit. auch bei Oebel 2006, 571. Es versteht sich von selbst, dass die Verwendung von
problematischen, weil historisch-ideologisch belasteten Begriffen wie „Deutschtum" im DaF-
Unterricht kritisch reflektiert werden muss.
Copyrighted malerial
146
Arndt Kremer
4.2 Didaktische Literatur zum Thema
Entscheidende Hinweise darauf, dass die doppelte Funktion von Straßennamen —
die topographische Orientierungs- und die kulturelle Verweis funktion, also ihr Ge-
brauchswert plus Kulturwert - den Einsatz von Hodonymen im Fremdsprachen-
und Landeskundeunterricht sinnvoll macht, finden sich recht früh bei Udo Jung
(Jung 2000: 609f; Jung 2005). Er konstatiert: „In ihrer Summe stellen die Straßen-
namen nämlich das Gedächtnisbuch einer Stadt dar, und eine Klasse von (Fremd-)
Sprachenlernern kann darin blättern und recherchieren, die Ergebnisse mit denen
anderer Städte vergleichen und sie zueinander in Beziehung setzen." (Jung 2000:
610).
Mein Aufsatz verdankt zentrale Anregungen einer Studie von Guido Oebel aus
dem Jahre 2006, in der die Relevanz und die geradezu unerschöpflichen Einsatz-
möglichkeiten des Themas Straßennamen im DaF-Unterricht aufgezeigt werden
(Oebel 2006: 569-583). Einen Reader zur Namenskunde mit Aufsätzen zur
Reflexion des Themas in der Primarstufe und in den Sekundarstufen I/II haben
Frank und Koß bereits 1994 angelegt; indes geht darin noch keiner der darin
enthaltenden Aufsätze explizit auf das Thema Straßennamen ein (Frank; Koß
1994). Selbst bei neuesten Internetportalen, die umfangreiche Unterrichtsmater-
ialen zu Namen zur Verfügung stellen, fehlen Hodonyme weitgehend bzw. lassen
die spezifischen Anforderungen an den DaF-Unterricht unberücksichtigt. 8
4.3 Eingrenzung der Lernerzielgruppe und des Themas
Das Thema eignet sich sowohl für weniger fortgeschrittene als auch für
fortgeschrittene bzw. weit fortgeschrittene Deutschlernende. Im DaF-Unterricht
mit Deutsch als dominierender Unterrichtssprache sollte aber ein Sprachniveau auf
dem Level von ca. A2 (entsprechend CEFR) oder höher vorausgesetzt sein, da
vorher (AI) oder im reinen Anfängerbereich noch die entsprechenden Vokabel-
und Grammatik-Kenntnisse fehlen, um sich über Prozesse, Debatten und Hinter-
gründe zu Straßenbenennungen und -umbenennungen sinnvoll austauschen zu können.
Das Thema eignet sich besonders gut im Landeskundeunterricht, aber auch im Bereich
des interkulturellen Lernens, wobei Fragen im Vordergrund stehen können wie: Warum
sind in Deutschland in jedem noch so kleinen Dorf Straßen und Plätze nahezu
vollständig benannt, während es in einer so gewaltigen Metropole wie Tokyo mit seinen
fast neun Millionen Einwohnern im Kerngebiet keine stringente Straßenbeschilderung
gibt?
Im Prinzip könnte man die Straßennamen-Thematik auch für orthografische
und sogar grammatische, z.B. flexionsspezifische Fragestellungen nutzen. Der
Rechtschreib-Duden (2006) widmet der Rechtschreibung von Namen und der
Setzung der Bindestriche immerhin ganze sechs Seiten (Duden 2006: 86-91, K
8 Z.B. bei: http://www.lehrerfreund.de/in/schule/ls/namen-unterrichtsmaterial-arbeitsblaetter/
(„Namen/Namenskunde im Deutschunterricht - Unterrichtsmaterialien").
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
147
134-151), denen sich auch ein eigenes Kapitel zu Straßennamen anschließt
(ebd.96f., K 161-163). So ließe sich etwa fragen, wieso bei bestimmten
Straßennamen Bindestriche gesetzt werden (Heinrich-Mann-Alle), bei anderen aber
nicht {Adenauer Ufer), ob dies willkürlich geschieht oder ob hier eindeutigere
Regelhaftigkeiten herrschen als die im Duden (Duden 2006: 87, K 136)
angegebenen: „Einen Bindestrich kann man setzen, wenn der Name
hervorgehoben werden soll oder wenn dem Namen ein zusammengesetztes
Grundwort folgt". Auch national- bzw. regionalspezifische Varietäten des
Deutschen könnten im Fokus des Unterrichts stehen, beispielsweise die im
Gegensatz zur deutschen Praxis stehende schweizerische Sonderregelung, dass
„Straßennamen, die die Ableitung eines geografischen Namens auf -er enthalten,
gewöhnlich zusammengeschrieben [werden] {Hottingerplat^ Winterthurerstraße)."
(Rechtschreib-Duden 2006: 96, Zusatz zu K 162). Weiterhin könnte das Problem
der Fugenelemente im Deutschen zum Thema werden, beispielsweise das Phänomen
des so genannten Fugen-s: Wieso heißt es Reichstagsufer und nicht, was als
Kompositum eigentlich logischer erscheint, Reichstagufer}
Solche rein orthografisch-grammatischen Schwerpunktsetzungen erschöpfen
sich aber schnell thematisch und verspielen eher die Chance, im Unterricht die
reine Sprachebene mit der Kulturebene zu verbinden. Interessanter erscheint hier
die Frage nach kulturell-sozial motivierten Regeln für das letzte Kompositum bei
Straßennamen, beispielsweise im Hinblick auf Diminutive: Nach welchen außer-
sprachlichen Kriterien wird entschieden, dass die Straße ein Wilhelm-Busch-Plat^ und
kein -Plätzchen ist? Nach dem vorgeblichen Bedeutungsgrad des ersten Namens-
bestandteils? Nach dem ästhetisch-atmosphärischen Wert des Ortes? Nach dem
semantischen Wert des Namensgebers? Nach den politischen Machtverhältnissen
in der Stadt?
4.4 Unterrichtseinstiege
In den nächsten Kapiteln sind Vorschläge für Unterrichtseinstiege und Unter-
richtseinheiten zu sehen. Als Beispiele für weiterführende Unterrichtseinheiten
werden wiederum Straßennamen der Stadt Köln ausgewählt. Im Prinzip ließen
sich die Methoden jedoch auf jede deutsche Stadt anwenden. Als Unterrichts-
einstiege biete ich einmal einen klassischen Frage-Antwort-Dialog in Form eines
Brainstormings und zweitens visuelle Diskussionsanreize an.
4.4. 1 . Brainstorming mittels geleiteter Fragen
In einem ersten Verfahren könnten den Lernenden folgende Fragen präsentiert
werden, auf die dann induktiv-assoziativ zu antworten wäre:
Copyrighted malerial
148
Arndt Kremer
Tabelle l 9
Mögliche Fragen als Unterrichtseinstieg in das Thema Straßennamen
1. Welche deutschen, österreichischen, schwei2erischen Städte kennen Sie?
2. Waren Sie schon einmal in einer dieser Städte zu Besuch?
— > Wenn ja: Wie haben Sie sich dort orientiert?
— ► Wenn nein: Wie orientieren Sie sich in einer Stadt, die Ihnen unbekannt
ist?
Falls „Straßenschilder"/ „Straßennamen" angesprochen werden, ließe sich
weiter fragen:
3. Können Sie sich an bestimmte Straßennamen erinnern?
— ► Wenn ja: An welche?
— > Wenn nein: Haben Sie schon einmal von folgenden Straßennamen gehört:
Kö(nigsallee), Alex(anderplat%), Ku(rfiirstendammJ? Was fällt Ihnen auf?
4. Gibt es Straßennamen, die in verschiedenen Städten identisch sind?
[interkulturelle Ebene]
5. Gibt es Unterschiede zwischen Straßennamen aus Ihrem Herkunftsland
und Straßennamen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien und
Luxemburg (deutschsprachige Teile)? [interkulturelle Ebene]
6. Wer entscheidet Ihrer Meinung nach über die Benennung von Straßen
(auch: von Plätzen, Sportstadien etc.)? [politisch-soziale Ebene]
7. Straßenschilder ändern sich oftmals über die Jahre und Jahrzehnte hinweg.
Welche Gründe kann es für Umbenennungen geben?
— ► Falls dies nicht ergiebig sein sollte, könnte z. B. folgende Anregung
weiterhelfen:
In Köln hatte ein und derselbe Platz über die Jahre hinweg die folgenden
Straßennamen, und zwar in dieser Reihenfolge: Plat^ der Republik, Adolf-Hitler-
Vlat^ Ebertplat-%. Können Sie sich Gründe dafür denken, weshalb derselbe
Ort so unterschiedlich benannt wurde? [historische/kulturell-mentalitäts-
geschichtliche Ebene]
8. Was kann man anhand von Straßennamen über die deutsche Sprach-
geschichte / Mentalität/ Kultur erfahren? [historische/kulturell-mentalitäts-
geschichtliche Ebene]
Die Fragen 1 bis 5 eignen sich auch für weniger fortgeschrittene Deutschlernende
(ab A2), während die Fragen 6 bis 8 ein höheres Sprachniveau (ab Bl) voraus-
9 Tab.l basiert teilweise auf dem Fragenkatalog bei Oebel 2006: 571.
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
149
setzen und als Einstiege in längere Unterrichtseinheiten mit möglichen Haus-
aufgaben dienen können.
4.4.2. Visualisierung mittels Fotografien
Alternativ böte sich als Unterrichtseinstieg an, den Deutschlernenden bestimmte
Fotografien anzubieten und darüber diskutieren zu lassen. Immer kritisch
mitberücksichtigen muss der Lehrende die oftmals manipulatorische Wirkung von
Bildern, wobei Fotografien von Straßennamen weniger Gefahr laufen, zu mono-
perspektivischem Geschichtsdenken zu verleiten, da aktuelle Abbildungen von
Straßenplänen oder Straßenschildern ohne zusätzliche Textinformationen oder
wertende Textkommentare erst einmal weitgehend fixierte und wertfreie Doku-
mentationen städtischer Gegebenheiten sind. Die folgende Auswahl versteht sich
zudem ausschließlich als Anregung.
Abb.l: Dichterstraßen.
Quelle: http://data.lustich.de/bilder/l/13189-strassennamen.jpg.
Arbeitsanregungen:
Stellen Sie sich vor, Sie sind das erste Mal in einer deutschen Großstadt,
versuchen sich zu orientieren und finden die im Bild gezeigten Schilder. Was
würden Sie denken? Was fällt Ihnen an diesem Bild auf? Welche Namen
werden genannt?
150
Arndt Kremer
Machen Sie Vorschläge, wie ein ausländischer Besucher einer Stadt mit
diesem Straßenschild ein paar wichtige Hintergrundinformationen zu den
Namens trägem erhalten könnte.
Halten Sie eine kurze Präsentation von 10 Minuten zu den Namensträgern
der Wielandstraße und der Hlsa-Brandström-S traße. Wer waren diese beiden Per-
sönlichkeiten, was hat sie ausgezeichnet?
Abb.2: Adolf Hitler-Straße.
Quelle: http:/ /www.history.army.mil/books/wwii/ Occ-GY/ chl5.htm.
Arbeitsanregungen:
Was wird auf der Fotografie dargestellt? Schauen Sie sich die drei abgebildeten
Personen genau an. In welcher Zeit ist das Foto wohl aufgenommen worden?
1933 wurde in der Stadt Köln der Plat% der Republik in Adolf-Hitler-Plat^
umbenannt. Finden Sie Gründe für diese Umbenennung, indem Sie den
zeitgeschichtlichen Hintergrund kurz skizzieren. Wie heißt der Platz heute?
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht 151
Abb.3: Monopoli .
Quelle: http:/ /monopolie. sourceforge.net/screenshots. shtml.
Arbeitsanregung 1:
Dies ist eine englische Version des beliebten Brettspiels „Monopoly". Ziel des
Spiels ist es, ein Grundstücksimperium aufzubauen und die Mitspieler in den
Konkurs zu treiben. Die Grundversion hat 22 Straßen, vier Bahnhöfe und je
ein Elektrizitäts- bzw. Wasserwerk. Je nach Straße und Straßenviertel steigt
oder sinkt das Mitpreisniveau. Die Straßennamen fehlen auf der obigen
Abbildung. Im Folgenden finden Sie eine Liste mit Straßennamen, denen Sie
Mietpreise von 60 bis 1000 Euro zuordnen sollen.
Ordnen Sie die Straßennamen Mietpreisen zu und tragen Sie beides
anschließend in das Spielfeld ein, z.B. Glücksallee 1000 €, gelbes Feld oben
rechts. Schlagen Sie die Bedeutungen von (Straßen-)Namen nach, wenn Sie
diese nicht kennen.
Straßennamen:
Lessingstraße; Operplat^ Mördergasse; Nordbahnhof; Glücksallee; Schillerstraße;
Turmstraße; Badstraße; Goethestraße; Elisenstraße; Pechstraße; Beethovenstraße;
Schlossallee; Hinterhofstraße; Hafenstraße; Mo^artstraße; Bahnhofstraße; Parkstraße;
y4rbeitslosengasse; Bachstraße; Verliererstraße; Chausseestraße
Mietpreise:
von 60 € bis 1000 €
Arbeitsanregung 2:
152
Arndt Kremer
Begründen Sie Ihre Entscheidung! Fällt Ihnen ein Muster auf, nach dem Sie
die Straßennamen eingeordnet haben? Warum haben Sie einer bestimmten
Straße ein höheres Mitpreisniveau gegeben als einer anderen?
Einige der Namen in der Tabelle stammen tatsächlich aus der deutschen
Version von „Monopoly", andere sind frei erfunden. Welche sind das wohl?
Welche Straßennamen existieren in deutschen Städten so nicht (mehr) —
warum wohl nicht?
4.5 Weiterführende Unterrichtseinheiten
Im Folgenden sollen einige weiterführende Unterrichtseinheiten dargestellt wer-
den, die auf die aufgezeigten Unterrichtseinstiege aufbauen können.
4.5. 1 . Einordnung von Straßennamen nach Motiven der Benennung
Es war schon angesprochen worden, dass in vielen Städten Straßennamen oft in so
genannten arealen Clustern angeordnet sind, die einem bestimmten Benennungs-
motiv folgen: Dichterviertel, belgisches Viertel, Industrieviertel, Obstsorten etc.
Diese Tatsache lässt sich sinnvoll für den DaF-Unterricht nutzen. Die Lernenden
werden in Arbeitsgruppen aufgeteilt und erhalten eine Reihe von Straßennamen, die
sie nun bestimmten Motiven zuordnen müssen (vgl. Oebel 2006, 572f). Dazu
empfiehlt es sich natürlich, den Lernenden die Möglichkeit zur Recherche zu geben
(Internet, Bibliothek), also die Lerneinheit mit einer Hausaufgabe zu verknüpfen.
Tabelle 2
Sektion I: Anthroponyme (Personen- und Familiennamen) und Phytonyme
(Tier- und Pflanzennamen)
Gruppe A: Schriftsteller
Heinrich-Böll-Plat^ Goethestraße, Schillerstraße, Fessingstraße, Hoffmann-von-
Fallersleben-S traße, Gorch-Fock-Straße, Oscar-Wilde-Straße, Ricarda-Huch-S traße,
Rilkestraße, Heinestraße, Rahel-l r arnhagen-S traße, Irmgard-Keun-S traße etc.
Gruppe B: Maler und Musiker
Brahms-S traße, Fovis-Corinth-S traße, Spit^iveg-S traße, van-Gogh-S traße, Jacques-
Offenbach-Plat^ Beethovenpark, Richard-Wagner-Straße, Mo^artstraße etc.
Gruppe C: Philosophen und Wissenschaftler
Niet^schestraße, Schlegelstraße, Kantstraße, Feuerbachstraße, Karl-Marx- Allee,
| Friedrich-Engels-Straße etc.
Gruppe D: Heilige und Kirchenvertreter (Hageonyme)
Georgstraße, Severinstraße, Christophstraße, Ursulastraße, Martin-Futher-Plat^
Bonhoefferstraße, Prd'lat-Otto-Müller-Plat^ Präses-Rachter-Plat^ Pastor-Paul-
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht 153
Milde-Straße etc.
Gruppe E: Politiker, Funktionäre, Unternehmer
Bebelplatt^ Clara-Zetkin-Straße, Cornelius-Stüssgen-Straße, Friedrich-Ebert-Plat-^
Robert-Schumann-Straße, Kennedy-Ufer etc.
Gruppe F: Familiennamen, Herrscherhäuser, Volksstämme
Bayardgasse, Im Dau, Quatermarkt, Steinbrecher Weg, Hohen^ollernring, Hohen-
staufen ring, Salierring, Friesenstraße, Ubierring, Auf dem Hunnenrücken etc.
Gruppe G: Tier- und Pflanzennamen (Phytonyme)
Löwengasse, Schwalbengasse, Taubengasse, Habichtstraße, Ibisweg, Komoranweg,
Ner^weg, Holunderweg, Eibenweg, Buchenpfad, Eichenstraße etc.
Tabelle 3
Sektion IL Toponyme (Ortsnamen, Flurnamen, Gewässernamen)
Gruppe H: Ortsnamen (Oikonyme)
Kyoto straße, Turiner Straße, Tel-Aviv-Straße, Tunis-Straße, Te ssiner Weg, Mülheim er
Zubringer, Heidelbergweg, Indianapolisstraße, Gothaer Allee, Brühler Eandstraße,
| Berlin-Kölnische-Allee etc.
Gruppe I: Flurnamen (Oronyme)
Am Bergerhof, In der Muckel, Am Frohnweiher, Zu den Bendengärten, Auf der
Füllenweide, Siebenburgen, Weidengasse, Sandkaul, Zum Hedeisberg, Unter den
Erlen, Unter den Ulmen, Unterste Sauerwiese etc.
Gruppe J: Gewässernamen (Hydronyme)
Rheingasse, Rheinuferstraße, Rothgerberbach, Auf der Ruhr, Am Weidenbach etc.
Tabelle 4
Sektion III: Chrematonyme (Sach- und Objektnamen)
Gruppe K: Kirchen und Klöster
Antoniterstraße, Kartäusergasse, Minoritenstraße etc.
Gruppe L: Märkte und Nahrungsmittel
Alter Markt, Heumarkt, Hol^markt, Neumarkt, Waidmarkt, Buttermarkt,
Fischmarkt, Sal^gasse, Zur Kornkammer etc.
Gruppe M: Berufs- und Gewerbebezeichnungen
Faßbindergasse, Fleischmengergasse, Weberstraße, Seidmacherinnengäßchen, Unter
Goldschmied, Unter Hutmacher, Unter Käster, Unter Taschenmacher etc.
Arbeitsanregungen:
154
Arndt Kremer
Finden Sie die angegebenen Straßennamen (Tab.2-4) auf dem Kölner Stadt-
plan. In welchen Stadtteilen liegen Sie? Können Sie eine geografische Ordnung
erkennen?
Ordnen Sie dann die Straßennamen (Tab.2-4) bestimmten Motiven zu,
beispielsweise dem Motiv Dichter. Können Sie die Motive noch einmal
differenzieren, z.B. in deutsche Dichter und ausländische Dichter?
Finden Sie auf dem Stadtplan noch mindestens drei weitere Straßennamen,
die zu den Motiven in den Tabellen passen.
Stellen Sie abschließend drei Namens-Persönlichkeiten Ihrer Wahl kurz vor.
Für einzelne der Arbeitsanregungen kann es sinnvoll sein, die Motivnamen in den
Tabellen abzudecken (Projektor, Powerpoint) bzw. in den ausgeteilten Kopien
auszulassen. Auch wäre denkbar, die einzelnen Straßen- und Wegenamen den
Lernenden in einer beliebigen Reihenfolge vorzulegen, so dass diese dann eine
systematische Ordnung nach Benennungsmotiven finden sollen. Umgekehrt
könnte der Lehrende eine Tabelle mit den jeweiligen und dann noch weiter ausdif-
ferenzierten Benennungsmotiven anbieten, für die dann anhand des Kölner Stadt-
plans Straßennamen-Beispiele gefunden werden sollen. Personennamen werden
für die Lernenden höchstwahrscheinlich den größten Anreiz bieten, weil die
Propria per se Identitätsbezüge herzustellen helfen.
Zu jeder Sektion ließen sich eigene Unterrichtseinheiten konzipieren. Dabei
wären noch viele weitere Sub-Klassifizierungen denkbar, z.B. danach, ob es sich
bei den Personen-, Familien-, Herrschernahmen um Kölner Persönlichkeiten
handelt, ob diese weltweiten oder nur regionalen Bekanntheitsgrad haben etc.
4.5.2. Praxis von Umbenennungen und mögliche Gründe
Die Praxis von Straßenumbenennungen und ihre Gründe eignen sich hervorragend
für eine Didaktisierung des Themas. In Neu- und Umbenennungen zeigt sich das
Spannungsfeld von kultureller Erinnerung und sozialer Identität am deutlichsten.
Bering konstatiert: „Dabei ist natürlich das, was im Spiegel nicht erscheint, was also
gezielt oder zufällig dem Vergessen zugeschrieben wird, ähnlich wichtig [. . .] wie das,
was als namensMr^ angesehen wird." 10 Die Frage „Können Straßennamen
umbenannt werden und wenn ja: warum werden sie umbenannt?" ermöglicht viele
interessante Antworten im Unterricht. Folgende Punkte können diese Erwartung
stützen:
1. Zahlreiche Diskussionen um Straßenumbenennungen wurden und werden
öffentlich in den Medien ausgetragen. Sie sind eben keine bloße Sache der
Wissenschaft, sondern gehen jeden an, Fachmann wie Laien. Die Lernenden
erkennen dadurch die Lebens- und Alltagsrelevanz des Themas. Zudem sind die
Quellen der fraglichen Debatten oftmals online und damit leicht zugänglich.
1,1 Bering; Großsteinbeck 1994: 116 (Hervorhebungen im Original).
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
155
2. Durch die enge Verankerung des Namens im Identitätsbewusstsein und der
individuellen wie kollektiven Mentalität scheinen Straßennamen-Umbenennungen
ein hohes emotional-psychologisches Konfliktpotential in sich tragen. Viele
Auseinandersetzungen um Umbenennungen sind über Jahrzehnte mit einem
erstaunlichen Elan und Esprit vor Gerichten ausgetragen worden, haben Politiker
und Ämter beschäftigt etc. Mit einem Wort: Die Debatten sind alles andere als
langweilig.
3. Kontroverse oder konsensfähige Debatten zu Umbenennungen von
Straßennamen berühren direkt die geforderte Verzahnung von Sprach- und
Kulturfragen. Die Diskussionen sind, mögen sie noch so abstrus erscheinen,
immer auch ,Wortmeldungen* des kulturellen Gedächtnisses. Straßennamen
spiegeln die mentalitätsgeschichtlichen Wandlungen einer Gesellschaft wider. Wer
etwas über die Kulturgeschichte von Straßennamen erfährt, erfährt immer auch
Wesentliches über die Kultur und kulturelle Praxis ihrer Anwohner. Das
prädestiniert das Thema geradezu für den Landeskundeunterricht.
4. Die Diskussionen zu Umbenennungen führen, dies war schon angesprochen
worden, den Lernenden in ganz plastischer Weise vor Augen, dass die semantische
Brisanz von Sprachfragen oftmals eine politische Brisanz impliziert oder evoziert,
und dies nicht nur auf nationaler, sondern auch auf kommunaler Ebene. So sind
die Konflikte um Straßenumbenennungen letztlich das, was man mit Michel
Foucault „Diskurse der Macht" auf allen Ebenen nennen könnte. Die Debatten
zeigen, dass nicht nur nationale Sprachpolitiker und Sprachpfleger (etwa die
„Academie francaise" in Frankreich oder der „Verein für deutsche Sprache" in
Deutschland) massiv einzugreifen versuchen, wenn es um den vorgeblich schäd-
lichen Einfluss von Anglizismen in der eigenen Sprache geht, sondern dass auch
kommunale Politiker sich einmischen, wenn Bürger in hitzigen Leserbriefen etwa
die Umbenennung der Kölner Heinestraße in eine Oscar-Wilde-Straße mit dem Hin-
weis zu verhindern suchen, dass dieser Straßenname dann „Oscar-Uwaild-Straße"
auszusprechen sei, denn: „Mister Wilde war kein Deutscher." 11
Entwicklung von Straßennamen im Mittelalter
Straßennamen waren im Mittelalter, wie bereits ausgeführt, vor allem Teil des
kommunikativen (Alltags-)Gedächtnisses der Sprecher und kein Teil des
Straßenbildes; erst im 19. Jahrhundert wird das Namengut allmählich fixiert, indem
Straßennamen an Häuserfassaden geschrieben werden (Köln: 1812) und im Zuge
der großen Gesellschaftsdebatten und sozial-politischen Umbrüche des 18. und 19.
Jahrhunderts eine ideologische Aufladung erhalten.
Der in Peter Glasners Dissertation angeführte Paradigmenwechsel der Straßen-
und Platzbenennungen vom Ortungsraum zum Mnemotop, also von einem reinen
Abbildungsverhältnis zum kulturellen Erinnerungsort, kann für Unterrichts-
11 ZAS (Zentrales Archiv für Straßenbenennungen) - Oscar-Wilde-Straße, Schreiben von Paul Sch. an
das Vermessungs- und Katasteramt vom 6.10.1982. Zit. n. Werner 2008: 176.
Copyrighted malerial
156
Arndt Kremer
einheiten viel versprechende Ergebnisse zeitigen. Anhand weniger anschaulicher
Beispiele lässt sich demonstrieren, wie unterschiedlich die Weltbilder und Welt-
ansichten eines mittelalterlichen und eines modernen Menschen (gewesen) sind.
Die Lernenden können Schritt für Schritt die zeit- und epochengebundene Rela-
tivität von Kultur- und Identitätsentwürfen erfahren, wozu die Tatsache gehört,
dass die enge Bindung von Sprache und Kultur, von Sprache und Identität im
kollektiv-nationalen Kontext im Wesentlichen ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts
ist, wenngleich mit Vorläufern bis in die Zeit des Barock. Wenn wir heute Begriffe
wie „Leitkultur" verwenden, etwa in den Debatten um Thilo Sarrazins umstrittenes
Buch „Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen"
(Sarrazin 2010), so schwingt darin eine Geisteshaltung mit, die dem
mittelalterlichen Menschen noch vollkommen fremd gewesen wäre.
a) Bsp. Katharinengraben (Köln-Südstadt)
Tabelle 5 12
Benennungsdatum
8 1
Straßenname
1191
secus Vi alum vetus
1251
Supra Antiquuum fossatum
1317
Super Antiqua Jossa
1333
up der steede graven / aichter dem spitale von s. Katha-
rinen
1538
Uff dem Altengraven
16. Jh.
OffS. Catreinen graben
Die topographischen Bezugnahmen schwanken zwischen Stadtgraben und
Katharinenhospital. Glasner konstatiert: „Hieran wird deutlich, dass die mündlich
tradierten Straßenbezeichnungen des Mittelalters aus der Wahrnehmung der Stadt
entstehen und solange variieren, bis in der Sprechergemeinschaft der Stadt-
bewohner ein vorbewusster Konsens über die Namenfindung erzielt worden ist."
(Glasner 2001).
12 Daten und Namen der Straßennamenentwicklung in den Tabellen 3-5 sind dem Aufsatz von
Glasner entnommen, der unter anderem die Schreinsurkunden als Quellenbasis nutzt (Glasner 2001 :
287 u.291). Dort finden sich auch weitere, detaillierte Hintergrundinformationen.
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht 157
b) Bsp. Salzgasse (Köln-Altstadt)
Tabelle 6
Benennungsdatum
Straßenname
1135
In vico Salis
1192
In Sal^ga^in
1307
In Sal^gassen
1542
uff der Sal^gassen
1571
die saltsgaß
c) Bsp. Hohe Straße (Köln-Zentrum)
Tabelle 7
Benennungsdatum
Straßenname
1189
Super stratam Hapideam
1260
In Lapidea platea
1449
Under spertnecheren
1545
Under Spermecher
Die beiden Straßennamen Sal^gasse und Hohe Straße exemplifizieren die Straßen-
namen-Praxis des Mittelalters. Diese war gekennzeichnet durch ein Ausprobieren
und Verändern aufgrund gewandelter Wahrnehmungen, bis man allmählich zu
einem Konsens gelangte, der aber nicht endgültig sein musste. Die Sal^gasse wurde
nach den dort ansässigen Salzhändlern benannt, während die Hohe Straße zunächst
nach der damals seltenen Pflasterung {strata lapidea) und erst im Spätmittelalter
nach den dortigen Speermachern ihren Namen erhielt, bis sie im Zuge eines
längeren Wandlungsprozesses ihre heutige Benennung erhielt. Die folgenden
Arbeitsanregungen könnte auf eine einführende Unterrichtseinheit zum Thema
„die mittelalterliche Stadt" folgen, in der den Lernenden Grundwissen zum
Beispiel zur Präsenz mittelalterlicher Handwerksberufe und Zünfte in den Städten
des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation vermittelt wird. Köln als freie,
unmittelbare und lange Zeit bevölkerungsreichste Handelsstadt des Reiches könnte
hier wiederum als ein anschauliches Beispiel dienen. Es wäre aber auch denkbar,
einen Unterrichtseinstieg in medias res zu wählen, mittels dessen die Lernenden
intuitiv- assoziativ Gedanken zur Entwicklungsgeschichte ausgewählter mittelalter-
licher Straßennamen in Köln kommunizieren.
158
Arndt Kremer
Arb eits anr egungen :
Schauen Sie sich die Entwicklung der Straßennamen des heutigen
Katharinengrabens sowie der Sal^gasse und Hohe Straße (Tab. 5-7) an. Was fällt
Ihnen auf? (Wie ändert sich die Sprache? Wie ist der Gebrauch der Lokal-
präpositionen? Was wird bezeichnet?)
Finden Sie auf dem Kölner Stadtplan noch andere Straßen, die nach
Handwerksberufen benannt sind und schreiben Sie diese auf. Welche der
damaligen Berufe gibt es heute noch, welche sind mittlerweile ausgestorben?
1812 hielten die Franzosen unter Napoleon Köln besetzt. Sie beauftragten
den Kölner Universitätsrektor Ferdinand Franz Wallraf damit, die damals nicht
beschilderten mittelalterlichen Straßennamen neu zu benennen. Wallraf
ordnete unter anderem an, die Pißgasse in Passage de la Bourse {Börsengasse), die
Mördergasse in rue des mortiers {Mörsergasse) und die Bus(en)gasse in rue des Buisson
{Buschgasse) umzubenennen. Warum hatte sich im Mittelalter wohl niemand an
diesen Straßennamen gestört? Kennen Sie noch andere Straßennamen,
entweder in Deutschland oder in Ihrem Heimatland, die Ihnen jemals negativ
aufgefallen sind?
Ideologisierung von Straßennamen im 19. Jahrhundert
1881 wurde Köln von den Preußen zur Festung erklärt, was ein Bauverbot vor der
alten Mauer nach sich zog. Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung (1816: 50.000,
1880: 150.000 Einwohner) mussten die Stadtgrenzen ausgedehnt werden. Indem
der Rat dem preußischen Minister Kamecke die alte Mauer und das Vorgelände
abkaufte und Breschen in die alte Stadtmauer schlug, entstand die Kölner
Neustadt. Eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung war, dass 231 Straßen fast
auf einen Schlag (neue) Namen erhielten, davon 23 noch in der Altstadt. 13 Dieser
einzigartige Fall für die historische Straßennamenforschung ließe sich für eine
Unterrichtseinheit nutzen, in der die Lernenden, aufbauend auf ihre über die
mittelalterliche Benennungspraxis gewonnenen Erkenntnisse, das neuzeitliche
Prinzip der Historisierung und politischen Ideologisierung von Straßennamen
herausarbeiten könnten. Die Stadt vor Augen sollte als Stadt im Kopf verankert
werden, und zwar als „ein ideologisches Konstrukt: eine Selbstinterpretation, die in
gezielt ausgewählter Vergangenheit Identität gewinnen will." (Bering; Großstein-
beck 1994: 110).
Die folgende Tabelle ließe sich im Anschluss an die Unterrichtseinheit zum
Thema „die mittelalterliche Stadt" einsetzen. Wiederum wäre beides möglich:
Entweder den Lernenden eine kurze Einführung in die sozialen und politischen
Verhältnisse im Deutschland der 1870er Jahre nach der Gründung des Deutschen
Reiches sowie zur Rivalität zwischen dem von Preußen besetzten Rheinland und
dem übermächtigen Preußen voranzustellen oder ihnen die folgende Kartografie
13 Daten bei Bering; Großsteinbeck 1994: 108.
Copyrighted material
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht 159
gleich zu Beginn zu präsentieren und dann deduktiv zu verfahren. Wie bei allen
Unterrichtseinheiten böte es sich auch hier an, dass die Lernenden ihre Ergebnisse
in Arbeitsvorträgen vorstellen.
Tabelle 8 (vgl. Bering; Großsteinbeck 1994: 109)
Kartografie einer ideologisierten deutschen Geschichte am Rhein,
beginnend am Bayenturm in der Kölner Innenstadt/Südstadt (nach 1870)
Ubierring (auch: Teuteburgerstraße)
Chlodwigplat^
Karolinger King (auch: Meroivinger- und Kolandstraße)
Sachsenring
Salier King
Barbarossaplat^
Hohenstaufen King (auch: Dassel- und Engelbertsraße)
Habsburger King
Kudoljplat^
Hohen^ollern King
Kaiser- Wilhelm-King
Hansaring (auch: Hamburger-, Lübecker-, Bremerstraße)
Kulminationspunkt: Deutscher King (damals auch: Sedanstraße, Wörthstraße)
Arbeitsanregungen:
Recherchieren Sie im Internet die Bedeutung der neuzeitlichen Straßennamen
(Tab.8) und vergleichen Sie diese mit den mittelalterlichen Straßenbenennungen
(Tab. 5-7). Welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten fallen Ihnen auf?
Was könnten die Gründe für die unterschiedliche Art und Weise von
Straßenbenennungen im Mittelalter und in der Neuzeit sein?
Umbenennungen von Straßennamen während der NS- und in der Nachkriegszeit
Alle diese Punkte lassen sich sehr gut am Beispiel der massiven Änderungen der
Namen von Straßen, ja: ganzer Straßenzüge nach der nationalsozialistischen
Machtergreifung von 1933 aufzeigen. Die neuen Machthaber versuchten, das Ge-
dächtnis der Stadt von unliebsamen Mnemotopen und Erinnerungsinhalten sozu-
160
Arndt Kremer
sagen zu „reinigen". Getilgt werden sollte vor allem die Erinnerung an die verhass-
te Weimarer Republik und an sozialdemokratische, kommunistische, liberal-frei-
denkerische und jüdische Persönlichkeiten. An die Stelle der alten Straßennamen
traten nun die Namen der „Helden" des Dritten Reiches wie z.B. Horst Wessel
oder Dietrich Eckart.
Zu beobachten war zudem die Tendenz, das Kaiserreich nachträglich zu
rehabilitieren, indem Straßen nach populären Generälen des Ersten Weltkrieges
wie Hindenburg oder Ludendorff oder nach Repräsentanten der Hohenzollern-
monarchie (Prin^-Heinrich-S traße) benannt wurden. Überhaupt ist eine Ideologi-
sierung des Preußentums ein Hauptmotiv nationalsozialistischer Umbenennungs-
praxis. So musste der Er^bergerplat^ 1933 wieder dem Königin-Euise-Plat^ weichen
(wobei dieser zehn Jahr zuvor durch den Namen Er^bergerplat^ ersetzt worden
war). Während der Zentrums-Politikers Matthias Erzberger, der 1918 die Kapi-
tulation des Deutschen Reiches mit unterzeichnet hatte, von den Nationalsozia-
listen als Novemberverbrecher diffamiert wurde, zollte man der geradezu ikonisch
verehrten Gemahlin des Preußenkönigs Friedrich Wilhelms IV. Respekt für ihren
Versuch, bei Napoleon mildere Friedensbedingungen für das geschlagene Preußen
zu erreichen. Dass beide, der Politiker und die Königin, letztlich nur eine außer-
halb ihrer Verantwortung liegende militärische Niederlage bestätigen konnten, tat
da nichts zur Sache.
Tabelle 9 14
Straßenumbenennungen in Köln 1933-1958 (Auswahl)
vor 1933
1933-1945
nach 1945
Alte Wipperßirter Straße |
| Braunauer Straße (1938)
Alte Wipperfürter Straße
(1945)
Bebelplat^
Dietrich-Eckart-P lat^
(1933)
Bebelplat^ (1945)
Deutscher King (bis
1922); dann als
Teilstück: P/at% der
Republik
Adolf-Hitler-Plat^ (1933)
E bertplat^ (19 50)
Er%bergerplatzy
Könlgln-Luise-Platz? (1 933)
Er^bergerplat^ (1 945)
Fran^ Hit^e-S traße
Methfesselstraße (1939)
1
Fran^-Hit^e-S traße (1 945)
14 Quelle: „Straßenumbenennungen in Köln von 1933-1939" (http://www.gbg-koeln.de/denk-
mal/ns_zeit/str_33_39.htm). Diese von Schülerinnen und Schülern der Jahrgänge 9 und 11
erarbeitete Internetseite des Georg-Büchner-Gymnasiums in Köln liefert in ansprechendem Layout
gute Hintergrundinformationen zu vielen Straßennamen und den historischen Namensgebern.
Bereits Oebel 2006, 575 f., führt ähnliche Tabellen an.
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
161
Heinestraße
Corrensstraße (1935)
Heinestraße (1945)
Hillerstraße
Viktor-Schnit^ler-Straße
(1933)
Hillerstraße (1945)
Innere Kanalstraße
(Köln-Nippes)
Ludendorffstraße (1938)
-frz/z^ Kanalstraße (Köln-
Nippes) (1945)
Innere Kanalstraße
(Köln-Ehrenfeld)
Lis^tmannstraße (1938)
Innere Kanalstraße (Köln-
Ehrenfeld) (1945)
'Lassallestraße
Prin^-Heinrich-Straße
(1933)
Lassallestraße (1 945)
Loreleystraße
Ulrich-von-Hutten-Straße
(1936)
Loreleystraße (1 945)
Luxemburger Glacis
Hannes-Miebach-Straße
(1939)
Luxemburger Glacis
(1945)
Mendelssohnstraße
L^is^tstraße [iyjD)
Menaelssohnstraße (ly43j
Ujfenbachstraße
n rahmsstraße ( 1 y j j)
brahmsstraße ( 1 v 4o) ;
Umbenennung der
Hannes-Miebach-Straße in
Lindenthal in
Offenbachstraße 1 Offenbach
(1958)
Rathenauplat^
Horst-Wessel-Plat^ (1933)
Rathenauplat^ (1945)
Thywissenstraße
Wilhelm-Gustloff-Plat^
(1937)
Thywissenstraße (1 945)
Arbeitsanregungen:
Finden Sie Gründe für die Um- und Rückbenennungen der Straßennamen und
Plätze zu den angegebenen Zeiten (Tab. 9). Welche Persönlichkeiten verbergen
sich hinter den Namen? Recherchieren Sie (im Internet, in Bibliotheken etc.).
Nach dem Tod des Reichspräsidenten Friedrich Ebert am 2. März 1922
konnten sich der Rat der Stadt Köln nicht darauf einigen, einen Platz nach
dem verstorbenen höchsten Repräsentanten der Republik zu benennen. Erst
im Jahr 1950 erhielt der Ebertplat^ seinen heutigen Namen. Welche Gründe
kann es für die Weigerung des Rates gegeben haben? Recherchieren Sie dazu
Hintergrundinformationen zur Person Friedrich Eberts und zur Weimarer
Republik (politisches System, Gesellschaft, Wirtschaft etc.).
Umbenennungen von Straßennamen nach der Wende
162
Arndt Kremer
Der zweite einschneidende Wendepunkt der deutschen Geschichte nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges, die friedliche Revolution und der Fall der Mauer
von 1989, spiegelt sich auch in der Umbenennungspraxis von Straßennamen wider.
Diese war oftmals von dem seinerseits nicht ideologiefreien Gedanken geleitet, die
von kommunistisch-sozialistischen Ideologemen geprägte DDR-Erinnungskultur
umzukodieren (Vgl. Kühn 2001; Azaryahu 1992). Die Denkmäler und Sprachbilder
mit bestimmten, an den Kommunismus bzw. Sozialismus erinnernden Denotaten
erhielten neue, unverfängliche oder eben anders verfängliche Namen. Die neue
Sicht auf die Dinge veränderte das Gesicht der Stadt.
Wiederum ließe sich das Thema für einen an historischen Fragen interessierten
Sprach- und Landeskundeunterricht nutzen. Eingebettet in eine Unterrichtseinheit
zur Wendezeit könnte der Lehrende den DaF-Lernenden zum Beispiel die im
Internet weitläufig dokumentierten kontroversen Debatten zur entweder erfolgten
oder nach Protesten verhinderten Umbenennung von Leninstraßen, Ernst-Thälmann-
Straßen oder Karl-Marx-Plät^en in mehreren deutschen Städten präsentieren.
Denkbar wäre auch ein schülereigener Arbeitsvortrag inklusive Erstellung einer
Materialsammlung zur Geschichte der Um- und Rückbenennung einer ganzen
Stadt: Chemnitz (bis 1953) — > Karl-Marx-Stadt (1953-1990) — > Chemnitz (nach einer
Volksabstimmung vom 23. April 1990).
Am Beispiel des folgenden, insgesamt sechs Mal umbenannten Boleslav-Bierut-
P/at% in Magdeburg könnten die Lernenden wie an einem mnemischen Seismo-
graphen die jeweils veränderten Präferenzen von gelenkter Erinnerungskultur
ablesen:
Tabelle 10 15
Umbenennung am Beispiel des Bolestaw-Bierut-Plat^m Magdeburg
Benennungszeitraum
Straßenname
1885-1918
Kaiser- Wilhelm-Plat-^
1918-1922
Friedensplat-^
1922-1933
Staatsbürgerplat^
1933-1945
Kaiser- Wilhelm-Plat^
1946-1951
Deutscher P/at%
1951-1989
Boleslaw-Bierut-Plat^
seit 1989
Universitd'tsp/at^
15 Die Daten sind Kühn 2001: 308 entnommen.
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
163
Arbeitsanregungen:
Zwischen 1885 und 1989 wechselte ein Platz in Magdeburg insgesamt neun
Mal seinen Namen (Tab. 10). Recherchieren Sie im Internet zu den jeweiligen
Daten: Was ereignete sich in Deutschland während der angegeben Zeiträume
(politisches System, historische Wendepunkte, soziale Zäsuren etc.)
Wer war Boleslaw Bierut? Warum wohl benannte die DDR-Regierung
einen Platz nach seinem Namen und warum wurde dieser Platz nach der
Wende dann wieder umbenannt?
Fallbeispiele Straßennamen: Carl-Diem-Weg und Heinrich-Bö 'll-Plat^
Um Näheres über die Umbenennungs-Praxis von Straßennamen in der Nach-
kriegszeit zu erfahren, wäre es möglich, sich zunächst didaktisch auf aussage-
kräftige Fallbeispiele zu konzentrieren, die geeignet sind, die Brücke von der all-
täglichen Wahrnehmung zur Vergangenheit zu schlagen — spiegeln sich in den sehr
kontroversen Debatten um diese Hodonyme doch zeitbedingte, sehr unterschied-
liche Auffassungen zum Erinnerungswert der bezeichneten Personen und Objekte
wider. Hierzu können die Lernenden umfangreiche Dokumentationen im Internet
als Arbeitsgrundlage nehmen. Die beiden folgenden Fallbeispiele sind bei Werner
(2008) anschaulich und umfassend dokumentiert. Hier gilt es, die dort aufzu-
findenden Ergebnisse noch einmal kurz zusammenzufassen und zu fragen, inwie-
fern sich eine Thematisierung der Beispiele für den DaF-Unterricht nutzen ließe.
a) Bsp.l: Carl-Diem-Weg
Die heftigen Debatten um den Namen Carl-Diem-Weg währten in Köln fast drei
Jahre lang, und zwar von Januar 1994 bis November 1996. 16 Zwischen den
Fraktionen der Bezirks Vertretung Lindenthal kam es zum Streit um den 1962 nach
Carl Diem (1882-1962) benannten Weg. Schließlich hatte der Gründer und
ehemalige Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln im März 1945 auch vor
einer Hitler-Jugend-Division zum „Opfertod für Vaterland und Führer" auf-
gerufen. 17 An der in der Lokalpresse breit dokumentierten Kontroverse beteiligten
sich Bürger in zahlreichen Eingaben und Leserbriefen, die politischen Fraktionen
des Rates der Stadt Köln, das Vermessungs- und Katasteramt, die Deutsche
Sporthochschule sowie das Historische Archiv der Stadt Köln.
Man kam zu keiner abschließenden Entscheidung und ließ - nicht ganz
untypisch für die Domstadt - alles beim Alten. Erst 2005 wurde die Debatte
wiederbelebt. Die am vormaligen Carl-Diem-Weg in Köln gelegene Deutsche Sport-
hochschule unterlag schließlich im Rechtsstreit gegen die 2008 erfolgte Umbe-
16 Erwähnt ist der Namensstreit bei Werner 2008: 6f.
17 „Kölner Stadt-Anzeiger" vom 27.10.1995, „Zum ,Opfertod für Hitler' aufgerufen - Monitor zu
Carl Diem".
Copyrighted malerial
164
Arndt Kremer
nennung der Straße in Am Müngersdorfer Sportpark. Interessant ist auch, dass die
öffentlichen Kontroversen um den in Würzburg geborenen Wahlkölner Carl Diem
nicht auf Köln beschränkt blieben. Zuvor nach ihm benannte Straßen wurden
auch in Mülheim an der Ruhr (1996), in Aachen (2007) sowie in Pulheim (2009)
umgetauft. Grundschulen wie in Ritterhude, Hallen wie in Berlin-Steglitz oder in
seiner Geburtstadt Würzburg erhielten ebenfalls andere Namen.
Folgende Quellen ließen sich nutzen, entweder für den Unterricht selbst oder
für Referate von Arbeitsgruppen, welche die verwickelte Geschichte dieses
Straßennamensstreits eingehender dokumentieren könnten:
Deutsche Sporthochschule Köln: Informationsmaterialien zur Diskussion um
Carl Diem. (Pressematerialien zur Stellungnahme des Rektorats der Deutschen
Sporthochschule Köln). Köln 1996.
„Kölner Stadt-Anzeiger" vom 27 .10.1995: „Zum ,Opfertod für Hitler 5
aufgerufen - Monitor zu Carl Diem"
„Kölner Stadt- Anzeiger" vom 18.1.2002: „Grüne fordern neue Diskussion
über Carl Diem" 18
„Kölner Stadt- Anzeiger" vom 17.3.2005: „Erneute Diskussion um den Carl-
Diem-Weg" 19
„Kölner Stadt- Anzeiger" vom 16.12.2005: „Carl Diem ist nicht länger
Namensgeber" 20
„Kölner Stadt-Anzeiger" vom 21.8.2007: „Carl-Diem-Weg darf umbenannt
werden" 21
„Kölner Stadt-Anzeiger" vom 23.9.2009: „Carl-Diem-Straße wird
umbenannt" 22
b) Bsp. 2: Heinrich-Böll-Plat^
Die Kontroverse um die Verankerung des Namens des Kölner Literaturnobel-
preisträgers Heinrich Boll (1917-1985) im Straßenbild seiner Heimatstadt sind
besonders spannend, weil sie vor Augen führen kann, welche Ausmaße Diskus-
sionen um Straßenumbenennungen annehmen können. 23 Nur zwei Tage nach dem
Tod des Schriftstellers am 16. Juli 1985 schlug die Bürgermeisterin Gepa Maibaum
vor, die damalige Hülchrather Straße im Kölner Agnesviertel, an der Boll lange gelebt
und gewirkt hatte, in Heinrich-Bö '//-Straße umzubenennen. Die Idee stieß auf geteiltes
Echo. Als Alternativen wurden vorgeschlagen, entweder den Keichenspergerplat^ oder
den Appellhojplat^ mit dem Namen des großen Sohnes der Stadt zu ehren. Gegen
18 http://w-ww.ksta.de/html/artikel/1011285777239.shtml.
19 http://www.ksta.de/html/artikel/ 1 1 0924351 5314.shtml.
20 http://www.ksta.de/html/artikel/1132657955723.shtml.
21 http://www.ksta.de/html/artikel/n87683167324.shtml.
22 http://www.ksta.de/html/artikel/1246883941983.shtml.
23 Die Fakten zu diesem Namensstreit sind der sehr anschaulichen und gut lesbaren Studie von
Werner entnommen: Werner 2008: 2-7.
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
165
beide Vorschläge, einmal in der Lokalpresse publiziert, erhob sich ein Sturm der
Entrüstung. Die Gegner stritten sowohl gegen eine Tilgung des an den Appel-
lationsgerichtsrates August Reichensperger (1808-1895) erinnernden Straßen-
namens als auch gegen eine Umbenennung des Appellhojplat^es, der dem 1819 von
den Preußen installierten „Rheinischen Appellationsgerichtshof" seinen Namen
verdankte. Eine von 331 Anwälten unterschriebene Petition forderte, „daß der
Appellhojplat^ nicht umbenannt wird, sondern als Erinnerung an die liberale
Rechtsprechung bestehen bleibt." 24 Ausgerechnet der Name des „Preußen-
Gegners" Boll, wie ein Schreiber im „Kölner Stadt- Anzeiger" kritisierte, 25 sollte die
Erinnerung an eine Institution verdrängen, die mit rheinisch-französischer
Liberalität ein Gegengewicht zur preußisch-rigiden Rechtsauffassung dargestellt
hatte?
Ein Kompromissvorschlag der „Kölnischen Rundschau", stattdessen den noch
unbenannten Platz vor dem neuen Wallraf-Richartz-Museum/Museum Ludwig
Heinrich-Bö ll-Plat^ zu nennen, hatte sich zunächst nicht durchsetzen können. Man
monierte, dass diese Stelle nicht exponiert und prestigeträchtig genug für einen
solch international renommierten Autor wie Boll sei. In der Sitzung der
Bezirks Vertretung am 17.10.1985 erreichte der Antrag der SPD-Fraktion, den
Appellhojplat^ in Heinrich-Böll-Platt( umzubenennen, zwar Stimmengleichheit, wurde
aber dennoch abgelehnt. Erst die Ratssitzung am 28. Januar 1986 fand zu einem -
wie es der „Kölner Stadt-Anzeiger" formulierte - „Ende einer Blamage". 26
Einstimmig nahm der Rat in dieser Sitzung den Antrag an, den Platz vor dem
neuen Museum am Dom nach dem Kölner Ehrenbürger zu benennen.
Folgende Quellen sind relevant, wiederum entweder für den Unterricht selbst
oder für eine Präsentation der Straßennamen-Benennungsgeschichte durch die
Lernenden. Sie sind alle schon bei Werner (2008: 344f.) aufgeführt. Leider liegen
die Quellen aus Mitte der 80er Jahre nicht online vor, müssten also bei den Zei-
tungsverlagen bestellt, kopiert und ausgeteilt werden:
„Kölner Express" vom 18.7.1985, „Heinrich-Böll-Straße fürs Agnesviertel!"
„Kölner Stadt- Anzeiger" vom 13.9.1985, „Appellhofplatz wird Heinrich-Böll-
Platz"
„Kölner Stadt-Anzeiger" vom 17.9.1985, „Dem Preußen-Gegner ein Stück
Preußen geopfert. Politiker zur Benennung des Appellhofplatzes nach
Heinrich Böll"
„Kölner Stadt-Anzeiger" vom 19.10.1985, „Lachen oder Weinen. Kein Platz
für Böll"
24 ZAS — Heinrich-Böll-Platz, Schreiben des Präsidenten der Rechtsanwaltskammer Köln (Dr.
Heidland) an den Oberstadtdirektor Kurt Rossa vom 15.10.1985. Zit. n. Werner 2008: 4.
25 „Kölner Stadt-Anzeiger" vom 17.9.1985, „Dem Preußen-Gegner ein Stück Preußen geopfert.
Politiker zur Benennung des Appellhofplatzes nach Heinrich Boll". Zit. n. Werner 2008: 2.
26 „Kölner Stadt- Anzeiger" vom 29.1.1986, „Ende einer Blamage - Heinrich-Böll-Platz". Zit. n.
Werner 2008: 6.
Copyrighted malerial
166
Arndt Kremer
„Kölnische Rundschau" vom 20.9.1985, „Wäre ein Namenswechsel im Sinne
Heinrich Bolls?"
„Kölnische Rundschau" vom 20.9.1985, Heinrich-Böll-Platz" - Es gibt viele
Möglichkeiten"
„Kölnische Rundschau" vom 20.9.1985, „Museumsplatz für Boll: Nur einer
legt sich quer"
„Kölner Stadt- Anzeiger" vom 20.9.1985, „Reichensperger bleibt als Zeuge"
„Kölner-Stadt- Anzeiger" vom 9.10.1985, Leserbriefe
„Kölner Stadt- Anzeiger" vom 29.1.1986, „Ende einer Blamage - Heinrich-
Böll-Platz"
Arb eits anr egungen :
Carl Diem war ein verdienstvoller Funktionär in der Domstadt, Heinrich Boll
ein international geehrter Kölner Autor. Warum kam es bei diesen Straßen-
umbenennungen dann überhaupt zu solch kontroversen Debatten?
Schreiben Sie einen Kommentar in einer Zeitung zur Umbenennung des
Carl-Diem-Weges, in dem Sie entweder für oder gegen die Umbenennung
Stellung beziehen.
Bilden Sie eine Diskussionsrunde zum Thema „Namensstreit um einen
,Nazi?", an dem sich folgende Personen beteiligen: Ein Vertreter der Kölner
Sporthochschule, ein Journalist des „Express", die Bürgermeisterin, ein
früheres Mitglied der Hitler-Jugend, Anwohner des Carl-Diem-Weges, die Enke-
lin eines Opfers des Nationalsozialismus, ein Namensforscher etc..
Fallbeispiel (Fußball-) Stadionsnamen: Signal Iduna Park statt Westfalenstadion
Marion Werner hat am Beispiel der Kölner Toyota-Allee einen Paradigmenwechsel
von Straßenbenennungen von einer kulturellen Motivation hin zu einer Kommer-
zialisierung nachgezeichnet — ein Phänomen, das die Semiotik vieler deutscher Städte
zunehmend prägt (Werner 2008: 6 1-64). 1994 hatte die Firma „Toyota" einen Antrag
an die CDU-Bezirksvertretung Lindenthal und an den damaligen Oberstadtdirektor
gestellt, einen Straßennamen mit dem Namen der Firma zu erhalten. Das Kölner
Zentrale Archiv für Straßenbenennungen (ZAS) lehnte diesen Antrag entschieden
ab. Es schien, das Amt wollte verhindern, dass rein ökonomische Kräfte ihren Platz
in der Symbolwelt des kulturellen Gedächtnisses reklamierten.
Zwar gab es bereits Straßen, deren Namen an Wirtschaftsunternehmen erin-
nerten, doch hatte man damit in erster Linie die Gründerväter der entsprechenden
Unternehmen ehren wollen: Die Siemensstraßen in Neuehrenfeld und Porz sollten
eben an Werner von Siemens (1816-1892), die Daimlerstraßen in Lövenich und
Bickendorf an Gottlieb Daimler (1834-1900) erinnern. Diese Namen bedeutender
deutscher Unternehmensväter sind im kulturellen Gedächtnis verankert. Wer aber
kannte in Köln den Japaner Kiichiro Toyoda (1894-1952), der 1937 das
Copyrighted material
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
167
gleichnamige Unternehmen gegründet hatte, das man im deutschen Sprachraum
mit zwei „t" schreibt? Trotz einiger Proteste wurde dem Antrag der Firma Toyota
1994 zugestimmt und dann 1999 endgültig entsprochen, die Straße, an der das
Unternehmen seinen Standort hat, in Toyota-Allee umzubenennen. Werner konsta-
tiert: „Von diesem Zeitpunkt an war Wirtschaftsförderung als Benennungsgrund
legalisiert." (Werner 2008: 63). Der Paradigmenwechsel einer rein ökonomisch
motivierten „Vertreibung der Kultur aus der Sprache" (Ehlich 2006: 50) ist mittler-
weile zur Normalität geworden: Heutzutage scheint es in vielen deutschen Städten
beinahe opportun, Straßen oder andere städtische Signifikate nach ansässigen Fir-
men zu Werbezwecken zu benennen.
Die Analysen, welche die enge Verzahnung von Name und Identität und deren
Gefährdungen belegen, müssen weder auf Köln noch auf Straßennamen
beschränkt bleiben. Ein ebenso diskussionswürdiges Thema ist die seit Jahren zu
beobachtende Tendenz, bestimmte Plätze der Begegnung und Erinnerung nach
kommerziellen Gesichtspunkten umzubenennen. Ein besonders plastisches
Beispiel für diese Praxis, Mnemotope durch „Kommerztope" zu ersetzen, bilden
Fußballstadien. Bering hat, unter anderem anhand zahlreicher Leserbriefe und
Artikel in Zeitungen, dokumentiert, welche Auswirkungen die Umbenennung von
Fußball- und allgemeiner: Sportstadien nach Wirtschaftsunternehmen oder Wirt-
schaftsprodukten auf die Identitätsversicherung der Fans haben kann. 27 Früher traf
man sich im Bielefelder Almstadion oder im Bochumer Ruhrstadion, mittlerweile
spielt man in der Schüco Arena oder im rewirpowerSTADlON. Das Hamburger
Volksparkstadion wurde bereits so oft umbenannt, dass viele Fans den Überblick
verloren haben und trotzig dem ihnen vertrauten Namen treu bleiben. Bis 3. Juli
2007 hieß das Stadion offiziell AOL Arena und bis einschließlich 30. Juni 2010
HSH Nordbank Arena. Zwischendurch erhielt es zur Fußball- Weltmeisterschaft den
Namen FIFA WM-Stadion Hamburg, während die offizielle Bezeichnung zu den
Europapokal-Spielen Hamburg Arena lautet.81 Jahre trafen sich die Kölner im
Müngersdorfer Stadion, bis auch dieser Traditionsname 2004 fiel und durch Rhein-
EnergieS tadion ersetzt wurde — ein Name, der schon durch seine eigenwillige
Schreibweise (ein Quasi-Kompositum durch fehlende Leerstellen zwischen den
Substantiven) Aufmerksamkeit erheischt. Den Anhängern von Borussia Dortmund
wurde gar der seit 1974 vertraute Name des Westfalenstadions entrissen und 2005
durch den Signal Iduna Park ersetzt. „Signal Iduna Park, niemals" hatte noch ein
wütender Schreiber in einem „Einwurf" in der „FAZ" am 14. Oktober 2005 stand-
haft verkündet und dabei offenbart, dass Namen durchaus nichts Profanes sind:
„Namen sind nicht Schall und Rauch. Und der BVB gehört ins Westfalen-Stadion.
27 Bering 2007, v.a.461-464. Bei ihm findet sich nicht nur eine der ersten systematischen Auf-
arbeitungen dieses Themas, sondern auch eine tabellarische Einordnung der Namensumbenen-
nungen von vierzig Stadien unter Nennung der jeweiligen Fußballvereine. Seine Tabelle eignet sich
sehr gut als Grundlage für die Erstellung einer Materialsammlung für den DaF-Unterricht: Bering
2007: 438-441.
Copyrighted malerial
168
Arndt Kremer
Der Name des Fußball-Tempels ist heilig. So etwas verkauft man nicht - und
wenn doch, dann ist Signal Iduna Park die Höchststrafe." 28
Zwei Monate später war die Namensbenennung unter Dach und Fach.
Geschätzte 20 Millionen Euro, welche Borussia Dortmund von der Signal Iduna
Gruppe bis 2016 erhält, waren letztlich doch überzeugender als mögliche Gefähr-
dungen des kulturellen Gedächtnisses mittels rein kommerzgesteuerter Namens-
umbenennungen. Nach zahlreichen Protesten der Fans beschloss die Dortmunder
Bezirksvertretung Innenstadt- West Anfang 2006 als eine Art Versöhnungsakt,
zumindest eine Straße in Stadionnähe Am Westfalenstadion zu nennen. Der Verein
versuchte zwar zu intervenieren, weil er darin eine Spitze gegen den so wichtigen
Sponsor sah, doch ging die Namensbenennung letztlich durch.
Bering hat den Prozess der Kommerzialisierung von Stadiennamen an den
Beispielen Bochum (Ruhrstadion — > rewirpowerSTADION) und Nürnberg {Franken-
stadion — > easyCredit-Stadion) analysiert. Die bei ihm dokumentierten Artikel in der
Lokalpresse bieten ausdrucksstarke Wortmeldungen von Seiten der Fangruppen
und journalistische Kommentare, welche den hohen Identitätsgrad des vertrauten
Stadionsnamens offen legen (Bering 2007: 449-458). Für den Namensstreit um das
Westfalenstadion in Dortmund sind — als kleine Auswahl aus einer Vielzahl von
Artikeln — folgende, sämtlich im Internet einsehbare Quellen interessant:
„FAZ" vom 14.10.2005: „Signal Iduna Park, niemals. Ein Einwurf von Ralf
Witzler"
„FAZ" vom 6.9.2006: „Neue Stadiennamen , schwer durchsetzbar"' 29
„FAZ" vom 1.7.2008: „Kommerzialisierung der Namenwelt. Gute Stimmung
in der Aldi-Südkurve" 30
Arb eits anr egungen :
Dokumentieren Sie die Geschichte der Umbenennung des Dortmunder
Westfalenstadions in Signal Iduna Park.
Welche Argumente Pro und Kontra werden in den Artikeln angeführt?
Kommen Sie zu einer eigenen Stellungnahme.
Stellen Sie sich vor, das Thema wird im WDR in einer Talkshow diskutiert.
Bilden Sie dazu eine Diskussionsrunde. Wählen Sie verschiedene Diskussions-
teilnehmer aus, die über das Thema diskutieren, z.B. Vertreter des Unter-
nehmens Signal Iduna Group, des Fußballvereins Borussia Dortmund (Mann-
schaft, Trainerstab etc.), der Fangruppe, kommunale Politiker, ein Journalist.
28 „FAZ" vom 14. Oktober 2004: „Signal Iduna Park, niemals. Ein Einwurf von Ralf Witzler",
http:/ / www.faz.net/ -00n26p.
29 http://www.faz.net/-00qd5y.
30 http://www.faz.net/-00tfpb.
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
169
4.5.3. Interkulturelle Vergleiche: Beispiel Valletta in Malta
Abschließen will ich meinen Beitrag mit der Anregung, die Praxis von
Straßenbenennungen in verschiedenen Ländern miteinander zu vergleichen.
Natürlich würde auch die kontrastive Betrachtung von Straßennamen mehrerer
deutscher Städte interessante Fragen evozieren, etwa die, warum es in so gut wie
jeder deutschen Großstadt eine Beethovenstraße gibt, aber nicht überall eine
Mendelssohnstraße, oder warum Düsseldorf 18,12 % seiner Straßen mit Bezügen zu
Kunst und Kultur benannt hat, während die selbst ernannte Kulturstadt (und
gescheiterte europäische Kulturhauptstadt-Kandidatin) Köln in der Kemstadt auf
gerade einmal 1,2 % solcher Straßennamen mit künstlerisch-kulturellen Denotaten
kommt.
Für den interkulturell orientierten Landeskundeunterricht würde ein solch
innerdeutscher Vergleich indes weniger effektiv sein. Hier gilt es, Kulturpraxis und
Sprache von Ausgangs- und Zielkultur wechselseitig zu betrachten, und zwar unter
Einbeziehung historischer Prozesse. Idealiter resultiert daraus eine Zunahme inter-
kultureller Kompetenz, denn: „Ein tiefer gehendes Verständnis in Bezug auf die
Entwicklung eines konkreten zielkulturellen Systems wird dann erreicht, wenn als
kulturspezifisch erkannte Merkmale in ihren historischen Entwicklungszusammen-
hängen erklärt werden." (Bolten 2007: 96). Cultural Studies sowie interkulturelle
Lernkonzepte im Landeskunde- wie im Sprachunterricht zielen darauf, sich mit
mindestens zwei Kultur-Perspektiven reflektiv-kritisch auseinanderzusetzen.
Krumm konstatiert: „Fremdsprachenunterricht muss prinzipiell interkulturell sein,
insofern als sein Thema die Begegnung (die Konfrontation) mit einer anderen
Sprache und Kultur ist." (Krumm 2003: 139). Und selbst für den reinen For-
schungsbereich fordert Bering eine möglichst breite komparatistische Skala in der
Straßennamenforschung: „Städte aus gleichem Raum und mit sehr ähnlicher
(Sozial-) Geschichte müssten gegen solche gestellt werden, die ganz andere
Lebensvoraussetzungen hatten." (Bering 2002: 212). Wo also gibt es Schnitt-
punkte, wo Differenzen? Es liegt natürlich nahe, dass die Lernergruppen Straßen-
namen aus den Städten bzw. Ländern wählen, die einer Mehrzahl der Lernenden
vertraut sind. Es wäre darüber hinaus anzuraten, auch auf konfessionelle Bezüge
der Lernenden Rücksicht zu nehmen und etwa im Falle einer Lernergruppe aus
hauptsächlich islamischen Ländern eine Stadt auszuwählen, welche die religiösen
Bezüge in ihrer Straßennamen-Praxis abbildet (und diese, dann oft, wie zum
Beispiel im Falle der verfassungsmäßig laizistischen Türkei, nicht-religiösen
Denotaten gegenüberstellt).
Die beiden letztgenannten Punkte werden die Straßennamen-Praxis im kleinsten
und per Verfassung christlich-katholischen EU-Land Malta (410.000 Einwohner, 316
km 2 , Malteser zu 95 Prozent römisch-katholisch) nicht betreffen. Malta wähle ich
dennoch aus, und zwar einmal aus ganz persönlichen Gründen, da ich am
Department of German Studies an der dortigen Universität seit Anfang 2009 erster
DAAD-Lektor bin und dabei auch mitgewirkt habe, einen MA-Studiengang zu
Copyrighted malerial
170
Arndt Kremer
gründen, der Elemente der Landeskunde, interkultureller Studien, aber auch der
Pragma- und Soziolinguistik mit einschließt. Eine kulturell orientierte und kreativ
arbeitende Fremdsprachendidaktik DaF ist hier besonders vonnöten, da Malta seine
Bezugspunkte immer noch sehr stark am Nachbarn Italien und der ehemaligen
Kolonialmacht Großbritannien ausrichtet. Deutschland ist dagegen vielen nach wie
vor ein recht leerer Begriff, allenfalls angereichert durch semantisch eher dürftig
konnotierte Stereotypen. 31 Malta eignet sich darüber hinaus für eine kontrastive
Analysen zu Köln, weil es in seiner alten Geschichte ähnlich wie die Domstadt seine
christlichen, hier aber ausschließlich katholischen Identitätsbezüge in Straßennamen
einschreibt — und dies meist im harmonischen Nebeneinander zu Straßennamen mit
rein nationalen bzw. politisch-weltlichen Denotaten.
Schauen wir uns dazu einmal die Straßennamen in der Hauptstadt Valletta an,
der kleinsten Hauptstadt Europas (ca. 6.100 Einwohner bei einer Fläche von
0.8 km 2 ), die von dem französischen Großmeister des Malteserordens, Jean Parisot
de la Valette (1494-1568), im Jahr 1565 unmittelbar nach dem erfolgreich ab-
gewehrten Angriff des Osmanischen Reiches auf Malta nach strategischen
Gesichtspunkten angelegt wurde. 32
THtölS A HISTORICAL 1
STREET NAME SIGN
Abb. 4: „Historischer Straßenname" in Malta, Englisch und Maltesisch
Photo: Arndt Kremer.
31 Gleichwohl Malta lange zurückreichende kulturelle und politische Bezüge zu Deutschland aufweist:
Der erste systematische Versuch, das Maltesische aus dem Punischen abzuleiten, unternahm 1718 der
Deutsche Heinrich Johannes Maius; der letzte Großmeister des Malteserordens, Ferdinand von
Hompesch, war ebenfalls Deutscher. Die deutsch-maltesischen Kontakte spiegeln sich dann auch
vereinzelt in den Straßennamen wider. So findet sich im maltesischen St. Julians neben einer Triq
Hans Stumme (benannt nach dem Orientalisten Hans Stumme, 1864-1936) auch eine Triq Albert Mayr
(nach dem gleichnamigen Archäologen, der zu den maltesischen Tempelanlagen in Hagar Qim
forschte). In Naxxar stößt man auf eine Triq Hieronimus Megiser, die an den Polyhistoriker und
Sprachgelehrten Hieronimus Megiser (1554-1618/19) erinnert, der in seinen Werken „Polyglottus
Thesaurus" und „Propugnaculum Europae" 1606 als einer der ersten maltesische Wörter sammelte
und ins Deutsche übertrug. (Die Hinweise zu diesen Straßennamen verdanke ich meinem Kollegen
Dr. Albert Friggieri).
32 Ein Straßenplan Vallettas findet sich z.B. unter: http://mappery.com/maps/Valletta-Tourist-
Map.jpg.
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
171
Es fällt auf, dass Vallettas Straßennamen nach einem Raster konzipiert wurden, das
von einer mnemotopischen Planmäßigkeit geleitet zu sein scheint. Die Haupt-
straßen, die weitgehend durchgängig vom Haupteingangstor zur Meerseite führen,
tragen mit zwei Ausnahmen sämtlich Namen, die keine kirchlichen oder
christlichen Denotate aufweisen: Kepublic Street (Maltesisch: Triq ir-Repubblikd);
Merchant Street (Triq il-Merkanti); Old Bakery Street (Triq il-Fran), Strait Street (Triq Id
Dejqa), Old Mint Street (Triq Zekka). Diese Straßennamen erinnern also erstens an
die Unabhängigkeit Maltas von Großbritannien 1964 bzw. die Erklärung zur
Republik 1974 (Kepublic Street), zweitens an die bis zu den Phöniziern zurück-
reichende Handelsgeschichte Maltas (Merchant Street) und drittens, ganz im Sinne
der Analysen Glasners, an eine früher vorherrschende Tendenz zur Abbildung der
städtischen Gegebenheiten durch Straßenbezeichnungen nach dort ehemals
dominierenden Berufen (Bäcker: Old Bakery Street). Die angesprochenen Aus-
nahmen bilden die St. Ursula Street (Triq Sant' Orsld) und die St. Paul Street (Triq San
Paipl), wobei sich die Platzierung der letzteren leicht durch das erwähnte Prinzip
der Gleichwertigkeit von Signifikat und Signifikant erklären lässt, d. h. die
Bedeutsamkeit des Namensträgers muss mit der — auch topologischen — Bedeutung
des Straßennamens innerhalb der Stadt in etwa korrespondieren: Da Paulus als dem
Schutzpatron Maltas ein exzeptionell hoher Symbolwert für die kollektive wie
individuelle Identität der Malteser zukommt, wäre es insofern kaum vorstellbar
gewesen, ihm in der Hauptstadt der Republik ein nicht ganz zentral gelegenes
Bezeichnungsobjekt, also etwa eine Seitenstraße, zuzuweisen.
Diese vier Hauptstraßen mit von politischen, ökonomischen, christlichen bzw.
beruflichen Denotaten gekennzeichneten Hodonymen werden nun aber gekreuzt
von einer ganzen Reihe von Seitenstraßen mit Heiligennamen (Hageonymen) oder
zumindest kirchlich-christlichen, das heißt im Falle Maltas ausschließlich katho-
lischen Denotaten: St. John 's Street (Triq San Gwann); St. "Lucia Street (Triq Santa
Lucia); Archbishop Street (Triq L'Arcisqoj); St. Christopher Street (Triq San Kristoferu); St.
Dominic Street (Triq San Duminikü) etc. Die Seitenstraßen führen in gerader Linie auf
die Hauptstraßen zu, die auf dem Weg zur Seeseite wiederum zu großen Plätzen
leiten, die an die Geschichte des Malteserordens erinnern: Great Siege Square (erin-
nernd an die erfolgreiche Verteidigung Maltas gegen den Angriff der Osmanen
1565) und Palace Square (an dem der Palast der ehemaligen Großmeister des
Malteserordens steht, welcher heute zugleich Museum wie Präsidentenpalast ist).
Die Deutung liegt nahe, dass die Straßenbenennungs-Praxis in der Hauptstadt
zeigen soll: Hier handelt es sich zwar um eine Republik mit ganz profanen
politischen und ökonomischen Interessen, aber um einen Staat, der sozusagen sakral
umrahmt ist, auch weil seine christlich-katholische Vergangenheit und Identität einen
ganz wesentlichen Teil des kulturellen Gedächtnisses seiner Bürger bildet. Vallettas
Gründervater, der Großmeister de la Valette, benötigt keine Straße mit seinem
Namen - er ist im Namen selbst präsent, ist also dem kommunikativen und
kollektiven Gedächtnis als Stadtname selbst unauslöschbar eingeschrieben.
Copyrighted malerial
172
Arndt Kremer
Die Abgrenzungsbewegung des katholischen Malta vom anglikanischen Groß-
britannien ist anhand einzelner Hodonyme besonders augenfällig abzulesen. Zwar
übernahm Malta nach der Unabhängigkeit von der Krone 1964, die indes bis heute
keinesfalls zu einem Austritt aus dem Commonwealth geführt hat, zunächst die
meisten der britischen Straßennamen — dass jedoch ausgerechnet der Queensway in
Pope Pius V Street (Triq Papa Piju V) umbenannt wurde, ist ein an Deutlichkeit
kaum noch zu überbietendes Statement. Gleiches gilt für die Namensänderung der
Britannia Street in Melita Street (Triq Melitd), die an den alten, vielleicht ursprünglich
phönizischen Namen Maltas erinnert. Anhand einer einzelnen Straße wie der
heutigen Republic Street ließe sich zudem die moderne Geschichte Maltas im Kurz-
durchlauf ersehen. Die Franzosen, auch in Köln verantwortlich für eine durch-
gängige Straßennummerierung („4711") und eine ideologischere Straßenbenen-
nungspraxis, gaben während ihrer kurzen Herrschaft über Malta unter Napoleon von
1798 bis 1800 der Hauptstraße den Namen Rae Nationale. Nach dem Abzug der
französischen Truppen nannten die Briten die Straße in Kingsway um, der allerdings
oft unter dem italienischen bzw. maltesischen Namen Strada Reale/ Strada R/ali
firmierte (Italienisch war bis 1933 Amtssprache Maltas). Nach der Trennung Maltas
von der britischen Krone erhielt die zentrale Straßenader Vallettas dann ihren
heutigen Namen. 33 Ahnliche frankophone Umbenennungen fanden nach der
französischen Besetzung von 1794 auch in Köln statt, wie sich an der wechselhaften
Namensgeschichte der zentralen Plätze leicht erkennen lässt, die entweder eine völlig
neue Bedeutung erhielten wie Neumarkt — > place des victoires oder aber mit franzö-
sischen Namen versehen wurden, die eine reine Bedeutungsübertragung aus dem
Deutschen darstellen, so wie Freybeitsplat^ — > place de la liberte (vgl. Kramer 1993: 233).
Zu fragen wäre nun beispielsweise: Gibt es ähnliche Cluster in deutschen, vor
allem katholisch geprägten Städten, z.B. in Köln oder München? In Valletta sind
ca. 25 % aller Straßennamen Hageonyme oder Namen mit kirchlichen bzw. reli-
giösen Bezügen. In Köln waren es 1997 immerhin noch 13 % religiöse Bezüge
(Werner 2008: 283, Diagramm 37), zwar nicht ausschließlich katholischer Prove-
nienz wie in Valletta, aber doch hauptsächlich. Vergleicht man die Straßennamen-
praxis in Valletta und Köln, so ließen sich schon auf den ersten Blick Parallelen in
der topografischen Orientierungsfunktion nach Clustern von Heiligen-, bzw.
Kirchennamen erkennen. Die St Dominic Street in Valletta führt eben zur Domini-
kanerkirche, während die Kölner Cäcilienstraße zur Klosterkirche der Heiligen Cäcilie
leitet. Dennoch lässt sich in Köln, z.B. in der Innenstadt, eine solch stringente
Clusterisierung von Hauptstraßen, benannt nach weltlich-politischen Bezügen und
darauf zuführenden Seitenstraßen mit kirchlich-religiösen Bezügen, nicht erkennen.
Das mag daran liegen, dass die nationalpolitische Selbstvergewisserung der Republik
Malta erst vor gerade einmal 40 Jahren wirklich konkrete Züge angenommen hat. 34
33 Vgl. hierfür und generell als Fundgrube für die Recherche zu maltesischen Straßennamen:
http://cilialacorte.com/Valletta%20Street%20Names.htm.
34 Natürlich zeigt sich auch in Malta das „mnemische Potential" von Straßennamen bzw. der
Benennungen öffentlicher Plätze besonders dann, wenn Umbenennungen anstehen — z.B. aufgrund
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
173
5 Fazit
Straßennamen verbinden Alltagserfahrungen mit tiefer gehenden kultur- und
mentalitätsgeschichtlichen Erkenntnissen und Gedächtnisinhalten. In der kon-
trastiven-internationalen Analyse lassen sich anhand von Hodonymen Parallelen
und Differenzen in den Erinnerungsrepräsentationen verschiedener Gesellschaften
und Nationen aufzeigen. All dies prädestiniert das Thema geradezu für einen
handlungsbezogenen Sprach- und Kulturunterricht, der bestrebt ist, interkulturelle
Kompetenzen zu fördern. Die Unterrichtsdiskussion sollte auf der Grundlage ver-
schiedener Quellen geführt werden. Für die Quellenarbeit bieten sich in erster
Linie Alltagsquellen wie Zeitungstexte inklusive Leserbriefen an, aber auch Archiv-
materialien aus Zentralarchiven zur Straßennamenvergabe sowie Grund- und
Adressbücher. Da viele Quellen im Internet zugänglich sind, können die Lernen-
den zur Eigenrecherche motiviert werden.
Die Einsatzmöglichkeiten von Straßennamen, aber auch von anderen
Namensfeldern wie Objektnamen im DaF-Unterricht sind so vielfältig, dass hier
nur einzelne Aspekte angesprochen werden konnten. Es wäre an der Zeit, dem
Thema noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen, z.B. durch die Erstellung einer
kontrastiv ausgerichteten Materialsammlung von Quellen, welche die speziellen
Erfordernisse des Fremdsprachen- und Landeskundeunterrichts berücksichtigt.
Literatur
Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität
in frühen Hochkulturen. München: Beck.
Assmann, Jan; Hölscher, Tonio (Hrsg.) (1988): Kultur und Gedächtnis.
Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Azaryahu, Maoz (1992): Die Umbenennung der Vergangenheit, oder: Die Politik
der symbolischen Architextur der Stadt Ost-Berlin 1990-91. In: Zeitschrift für
Volkskunde 88 (1992), 16-29.
veränderter sozialer und politischer Präferenzen im Hinblick auf Erinnerungszeichen und -inhalte.
Ein gutes Beispiel jüngeren Datums ist die Diskussion um die Umbenennung des Gaddafi Gardens
(Gnien Gaddafi) im maltesischen Städtchen Paola. Was über Jahrzehnte niemanden wirklich
interessierte, wurde nach dem brutalen Vorgehen Gaddafis gegen Oppositionelle während der
Protestbewegungen und Kämpfe in Libyen im Sommer und Herbst 2011 Gegenstand längerer
Kontroversen, nachzulesen u. a. in Zeitungsartikeln und Gnline-Kommentaren: Vgl. die Online-
Kommentare zum Artikel „Gaddafi honours can only be removed by parliamentary resolution",
timesofmalta.com, 8.3.2011 http://www.timesofmalta.com/articles/view/20110826/local/parlia-
mentary-secretary-proposes-renaming-of-gaddafi-gardens. 381938). Vgl. den Kommentar zu dem
Artikel "Libya no-fly zone would require bombing raids", timesofmalta.com, 1.3.2011
(http:/ / daphnecaruanagalizia.com/201 1/03/01 /guess-whats-going-to-happen-if-somebody-dares-
mention-maltas-airfield/), Eintrag vom 2. März 2011: „Oh, and we need to change Gnien Gaddafi's
name. Imagine if we had a Gnien Mussolini during World War II."
Copyrighted malerial
174
Arndt Kremer
Bolten, Jürgen (2007): Interkulturelle Kompetenz Erfurt: Landeszentrale für politische
Bildung Thüringen.
Bering, Dietz; Großsteinbeck, Klaus (1994): Die Kulturgeschichte von
Straßennamen. Neue Perspektiven auf altem Terrain, gewonnen am Beispiel
Köln. In: Muttersprache 2 (1994), 97-117.
Bering, Dietz; Großsteinbeck, Klaus; Werner, Marion (1999): Wegbeschreibungen.
Entwurf eines Kategorienrasters zur Erforschung synchroner und diachroner
Straßennamenkorpora. In: Zeitschrift für germanistische Unguistik 27 (1999), 135-166.
Bering, Dietz (2001): Grundlegung kulturwissenschaftlicher Studien über
Straßennamen: Der Projektentwurf von 1989. In: Eichhoff, Jürgen; Seibicke,
Wilfried; Wolffsohn, Michael (Hrsg.) (2001): Name und Gesellschaft. Soziale und
historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung. Mannheim u. a.:
Duden- Verlag, 270-281
Bering, Dietz (2002): Das Gedächtnis der Stadt. Neue Perspektiven der
Straßennamenforschung. In: Kremer, Dieter (Hrsg.) (2002): Onomastik. Bd. I.
Chronik, Namenetymologie und Namengeschichte, Forschungsprojekte. Tübingen:
Niemeyer, 209-225.
Bering, Dietz; Großsteinbeck, Klaus (2007): Die ideologische Dimension der
Kölner Straßennamen von 1870 bis 1945. In: Jaworski, Rudolf; Stachel, Peter
(Hrsg.) (2007): Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Codierungen von
Plätzen, Denkmälern und Straßennamen im europäischen Vergleich. Innsbruck: Frank
& Timme, 311-335.
Bering, Dietz (2007): Die Kommerzialisierung der Namenwelt. Beispiel:
Fußballstadien. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 35, 3 (2007), 434-465.
Deutsche Sporthochschule Köln (Hrsg.) (1996): Informationsmaterialien %ur Diskussion
um Carl Diem (Pressematerialien zur Stellungnahme des Rektorats der
Deutschen Sporthochschule Köln). Köln: DSHK.
Dinzelbacher, Peter (1993): Raum. In: Dinzelbacher, Peter (Hrsg.) (1993):
Europäische Mentalitätsgeschichte. Stuttgart: Kröner, 604-615.
Ehlich, Konrad (2006): Die Vertreibung der Kultur aus der Sprache. 13
Reflexionen zu einem reflexionsresistenten Thema. In: Zeitschrift für
germanistische Linguistik 34 (2006), 50-63.
Föllner, Ursula; Luther, Saskia; Weinert, Jörn (Hrsg.) (2011): Straßennamen und
Zeitgeist. Kontinuität und Wandel am Beispiel Magdeburgs. Halle (Saale):
Mitteldeutscher Verlag.
Frank, Rainer; Koß, Gerhard (Hrsg.) (1994): Namenkunde in der Schule. Reader ^ur
Namenkunde IV. Germanistische Linguistik 121-123 (1994). Hildesheim u.a.: Olms.
Copyrighted malerial
Namen schildern: Straßennamen und andere Namensfelder im DaF-Unterricht
175
Glasner, Peter (2001): Vom Ortsgedächtnis zum Gedächtnisort: Straßennamen
zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Eichhoff, Jürgen; Seibicke, Wilfried;
Wolffsohn, Michael (Hrsg.) (2001): Name und Gesellschaft. Soziale und historische
Aspekte derNamengebungund Namenentwicklung. Mannheim u. a.: Duden- Verlag,
282-302.
Glasner, Peter (2002a): Die Lesbarkeit der Stadt. Kulturgeschichte der mittelalterlichen
Straßennamen Kölns. Köln: DuMont.
Glasner, Peter (2002b): Die Lesbarkeit der Stadt. Lexikon der mittelalterlichen
Straßennamen Kölns. Köln: DuMont.
Humboldt, Wilhelm von (1830-1835): Über die Kawi Sprache auf der Insel Java. In:
Leitzmann, Albert (Hrsg.) (1907): Wilhelm von Humboldts Werke, Bd. 7. Berlin
(Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd. 1-25), 1-344.
Jung, Udo O. H. (2000): Über das Kollektivgedächtnis der Deutschen und wie
man sich die Zukunft verschafft. In: Info DaF 27, 6 (2000), 609-616.
Jung, Udo O. H. (2005): Straßennamen als kollektives Gedächtnis. In: Deutsch als
Fremdsprache 2 (2005), 95-101.
Jung, Werner (2004): Das moderne Köln. Der historische Stadtführer. Köln: Bachem.
Kaufman, Fred; Lutz, Dagmar; Schmidt-Esters, Gudrun (Hrsg.) (1996): Kölner
Straßennamen: Neustadt und Deut%. Köln: Greven.
Keller, Rudi (1994): Sprachwandel. Tübingen u. a.: UTB.
Klever, Alfred (2001): Köln. Eine Stadtgeschichte für junge Feser. Köln: Emons.
Korff, Gottfried (1992): Namenswechsel. Volkskundliche Anmerkungen zur
„Politik" der Straßenumbenennungen in der ehemaligen DDR. In:
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde Bd. XL VI, 95, 325.
Koß, Gerhard (1990): Namenforschung. Eine Einführung in die Onomastik. Tübingen:
Niemeyer.
Kramer, Johannes (1994): Französische Personen- und Ortsnamen im Rheinland
1794-1814. In: Dahmen, Wolfgang; Holthus, Günter; Kramer, Johannes;
Metzeltin, Michael; Winkelmann, Otto (Hrsg.) (1993): Das Französische in den
deutschsprachigen Fändern. Romanistisches Kolloquium VFL. Tübingen: Günter Narr,
222-236.
Krumm, Hans-Jürgen (2003): Curriculare Aspekte des interkulturellen Lernens und
der interkulturellen Kommunikation. In: Bausch, Karl-Richard; Christ,
Herbert; Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht.
Tübingen, Basel: A. Francke, 138-144.
Copyrighted malerial
176
Arndt Kremer
Kühn, Ingrid (2001): Umkodierung von öffentlicher Erinnerungskultur am Beispiel
von Straßennamen in den neuen Bundesländern. In: Eichhoff, Jürgen; Seibicke,
Wilfried; Wolffsohn, Michael (Hrsg.) (2001): Name und Gesellschaft. Soziale und
historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung. Mannheim u. a., 303-317.
Oebel, Guido (2006): Didaktisierung von Straßennamen aus dem deutschen
Sprachraum für den interdisziplinären Unterrichtseinsatz — DaF, Germanistik,
Landeskunde, Linguistik, Geschichte. In: Info DaF 33, 6 (2006), 569-583.
Peirce, Charles Sanders (1903): Pragmatism as a Principle and Method of Right
Thinking. In: Turrisi, Patricia Ann (Hrsg.) (1997): Charles Sanders Peirce.
Pragmatism as a Principle and Method of Right Thinking. The 1903 Harvard 'Tectures
on Pragmatism". Albany, N.Y.: State of New York Press, 107-256.
Priebe, Ilona (2008): Kölner Straßennamen erzählen: Von Schaafenstraße bis Fil^engraben.
Köln: Bachem.
Roche, Jörg (2008): Fremdsprachenerwerb und Fremdsprachendidaktik. Stuttgart: UTB.
Sarrazin, Thilo (2010): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Tand aufs Spiel setzen.
München: Deutsche Verlags-Anstalt.
Schmid, Angela (2005): Schildergasse, Alter Markt <& Co. Kölner Straßennamen und ihre
Bedeutung. Köln: Compact.
Schultheis, Johannes; Walter, Hans (1968): Kritisches zur Straßennamengebung in
Westdeutschland. In: Informationen der Teip^iger namenkundlichen Arbeitsgruppe an
der Karl-Marx-Universität 11,7-9.
Werner, Marion (2008): Vom Adolf -Hitler-Plat^ %um Ebertplat^: Eine Kulturgeschichte
der Kölner Straßennamen seit 1933. Köln: Böhlau.
Copyrighted malerial
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
Joachim Sistig
Einleitung: Unterrichtsthema „Erster Weltkrieg"
Fremdsprachenunterricht soll über sprachliche und landeskundliche Zielsetzungen
hinaus immer auch einen interkulturellen Anspruch erfüllen. Kommunikations-
kompetenz und Kulturwissen sollten niemals bloß Selbstzweck sein, solange nicht
auch Fragen der Identitätsstiftung und historischen Verortung in Relation zu ande-
ren Kulturräumen - besonders zum Herkunftshorizont des jeweiligen Lerners -
gestellt werden. Pierre Noras Arbeiten zu den unterschiedlichen Erscheinungs-
formen der „lieux de memoire"' haben gezeigt, dass Gedächtnisorte zum Ersten
Weltkrieg in Frankreich einen anderen, vor allem differenzierteren Stellenwert be-
setzen als in Deutschland: Neben den offiziell sanktionierten staatlichen Erinne-
rungsritualen mit Sarkozy und Merkel am 11. November auf den Champs-Elysees
lässt sich durchaus auch ein Geschichtsbewusstsein „von unten" gegenüber der
„Grande Guerre" beobachten, die im Bereich der Populärmedien z.B. durch die
eindrucksvollen bandes-desstnees-Beitt'ige von Tardi einen unpatriotischen, antiauto-
ritären, pazifistischen Kontrapunkt setzen. Deutschland scheint dem Ersten
Weltkrieg gegenüber „geschichtsvergessen". Kaum ein Erinnerungsort, kaum ein
1 Noras „Erinnerungsorte" (Nora 1984, 1986 und 1992) sind ein epochales Grundwerk, das die
französische Geschichtsschreibung als Erinnerungsforschung definiert, die sowohl einschneidende
historische Ereignisse (Charlemagne) als auch Phänomene der Alltagskultur (Tour de France) gleich-
berechtigt betrachtet. „Lieux de memoire" sind dabei nicht allein geografisch zu verstehen, sondern
schließen auch Institutionen, Personen, Veranstaltungen u.a. ein, die Teil der kollektiven franzö-
sischen „Gedächtniskultur" sind. In der Folge sind auch in anderen Ländern ähnlich angelegte Werke
publiziert worden - in Deutschland: Francois; Schulze 2001, oder in Italien: Isnenghi 1996/1997.
Copyrighted malerial
178
Joachim Sistig
Ritual, kaum mehr eine Filmkulisse erinnern an diesen epochalen, mörderischen
Konflikt, der im Kontext einer Jahrzehnte lang stilisierten „Erbfeindschaft" vor
allem ein deutsch-französischer Krieg war. Ernst Jünger und Erich Maria
Remarque fristen im deutschen Literaturbetrieb eher ein Schattendasein. A la limite
widmet ARTE hin und wieder einen Themenabend der Grande guerre inklusive
einer der Verfilmungen von „Im Westen nichts Neues" von Lewis Milestone (1930)
oder Delbert Mann (1979).
Landeskunde
Auch wenn der Erste Weltkrieg heute in Deutschland verdrängt scheint, hat er
doch die Geschichte des Landes geprägt und seine Spuren hinterlassen: eine erste
deutsche Revolution, die Einsetzung der parlamentarischen Demokratie, die poli-
tische Verankerung der Frauenrechte, die politische und wirtschaftliche Krise als
Nährboden des aufkeimenden Nationalsozialismus usw. Um Deutschland zu ver-
stehen, muss der Fremdsprachenlerner, der sich im DaF-Unterricht mit der deut-
schen Sprache und Kultur beschäftigt, notwendig auch dieses Geschichtskapitel
studieren. Die zeitgenössischen Quellen und Kommentare sind nicht immer für
den Fremdsprachenunterricht geeignet, da sie oft Faktenwissen voraussetzen, in
einem aus heutiger Sicht altertümelnden Deutsch formuliert wurden und der
Lebensrealität jugendlicher Lerner von heute auf antiquierte Weise entrückt
erscheinen. Eine Unterrichtsreihe für eine DaF-Sequenz zum Thema „Erster Welt-
krieg" sollte daher auf einem gemischten Dossier aus unterschiedlichen Text- und
Materialsorten basieren.
Sprachvermittlung: Sprechanlässe, Sprachregister, Wortschatz, Grammatik
Im vorliegenden Beitrag soll den populärliterarischen Textgattungen das Haupt-
augenmerk gelten: Karikaturen und Bildgeschichten in Verbindung mit Fotos,
Denkmal-Abbildungen und Liedern versprechen einen besonderen motivationalen
Impuls. Der ironische Blick der Karikatur entlarvt den albernen bzw. tragischen
Ernst der patriotischen Selbst- oder Fremdstilisierung. Die Semantik der Bilddar-
stellung ist offener als die geschichtliche Textdarstellung und regt eher zum spon-
tanen Gedankenaustausch über ikonografische Details an. Im Sinne eines pretexte ä
la production orale sind bildliche Darstellungen ideale Stimuli für die Produktion von
Sprechakten. Dekodierungsstrategien werden trainiert, die anschließend durch ei-
nen entsprechenden Aufgabenapparat begleitet in eine mündliche oder schriftliche
Textproduktion münden sollen. Die Bildbeschreibung sollte von dem offenbaren
oder versteckten Bildgegenstand, der Inszenierung des Dargestellten mit Vorder-
und Hintergrund sowie den sichtbaren oder auch abwesenden Hauptakteuren
innerhalb der Vignette ausgehen. Eventuell lässt sich ein Vorlauf der Handlung
bzw. eine Konsequenz der Aktion entwerfen. Es stellt sich weiterhin die Frage
nach der intendierten Reaktion des Betrachters bzw. überhaupt nach dem inten-
Copyrighted malerial
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
179
dierten Publikum, woraus Rückschlüsse über die politische Haltung des Zeichners
selbst gewonnen werden können. Textteile — besonders Sprechblasen — können
ausgespart bleiben und von dem Betrachter entworfen werden. Schließlich kann
die gesamte Handlung in eine neue Textsorte projiziert werden — als Zeitungsarti-
kel, Brief, Sketch usw.
Die Intention des Autors von Karikaturen und Bildgeschichten ist meist eine
appellative, seltener verfolgt er ein rein poetisches oder referentielles Register. Der
kritisch-ironische Blick soll überzeugen bzw. entlarven und den Betrachter zum
Agenten der eigenen Überzeugung machen. Im Kontext des Ersten Weltkrieges
geht es dabei zumeist um überzeichnete Freund- und Feindbilder. Die wörtliche
Rede ist häufig in einem „kumpelhaften" Ton gehalten, die sich für die Beschäf-
tigung mit syntagmatischen Wendungen aus der Alltags spräche anbieten. Gerade
die Zeichnungen von Zille verweisen außerdem auf soziolinguistische Aspekte des
„Milljöh"-Porträts im Berliner Wedding. Die plattdeutschen Redewendungen müs-
sen teilweise erst entschlüsselt werden und bieten somit einen weiteren spielerisch-
ratenden Zugang zur Bild-Text-Botschaft — ebenso das altdeutsche Schriftbild, das
für Ungeübte einer Entschlüsselung bedarf.
Die Grammatik steht bei einer landeskundlichen Thematik wie dem „Ersten
Weltkrieg" naturgemäß nicht im Vordergrund und sollte daher nur kursorisch ein-
fließen, wenn sich ein Kapitel anbietet, weil spontan auf einen Fehler reagiert
werden muss, oder weil ein Kommentartext explizit nach einer Übung ruft, wenn
z.B. Zilles „Universal"-Artikel „dat" einer präziseren Zuordnung bedarf. Zilles
Bild-Kommentare - zumindest all jene aus seinen Berliner „Milljöh"-Studien -
könnten für sich genommen bereits als Grammatik-Übung verwendet werden un-
ter dem Motto „Wer findet die Fehler?" bzw. „Übersetzen Sie ins (Hoch)Deut-
sche!".
Interkulturelle Kompetenz
Unabhängig von der fachimmanenten Perspektive einer zielkulturellen Handlungs-
kompetenz muss die erste Etappe eines interkulturellen Fremdsprachenunter-
richtes darauf abzielen, Neugier bei den Lernern zu schüren. Dieser „neu-gierige"
Blick sollte nicht allein von sprachlichen, ästhetischen oder landeskundlichen
Fragestellungen geleitet sein, sondern eine echte interkulturelle Horizont-Erweite-
rung anstreben. Es soll hier nicht einer hybriden „interkulturellen Misch-Identität"
als Unterrichtsziel das Wort geredet werden, wohl aber könnten auf diese Weise
Weichen gestellt werden, um einen von nationaler Hybris erfüllten
Abstammungsmythos als Leitidee individueller Identitätsbildung zu umgehen.
Am Anfang einer solchen Selbstreflexion müssen zunächst die Kulturunter-
schiede zwischen zwei Ethnien möglichst differenziert benannt und, anschließend,
die zu Klischees geschrumpften Repräsentationen des Anderen diesen Realien
gegenübergestellt werden. Abschottung, Ignoranz und Verschweigen von Kli-
schees würden die Bereitschaft zur Verallgemeinerung hingegen erhöhen. Nur eine
Copyrighted malerial
180
Joachim Sistig
offene und reflektierte Konfrontation mit Auto- und Heterostereotypen hilft, diese
zu überwinden, um am Ende ein tieferes Begreifen und Respektieren des Anderen
zu erreichen. Im Rahmen dieser Reflexion sollten auch sozialpsychologische und
politische Aspekte der Funktionalisierung von Fremdbildern erörtert werden. Die
weitgehende Reduzierbarkeit des Fremdbildes auf seine Selbstaufwertungs- und
Abgrenzungsfunktion wird den Jugendlichen den immanenten Zusammenhang
von Fremd- und Selbstbildern vor Augen führen, wo die positive Selbsteinschät-
zung sich (fast) immer proportional zur negativen Fremdeinschätzung verhält.
Vier Themenfelder aus dem Umkreis des Ersten Weltkrieges sollen mit Hilfe
von Karikaturen, Comics und Kurztexten erörtert werden — sei es als Stimulus für
den Unterrichtseinstieg oder als stundenfüllende Materialgrundlage:
1 . Fronterfahrung und Zivilleben im Ersten Weltkrieg mit einer Auswahl von
Karikaturen von Heinrich Zille
2. Propagandistische Texte und Dokumente in der Schule und frühkindli-
chen Erziehung
3. Patriotische Texte und Darstellungen aus Feld- und Schützengrabenzei-
tungen
4. Ein Blick auf das grafische Schaffen von Walter Trier während des Ersten
Weltkrieges mit einem Exkurs über seine tragische Rezeptionsgeschichte in
Frankreich
Paradigmatisch soll die interpreta torische und ikonografische Auseinandersetzung
mit den unterschiedlichen Materialien zeigen, welch sprachliches und faktisches
Potential in den populärliterarischen Medien angelegt ist.
1 Fronterfahrung und Zivilleben im Ersten Weltkrieg
Heinrich Zille (1 858-1 929): Vadding in Frankreich, 2. Folge (1917)
In der politisch-satirischen Beilage des „Berliner Tageblatt" erscheinen ab Kriegs-
ausbruch Zilles Karikaturen des Frontalltages. Die Zeitungsbeilage trägt den Titel
„Ulk" („Unsinn, Leitsinn, Kneipsinn") und wird von Otto Eyslers Verlag der
„Lustigen Blätter" publiziert. Zu seinen Mitarbeitern gehört übrigens nach 1918
u.a. auch Kurt Tucholsky. Unter dem Titel „Vadding in Frankreich" erscheinen die
rund 200 Bilder noch während des Krieges in gebundenen Heften. Der Duktus sei-
ner Zeichnungen, die Motive seiner eigenen Militärdienstzeit zwischen 1880 und
1882 aufgreifen, sind von spontanem Mutterwitz, unorthodoxen Blickwinkeln,
aber auch unbedingtem Gehorsam den Vorgesetzten gegenüber geprägt. Die Legi-
timation der deutschen Kriegsführung wird nicht in Zweifel gezogen. Seine Serien
„Vadding in Ost und West" sowie „Vadding in Frankreich" (1. Folge) aus den Jah-
ren 1915/16 spiegeln den politischen Mainstream mit patriotischen und auch
Copyrighted malerial
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
181
kriegsverherrlichenden Motiven wider. Die autonomen, pazifistischen Beiträge sei-
nes nur in einer kleinen Auflage erschienenen Bandes „Kriegsmarmelade" (1919)
veröffentlicht Zille erst Jahre nach Kriegsende.
A hüksT
ARANEE ALL CAAN DE.
SOLDAT DV atOWtVT SV
K>a>trtt}Hl ITTMUt Dt
® HANS] (1873-1951)
Abb. 1: Karikatur des elsässischen Zeichners Hansi.
Wenn der patriotische Impetus auch nicht so ausgeprägt ist, lässt sich doch eine
Parallele zu den etwa zeitgleich publizierten Arbeiten des elsässischen Kari-
katuristen Jean Waltz, alias „Hansi", ziehen (Abb. 1). Die Verlagsmitteilung im
Klappentext des Vadding-Bandes unterstreicht überdies die semiotische Nähe der
beiden Zeichenkünstler: „Man muß diese köstlichen, auch zeichnerisch glänzenden
Bilder mit den geschmacklosen und giftigen Karikaturen des Westfranzosen Waltz,
genannt Hansi, vergleichen, um rasch zu erkennen, auf welcher Seite mehr Freund-
lichkeit des Charakters und mehr ruhige Zuversicht zu finden sind. Dies Zille-Heft
gehört zu den besten Erzeugnissen der Kriegsliteratur. Es wird auch nach dem
großen Kampfe seinen Wert behalten." 2 Gegenüber dem idyllischen Stil Hansis,
der immerhin in Berlin offenbar rezipiert wird, mit seiner eindimensionalen patri-
otischen Botschaft implizieren Zilles Zeichnungen hingegen spöttische Sozialkritik
und politischen Zündstoff, der aber zu keinem Zeitpunkt diskursiv reflektiert wird.
2 Berliner Tageblatt zitiert im hinteren Einband von Zille 1917.
182
Joachim Sistig
Zille porträtiert aus eigener persönlicher Erfahrung heraus in oft schroffen,
ungeschönten Zeichnungen die soziale Lage des „Lumpenproletariats" um 1900 in
den Berliner Arbeiter-Hochburgen Wedding und Malchin, die er in leicht verklä-
render Weise zum Milljöh stilisiert. 1858 in Radeburg bei Dresden geboren zieht
Zille neunjährig mit den wirtschaftlich ruinierten Eltern nach Berlin, wo er die
sozialen und politischen Auswüchse der frühen Industrialisierung im direkten Um-
feld seiner Familie miterlebt. Seine Zeichnungen, die Zille seit 1901 in der „Berli-
ner Secession" ausstellt bzw. im „Simplicissimus", in „Jugend" und in den „Lusti-
gen Blättern" veröffentlicht, dokumentieren ungeschminkt die Lebensbedingungen
der Unterschichten und sozialen Außenseiter. Zille verbindet seine Milieu-Porträts
stets mit einem ironischen Blickwinkel, sodass die implizite soziale Anklage an
Schärfe verliert und der Verdacht der Unterminierung bestehender Machtverhält-
nisse erst gar nicht aufkommt. Dennoch bieten all seine Arbeiten für den aufmerk-
samen Beobachter Ansatzpunkte für sehr genaue Sozialstudien der deutschen Ge-
sellschaft um die Jahrhundertwende und während des Ersten Weltkrieges.
Drei ausgewählte Zeichnungen sollen jeweils Männer im Frontgeschehen und
Frauen in ihren neuen Tätigkeitsbereichen zeigen. Jedes Bild ist von Zilles typi-
scher Doppelbödigkeit gekennzeichnet. Hinter dem oberflächlichen — scheinbar
harmlosen — Zeichencode verbirgt sich immer auch eine abgründige, pervertie-
rende Bedeutungsschicht, die die zunächst vermutete Bildbotschaft wieder in Frage
stellt:
Kriegsszenen von der Front
1) Cabarett Feldgrau
- „Du, Karl, kniep de elektrische Jungfrau nich in de Bein', dat is nämlich uns'e
nigen Untroffzier!" (Abb. 2) frei übersetzt: — „Du, Karl, kneif der elektrischen
Jungfrau nicht ins Bein, das ist nämlich unser Unteroffizier!" Zum Unterhaltungs-
programm der Frontsoldaten zählen neben Frontzeitungen, Witzblättern und
kriegsverherrlichenden Comics vor allem Unterhaltungsveranstaltungen mit Caba-
rett-Charakter und Kirmesklamauk. Männer in Frauenrollen dienen als Ventil für
die seelisch Verkrüppelten. Neben einschlägigen Zirkusfiguren tritt eine bärtige
Person in Ballett-Toutou auf, die von Vadding - Zilles alter ego - sogleich in war-
nendem Ton identifiziert wird. Bei allem aufgesetzten Spaß bleibt die Veran-
staltung doch eingerahmt von der schwarz-weiß-roten Reichsflagge als Symbol der
immer noch gültigen Befehlsstrukturen.
Copyrighted malerial
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
183
Abb. 2: Zille, Cabarett Feldgrau.
Der Spaß stößt also sehr rasch an seine Grenzen. Außerdem steht die „feldgraue"
Uniform in denkbarem Kontrast zum bemüht bunten Spektakel. Karl und Vadding
sind mit genügend gesundem Menschenverstand ausgestattet, um auch in dieser
scheinbaren Ausnahmesituation nicht den Respekt vor den Vorgesetzten zu ver-
lieren.
2) Schützengraben-Idylle
— „Süh, Karl, wenn't sowiet is, nähmt wi uns'n Hindenburg-Park mit nah Hus!"
(Abb. 3); frei übersetzt: — „Schau mal, Karl, wenn es soweit ist, nehmen wir
unseren Hindenburg-Park mit nach Hause!" Ein Propaganda-Medium der Kaiser-
zeit ist die Umbenennung von Ortsnamen und die flächendeckende Aufstellung
von Kaiser- und Bismarck-Denkmälern; Straßen, Plätze und Parkanlagen werden
nach Persönlichkeiten und Orten mit patriotischer Konnotation umbenannt: Bis-
marckstraße, Kaiserpark, Kais er- Wilhelm-Platz und Sedanwiese sind bis heute in
fast jeder größeren deutschen Stadt zu finden. 3 Einen Hindenburgpark können
Hamburg, Ingolstadt, Köln oder Leverkusen aufweisen. Einige Grünanlagen muss-
te der „Held von Tannenberg" im Laufe der Jahre jedoch preisgeben, die in Volks-
3 Vgl. den Beitrag von Arndt Kremer im vorliegenden Band.
184
Joachim Sistig
park (Berlin- Wilmersdorf), Friedenspark (Köln) oder Ebertpark (Ludwigshafen)
umgetauft wurden. Die skurrile Idylle, die sich Karl und Vadding barfüßig um
ihren Schützengraben geschaffen haben, wirkt gegenüber der relativ unscheinbaren
Hindenburg-Büste in der Mitte etwas despektierlich.
Abb. 3: Zille, Hindenburgpark
Ein schlafender Hund vor dem Denkmalsockel, die Wäscheleine direkt daneben
und die dösenden Soldaten auf dem Graben geben der Bildbotschaft einen deut-
lich ironisierenden Charakter. Tatsächlich täuscht Zilles idyllische Schilderung des
Frontalltags über die allgegenwärtigen Schrecken des Krieges durch Tod und Ver-
stümmelung sowie menschenunwürdige Unterbringung, mangelnde Hygiene und
grassierende Krankheiten hinweg:
Soldatenbrief
„24. Dezember 1916 Sainte Emilie; Weihnachtszauber! An mein liebes
gutes Mutterl und Schwester! Heute Heiliger Abend, das Fest der Freude und
Liebe! Wir hier sind im Kriegsgetümmel, sind Sklaven des Krieges, mit verstei-
nerten Herzen und rauhem Wesen! Doch heute geht ein Weihnachtshauch
durch aller Herzen! Also meine Lieben! Nur ein Wunsch: Frieden! Wir sind seit
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
185
18. Dezember hier in St. Emilie, das Joseph gut kennen muss, denn er war da-
mals im Oktober hier. Und zwar sind wir hier Divisionsreserve, morgen
rücken wir nach Moislains und weiter, das damals so mitten im Schrecken der
Somme-Kanonade lag, heute etwas ruhiger, und nach einigen Tagen weiter
vor. Die meisten Verluste treten hier durch Erkrankung ein; ob ich's aushalte,
wird sich zeigen. Man lebt natürlich das größte Dreckleben, wie ein Tier. Heute
Sonntag und Heiliger Abend zugleich fingen wir an mit Dienst Exerzieren.
Dann habe ich gepennt, und dann war in einer Scheune Weihnachtsgottes-
dienst um 6 Uhr für alle Konfessionen. Danach sangen wir einige Weihnachts-
lieder um einen Christbaum; liegen in der großen Zuckerfabrik. Im Übrigen ist
Weihnacht für uns nicht da. Weichheit ist mir fern, wenn es auch unter den
Leuten gärt, sie sich gerne gefangennehmen lassen wollen ä la Verdun; ich wer-
de mich wehren und das Vaterland mit dem letzten Blutstropfen verteidigen!
Gruss und Kuss Euer Hugo."
3) Kontakt mit einheimischen Franzosen
- „Na adschüs ok, Madam Quartierwirtin, un passens man up, dat ehr lütt Jean
nich dat schöne Dütsch verlirnt, dat ick em bibröcht hew!" (Abb. 4); frei übersetzt:
— „Na dann, auf Wiedersehen auch, Frau Quartierwirtin, und passen Sie gut auf,
dass der kleine Jean nicht das schöne Deutsch verlernt, das ich ihm beigebracht
habe!" Während die französische Propaganda von brutalen Übergriffen der deut-
schen Besatzungsmacht gegenüber der französischen Zivilbevölkerung berichtet
hatte, zeichnet Zille ein verklärt harmonisierendes Bild der zwischenmenschlichen
Kontakte. Vadding und Karl scheiden von der französischen Familie, bei der sie
einquartiert waren, scheinbar als gute Freunde. Der soziale Wandel der Geschlech-
terrollen spiegelt sich auch in dieser Zeichnung wider: Als „Familienoberhaupt"
verabschiedet die Frau — „Madame Quartiermeisterin" — die „Gäste", während der
Mann wie selbstverständlich abwesend an der Front gegen diese „Gäste" einen
tödlichen Kampf führt. Drei Generationen sind auf der pittoresken Terrasse unter
dem respektvoll unangetasteten Insignium „RF" (Republique Francaise) versam-
melt. Es hat anscheinend ein gemeinsames Abschiedsmahl gegeben, die Gesichter
sind freundlich gezeichnet. Der alte Mann erhebt sich respektvoll - Karl und Vad-
ding haben sich als höfliche „Gäste" Respekt verdient. Die „deutschen Spuren",
die Vadding glaubt hinterlassen zu haben, manifestieren sich nicht nur in der Ver-
mitdung des deutschen Idioms an den kleinen Jean/Hans, sondern auch in Jeans
typisch wilhelminischem Marinehemdehen, mit dem im Deutschen Reich bereits
Jahre zuvor auf perfide Weise Werbung für die kaiserliche Flottenpolitik betrieben
wurde. „Wie selbstverständlich" ist jeder deutsche Knabe, dessen Eltern ihre rech-
te vaterländische Gesinnung zur Schau stellen wollen, zu Beginn des Jahrhunderts
in die Militäruniform eines Marinesoldaten gezwängt.
4 Brief des Vizefeldwebels Hugo Frick an seine Familie bei Würzburg zit. n. Hirschfeld; Krumeich
2006: 149.
Copyrighted malerial
186
Joachim Sistig
Abb. 4: Zille, Quartiersmadame.
Die Portion Selbstironie, die sich in der treuherzigen Selbstüberschätzung Vad-
dings bezüglich der Qualität seiner Deutschstunden mit „dat schöne Dütsch" nie-
derschlägt, soll den deutschen Soldaten zusätzlich Charme verleihen. Dennoch
steht die sehr aufgesetzte Freundlichkeit im Kontrast zum Eisernen Kreuz an Vad-
dings Brust, das den französischen Zivilisten ständig den zahlreichen Tod vieler
französischer Familienväter vor Augen führt.
Kriegsszenen im Zivilleben
Eine der Auswirkungen des Ersten Weltkrieges bezieht sich auf den Wandel der
Geschlechterrollen. Während der Mann im Krieg seinen „vaterländischen Dienst"
verrichtet, übernimmt die Frau „Männer-Rollen" im Zivilleben. Das Frauenwahl-
recht von 1918 ist die politische Konsequenz der wachsenden Verantwortlichkeit
der Frau in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen. Nipperdey zeigt allerdings, dass
der Erste Weltkrieg den tendenziellen Anstieg der Frauenlohnarbeit, der bereits
seit 1895 feststellbar ist, lediglich verstärkt: „Tatsächlich tauchten immer mehr
Frauen in ,klassischen' Männerberufen auf — ob in den öffentlichen Diensdeis-
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
187
tungsbereichen, als Schaffnerin oder Briefträgerin, oder gar im Straßenbau oder der
Munitionsherstellung."(Nipperdey 1998, Bd. 2: 798).
1) Die Frau im Beruf 1
— „Ja, Willem is seit acht Tagen eingezogen — un nu fahre ick seine Tour." — „Wat
denn — als Schaffnerin? Wirste denn damit fertig?" — „Na ob! Bei mir müssen se
alle zahlen. Ick paß uff!" (S.297) (Abb. 5).
Abb. 5: Zille, Frauenrolle.
Zille inszeniert den Geschlechter-Rollentausch als paradoxe Sittenkomödie. Die
Schaffnerin übernimmt nicht nur im Beruf die Rolle ihres an der Front dienenden
Ehemannes Willem, sondern sie verkehrt auch in ihrer Freizeit in den gleichen
„Etablissements", obwohl in der Mehrheit Männer das Publikum bestimmen. Mit
dem Kommentar „Bei mir müssen se alle zahlen" gleitet Zille in eine zotige Kon-
notation hinüber, womit er andeutet, dass dieser Rollentausch für breite Teile der
deutschen Gesellschaft immer noch eine anzügliche Wirkung impliziert. Die
soziale Wirklichkeit eilt der moralischen Wertigkeit voraus.
188
Joachim Sistig
2) Die Frau im Beruf 2
— „Ick würde mir schämen, Frida, wenn ick mir so in Hosen zeigen sollte!" —
„Warum denn? Haste O-Beine?" (S.299) (Abb. 6). Die sehr detailreiche Straßen-
szene wirkt ohne speedlines statisch. Auch im Vergleich zu Wilhelm Büschs Bewe-
gungssimulationen durch Konturvervielfachung fehlt es Zilles Zeichnungen an
Dynamik. Seine Stärken liegen eher bei den Standbild-Einstellungen.
Abb. 6: Zille, Die Frau im Beruf.
Der Dialog, der dieser Szene unterlegt ist, spiegelt den moralischen Zwiespalt
wider, in dem sich „Frau" während des Ersten Weltkrieges bewegt. Das überkom-
mene Sittenbild — „Ick würde mir schämen" — aus Kaiserzeiten weist der Frau
einen spezifischen nachgeordneten Platz zu, der klar von der Männerwelt getrennt
ist. Kriegsbedingt muss diese Geschlechtertrennung aufgehoben werden. Diese
neue Rollendefinition entspringt also nicht der Erkenntnis des Selbstverständlichen
— „Warum denn?" — , sondern ist den besonderen Zeitumständen geschuldet. Die
Emanzipation ist nicht Ausdruck einer aufgeklärten, sondern einer pervertierten
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
189
Gesellschaft, die aus den Angeln zu brechen droht, indem ihre konservativen mo-
ralischen Grundfesten in ihr Gegenteil verkehrt werden.
3) Schwarze Garde
— „Siehste, Juste, wir sind ooch wehrfähig: wir jagen ooch den Ruß fort!" (S.300)
(Abb. 7). Zille macht sich hier zum Sprachrohr des militarisierten Alltagsdiskurses
mit seinen pervertierten Verwerfungen, indem menschenverachtende Propaganda-
Parolen wie „Serbien muss sterbien. Jeder Stoß ein Franzos, jeder Schuss ein
Russ!" in den lapidaren Gesprächsfluss Eingang finden. Er dokumentiert damit,
dass die „mühsam anerzogene Hemmschwelle gegenüber der Gewalt" 5 deutlich
herabgesetzt worden ist.
9l -f'P'lk
e"ilm<m;i- MnuV .l. 7 i.-|i|l., u<ii fini> i><m1i iivIm |,'>Ih<\ li'h |agfl| kimIi iVii fml!' / int(|
Abb. 7: Zille, Schwarze Garde.
Durch das Wortspiel mit der Klangähnlichkeit des Wortes „Ruß" macht sich die
militarisierte Zivilgesellschaft — die „schwarze Brigade" — zu „wehrfähigen" Mit-
5 Wehler 1998: 35.
190
Joachim Sistig
wissern und Mitkämpfern des Krieges im Osten gegen Russland. Das Bild der
„schwarzen Brigade" knüpft außerdem an den Mythos des 1. Leib-Husaren-Regi-
mentes an, das in seinen schwarzen Uniformen und mit dem silbernen Totenkopf
auf gekreuzten Knochen seit den Befreiungskriegen in der deutschen Kriegs-
historie berüchtigt war.
2 Militarisierte Kinderliteratur - militarisierte Kindheit
Die Generalmobilmachung berührt im Kaiserreich alle Bereiche des öffentlichen
Lebens und besonders auch den Schul- und Erziehungsbereich, indem gezielt Kin-
der zum Objekt der politischen Propaganda und der Erziehung zum Hass werden.
Der Bildungsauftrag der Schulen war per Kaiser-Erlass definiert: „Bedenken Sie,
was uns für ein Nachwuchs für die Landes vertheidigung erwächst. Ich suche nach
Soldaten, wir wollen eine kräftige Generation haben, die auch als geistige Führer
und Beamte dem Vaterlande dienen." 6 Im Zeichen der „schwarzen Pädagogik",
wie sie bereits in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845) verbreitet wurde, er-
reicht die politische Propaganda längst auch die deutschen Kinderzimmer: Käthe
Kruse fertigt z.B. seit 1914 eine Serie von uniformierten Stoffpuppen unter dem
Namen „Potsdamer Soldaten".
Heinz Lemmermann hat in seinem Referenzwerk zur „Kriegserziehung im
Kaiserreich" (1984) anhand zahlreicher Dokumente die „totale Politisierung der
Schule" im Sinne der Herrschaftsstabilisierung — im Kampf gegen den inneren
Feind: die SPD - und der Kriegsvorbereitung — im Kampf gegen den äußeren
Feind: Frankreich, England, Russland — nachgewiesen. Schullieder, Lernspiele und
Kinderbücher bereiten die systemkonforme, ideologische Ausrichtung der Jugend-
lichen vor: „Der Krieg erscheint den Kindern als aktionsreicher, unterhaltsamer
Vorgang. Das simulierte Töten durch Schießen, Schlagen und Niederstechen bietet
nicht nur Spaß, sondern führt selbstverständlich zum Sieg. Die panmilitaristische
Ausrichtung dieser lustbetont betriebenen Erziehungsmaßnahmen ist deutlich. Zu
den soldatischen Fertigkeiten Marschieren, Exerzieren, Töten kommt in anderen
Kinderliedern noch eine ideologische Komponente hinzu: Im Knaben soll so früh
wie möglich das Bewußtsein geschaffen werden, es gar nicht abwarten zu können,
bis er ein erwachsener Deutscher ist und kriegerischen Taten entgegenfiebern
darf." Martin Kohlrausch hat nachgewiesen, dass die Neuausrichtung der Schul-
politik unter das Primat, „,nationale Deutsche' anstelle von ,jungen Griechen und
Römern'" hervorzubringen, auf den ausdrücklichen Willen des Kaisers zurück-
geht. In einer an Stringenz armen politischen Führung insgesamt bildet die Er-
ziehungsarbeit eine Ausnahme. Als Beispiel sei hier das „Soldatenlied" (1878) von
6 Kaiser Wilhelm zu „Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts" am 31.10.1890 im preu-
ßischen Kultusministerium, zit. n. Lemmermann 1984, Bd.l: 19.
7 Ebd., Bd.l,S.152.
8 Kohlrausch 2010: 62.
Copyrighted malerial
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
191
Hoffmann von Fallersleben (1798-1874), dem Schöpfer des Deutschlandliedes, zi-
tiert, das vor allem in der Vertonung von Robert Schumann zu einem festen Be-
standteil des kaiserlichen Schulliedkanons wird.
Soldatenlied
Ein scheckiges Pferd,
Ein blankes Gewehr
Und ein hölzernes Schwert,
Was braucht man denn mehr?
Ich bin ein Soldat,
Man sieht's mir wohl an,
Ich marschiere schon grad',
Halt' Schritt wie ein Mann.
Mit trotzigem Mut
Zieh' Morgens ich aus,
Kehr' freundlich und gut
Um Mittag nach Haus.
So wird exerziert
Zum Abend noch spat,
Bis der Schlaf kommandiert:
Zu Bett, Kamerad!
Eine Steigerung der wehrtüchtigen und ideologischen Mobilmachung ist Ludwig
Nüdlings (1874-1947) Kinderlyrik unter dem Titel „Des deutschen Bübleins
Wunsch" (1912):
Des deutschen Bübleins Wunsch
Mutter, warum bin ich noch so klein,
Und nicht so groß wie des Nachbars Klaus
Denn der dürft' in den Krieg hinaus.
Könnt' ich ein richtig Gewehr jetzt laden,
Spielte ich nicht mit Bleisoldaten.
Mutter, hier hast Du die Erbsen wieder,
Damit schießt man den Feind nicht nieder.
Lieber schlag ich die Sparbüchs entzwei,
Kaufe mir selber Pulver und Blei,
und dann kämpf ich mit eigner Hand,
Auf, für Kaiser und Vaterland.
Ach, wenn ich doch jetzt ein Zwilling war,
Copyrighted matertal
192
Joachim Sistig
Gab es gleich zwei Soldaten mehr,
Und dann zog ich für's Deutsche Reich
Gegen Franzosen und Russen zugleich,
Einer zur Linken und einer zur Rechten,
Könnt ich dann nach zwei Seiten fechten.
Sähst von uns beiden dann keinen mehr,
Bis der Weltkrieg gewonnen war!
Die bedingungslose Hingabe für das vaterländische Ideal wird zum absoluten
pädagogischen Hauptziel stilisiert. Der private Raum und das Individuum über-
haupt werden dem Zwang des höheren Gemeinschaftszieles geopfert. Dass
Ludwig Nüdling Priester im Bistum Fulda ist, steht keineswegs im Gegensatz zu
dem hier propagierten, lebensverachtenden Patriotismus jenseits aller christlichen
Ideale von Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Die katholische und die protestan-
tische Kirche haben sich noch vor Ausbruch der Kriegshandlungen dem völki-
schen Fanatismus im Deutschen Reich unter dem Motto „Für Gott und Vater-
land" begeistert angeschlossen. „Das Bewußtsein der gerechten Sache, die man
verteidigt, aber auch der nationale Enthusiasmus und seine Hegemonieansprüche
werden kirchlich gesegnet und überhöht. Superpatriotismus und Siegesfanfaren,
Haß- und Rachegesänge, fast unbefangene Gleichsetzung von nationalen Zielen
mit dem ,Reich Gottes', das erfüllt die Annalen. [...] Patriotische Pflicht und
chrisdiche Tugend, Bethlehem und Potsdam, das geht schnell ineinander über",
urteilt Thomas Nipperdey - „,Ein feste Burg' wird eine Art nationale Marseillaise."
(Nipperdey 1998, Bd.l: 491).
Gedenk- und Gedächtnisfeiern in der schulischen Aula gehören zum festen
Bestandteil des Schullebens im Kaiserreich. Gleich nach dem deutsch-franzö-
sischen Krieg 1870/71 wird der nächste Krieg vorbereitet, indem die Jahrestage
des Sieges von Sedan (2. September) und der Kaisergeburtstag (seit 1889 der 27.
Januar) zum alljährlichen vaterländischen Jubelfest stilisiert werden. Seit Kriegsaus-
bruch wird der Gedächtnis- und Totenkult an den Schulen gezielt intensiviert.
„Die Flut der Kriegsfreiwilligen konnten die Behörden kaum bewältigen. Selbst
Tertianer meldeten sich in Klassenstärke, es grassierte bei vielen Jugendlichen die
,Furcht', das Kriegs- und Bewährungserlebnis sowie den wahrscheinlicherweise
raschen Sieg zu versäumen." 9 Lemmermann aus dem Brief eines fünfzehnjährigen
Rekruten an seine Eltern:
„Das Vaterland hat gerufen, und jeder waffenfähige Jüngling ist begeistert zu
den Fahnen geeilt, um die heiligste Pflicht zu erfüllen. Geliebte Eltern, Ihr
werdet die Gefühle eines von Vaterlandsliebe durchdrungenen Menschen-
kindes verstehen, um den Schritt, den ich unternommen habe, zu begreifen.
9 Lemmermann 1984, Bd. 1: 260.
Copyrighted malerial
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
193
Du, lieber Vater, hattest den stolzen Ausspruch getan: wenn ich einen Sohn
stellen könnte, würde ich stolz sein. . ." 10
Das moralische Wertesystem ist vollends pervertiert und schickt seine eigenen
Kinder in den sicheren Tod, weil die etablierten Moralinstanzen — Staat, Kirche,
Schule, Familie — ihre Orientierung und Bestimmung verloren haben.
3 Feldzeitung und Schützengrabenzeitung
In den deutschen und französischen Schützengräben schaffen sich die Front-
soldaten mit ihren Ktiegszeitungen,jout7jaux de guerre bzw.journaux des poilus eigene
Kommunikationsformen, die teilweise unterstützt, teilweise aber auch unabhängig
von der Heeresleitung Informationen, Grußadressen, Comics, Karikaturen, Lieder,
Witze und Kampfberichte aus der Feder der beteiligten Soldaten abdrucken. Diese
oft amateurhaft improvisierten, manchmal sogar handschriftlich angefertigten Pu-
blikationen übernehmen die Funktion von „sozialen Netzwerken" avant la lettre.
Oftmals multiplizieren ungeübte Zeichner und Autoren den Diskurs der offiziellen
Propaganda in unterhaltsamen Bildern und Geschichten zum Zeitvertreib in der
Schützengrabenödnis, spiegeln aber auch unterschwellig dissidierende Standpunkte
und Stimmungen wider. Leider fehlt es bislang an neueren wissenschaftlichen Ar-
beiten, die aus historiografischer oder literarischer Perspektive diesen Fundus
sichten.
Auf französischer Seite sind die Zeitungstitel meist fantasievoller — allen voran
der mit dem bis heute unveränderten Logo arbeitende „Canard enchaine", der als
Reaktion auf den extrem gewaltverherrlichenden „Poilu dechaine" entstand. Leicht
defätistisch und mit geradezu surrealem Humor ausgestattet präsentieren sich u.a.
10 Ebd.
11 Die Universitätsbibliothek Heidelberg hat Teile der wöchentlich erschienenen Deutschen Kriegs-
zeitung (Nr. 1 bis 20, August — Dezember 1914) aus ihrem umfangreichen Fundus an Frontzeitungen
digitalisiert zugänglich gemacht (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/feldztgdkzl914, http://digi.-
ub.uni-heidelberg.de/diglit/feldztgsunwasl917bisl918 [03.02.2011]). Verwiesen sei an dieser Stelle
auch auf die eher methodologisch angelegte Diplomarbeit von Elke Daucher: Kriegszeitungen der
Universitätsbibliothek Heidelberg. Überlegungen zu Erschließung, Erhaltung und Präsentation des
Bestandes, Stuttgart 2003 (http:/ /archiv.ub. uni-heidelberg.de/volltextserver/volltexte/2005/5838-
/pdf/Diplomarbeit.pdf [03.02.2011]); siehe auch: Hardt, Fred B.: Die deutschen Schützengraben-
und Soldatenzeitungen, München 1917; Hellmann, Richard/Palm, Kurt: Die deutschen
Feldzeitungen. Eine Bibliographie, Freiburg 1918; Kurth, Karl: Die deutschen Feld- und Schützen-
grabenzeitungen des Weltkrieges, Leipzig 1937. Auf französischer Seite wurde das Material der
journaux du front weitgehender aufgearbeitet. Im Rahmen des „Gallica"-Projektes hat die Bibliotheque
Nationale de France auch zahlreiche Frontzeitungen digitalisiert zur Verfügung gestellt
(http://gallica.bnf.fr/Search?ArianeW'ireIndex=index&p=l&lang=FR&q=journal+du+front
[03.02.2011]). Neben der BN steht in der Bibliotheque de Documentation Internationale Contem-
poraine ein reichhaltiger Fundus digitalisiert zur Verfügung (http://www.bdic.fr/index.phpPoption-
=com_content&view=article&com_content=&id=119&Itemid=101 [03.02.2011] ebenso wie in:
http://www.caricaturesetcaricature.com/article-11180470.html [03.02.2011]); siehe auch: Tubergue;
Charpentier 2007.
Copyrighted malerial
194
Joachim Sistig
„Le Bochofage. Organe anticafardeux, kaisericide et embuscophobe" und „Rigol-
boche. Le journal le mieux renseigne sur les Teutons". Die Frontzeitungen ent-
gehen nicht der militärischen Kontrolle — schon in der Nr. 7 des „Rigolboche"
vom 20. April 1915 taucht beispielsweise eine weiße Vignette mit den Worten
✓ 12-
„Dessin supprime par la censure" auf. Achim Schnurrer zeigt in seiner Studie,
dass auf deutscher Seite spätestens seit 1916 mit Gründung der Feldpressestelle
massive Eingriffe seitens der Militärzensur nachweisbar sind " .
Die Feldzeitungen, die in der Etappe hinter der Front gedruckt werden, errei-
chen bei hoher Druckqualität - gefördert durch die Heeresleitung - oft hohe Auf-
lagen von mehreren tausend Exemplaren, während die Schützengrabenzeitungen
in beweglichen Felddruckereien — aus disparaten Beiträgen eher zufällig improvi-
siert — selten wenige hundert hektographierte Einzelblätter überschreiten. Die
„Champagne-Kriegszeitung" beginnt beispielsweise zunächst in sporadisch er-
scheinender, manueller Schreibmaschinen-Qualität als Schützengrabenzeitung, be-
vor sie mit aufwändigen Tiefdruck-Illustrationen versehen zweimal wöchentlich in
einer Auflage von bis zu 20.000 Exemplaren erscheint.
1) „Der Drahtverhau": Flugblätter!
Diese „Schützengrabenzeitung des Bayerischen Landwehr Infantrie-Regimentes 1"
(Abb. 8, S. 42) zeichnet sich durch unbedingte Kaisertreue aus, die sie noch 1917
durch eine Sondernummer „zu Kaisers Geburtstag" dokumentiert (Nr. 16,
27.01.1917). Die Karikatur spielt mit dem Klischee von den „dumme boches", die
sich resistent gegenüber den französischen Aufklärungs-Versuchen zeigen. Trotz
moderner Kriegstechnik - Flugzeug, Hangar, „psychologische Kriegs führung" -
erreicht der Gegner doch nicht sein Ziel. Die Rückendarstellungen der beiden
Soldaten im Halbprofil auf den zwei Zeichnungen lassen sich durch die Bärte und
Uniformen dem deutschen und französischen Lager zuordnen. Die Missachtung
des Flugblatt-Inhaltes durch seine Nutzung als Klo-Papier richtet sich als warnen-
der Appell an die eigenen Truppen, die gegnerische Propaganda erst gar nicht zur
Kenntnis zu nehmen. Die Zeit für inhaltliche Auseinandersetzung auf zivilisierter
Ebene ist längst abgelaufen und eine Hinwendung zum Gegner durch Kenntnis-
nahme seiner Argumente käme Hochverrat gleich. Das Handeln wird gerade nicht
mehr durch den Verstand geleitet, sondern durch primitive Instinkte und Bedürf-
nisse. Der Zielgruppe des „Drahtverhaus" entsprechend sind die Dialoge in bayri-
scher Mundart formuliert: „Dö könn ma braucha, Michl! Dö schneid'n ma ausa-
nand, na ham s' grad dö richtige Groß." Die deutschen Soldaten werden zu Sym-
pathieträgern, indem sie mit positiv konnotierten Klischee-Elementen ausgestattet
werden: Das Herz auf dem „Dixi-Klo", die Pfeife, die aus der hinteren Hosen-
tasche herausragt und der Hund, der sich die tierlieben, deutschen Soldaten und
nicht deren Gegner als „Herrchen" gewählt hat, stehen für „deutsche Gemüt-
12 Rigolboche, Nr. 7, 20.04.1915.
13 Schnurrer 2007.
Copyrighted malerial
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
195
lichkeit". Zuversicht soll vermittelt werden, dass deutsche Tugend und Charakter-
stärke gegen alliierte Technik und Heimtücke siegen werden.
lur ^vf KVäruncj fi>r dt« dumme *&ocviafr \ — — —
I 6'6 Kcrnn mAlmvbHA* W»d>l i Vc 4iftrK.'.ciV» mq j^nnond , na Viam -.*
tyoji dtf rlcttri«}» (Si-öJ* .* —
Abb. 8: Der Drahtverhau.
2) „Kriegszeitung der 4. Armee": Kriegs-Struwwelpeter
(29.07.1917) [S.35] (Abb. 9). Der Zeichner Franz Breest hat auf dieser Beilage für
die Kriegszeitung eine Parodie der „Geschichte vom bösen Friederich" aus dem
„Struwwelpeter" von Heinrich Hoffmann (1845) verfasst, dessen Originaltext als
Subtext dem Leser gegenwärtig ist: „Der Friederich, der Friederich, der war ein
arger Wüterich!" Friederich ist das ideale Objekt der „schwarzen Pädagogik", auf
das sich alle Erziehungsansätze des deutschen „Oberlehrers" im 19. Jahrhundert
196
Joachim Sistig
(vergeblich) konzentrieren. Die — wie man heute sagen würde — ADHS-Symptome
(Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) des Kindes werden als Ausdruck
einer kranken bis bösartigen Psyche gedeutet, die die gerechte Strafe eines Hunde-
bisses „recht tief bis in das Blut hinein" ereilt. Die Rolle des „Friederich" über-
nimmt in Breests Zeichnung der gemeingefährliche Kosak „Nikolaus", der „Petro-
leum trank gleich wie Bier" und „zu Kleinholz machte das Klavier".
Abb. 9: Der Kriegs-Struwwelpeter.
Mit allen unmenschlichen Attributen ausgestattet — „er schonte Menschen nicht
noch Tier" — stellt er eine Gefahr für die Zivilisation dar, die quasi aus Notwehr
heraus unschädlich gemacht werden muss. Ein Gegner bar aller menschlichen
Züge — „was er nur sah, das schlug er tot" — darf auch nicht auf eine humane Be-
handlung seitens der deutschen Soldaten hoffen. Die Bild-Text-Botschaft legiti-
miert im Gegenteil jede Gewaltanwendung. Nikolausens Kopfbedeckung bzw.
Haartracht knüpft in Struwwelpeter-Manier Assoziationen an das Medusenhaupt,
dessen Anblick die Gegner vor Angst zu Stein erstarren ließ. Der Schrecken er-
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
197
reicht seinen — ironisch gebrochenen — Höhepunkt, wenn Nikolaus mit Schuhen
und „Stiefelschmier" fressend durch das Bett tanzt und dabei „sogar" das Nacht-
geschirr umwirft. Hinter der Fassade einer kindlichen Lehr-Lektüre offenbart sich
der fanatische Wille zum entstellenden Blick auf den Gegner, der das eigene barba-
rische Handeln legitimieren soll.
3) „Der bayerische Landwehrmann": Der Kreislauf
(1915/16) (Abb. 10). Wiggerl Greiner ist der Autor dieser Bildfolge, die den Krite-
rien der bände dessinee bereits sehr nahe kommt und die Monotonie sowie die kata-
strophalen hygienischen Zustände des Alltags im Schützengraben karikiert.
Abb. 10: Der Kreislauf.
Der vergebliche Kampf gegen Verlausung und körperlichen Verfall spiegelt sym-
bolisch aber auch den inneren, psychischen Verfall der Soldaten wider, deren täg-
licher Überlebenskampf zu einer pervertierten „Normalität" mutiert. Hinter dem
ironischen Selbstporträt entdecken die Soldaten nicht nur ihre eigene Lebensrea-
198
Joachim Sistig
lität, sondern auch ihre reale Angst angesichts der Tatsache, dass dieser circulus
diaboli keine Perspektive auf eine nahe Wende bietet. Auch die äußere Form — die
Uniform nebst Dienstgradab2eichen — zerfällt innerhalb der Frist von vier Wochen
und verliert ihre Kontenance bzw. Bedeutung: Im Schützengraben sind alle Solda-
ten gleich welchen Ranges Opfer. Die serielle Chronologie verläuft horizontal und
vertikal. Je Zeile ist innerhalb des vierteiligen Zyklus' der Verfall erkennbar, aber es
lässt sich auch eine Steigerung von Zeile zu Zeile erkennen. Der im Kreis auf sei-
nen eigenen Spuren schlurfende Soldat - „und so weiter..." - deutet eine unendli-
che Wiederholung dieser immer gleichen Episode an, deren Sinnhaftigkeit dadurch
in Frage gestellt wird. Der Soldat ist einem Mechanismus ausgeliefert, den niemand
mehr zu kontrollieren scheint. Sein sinnentleerter, stierer Blick steht im Kontrast
zu den seltsamen Verzierungen im Titelschriftzug und Bildrahmen, die vielleicht
auf die Befürchtung des Autors zurückzuführen sind, die Porträtzeichnungen
könnten zu realistisch und damit zu frustrierend für die Zielgruppe dieses Bilder-
bogens gezeichnet sein. Tatsächlich ist hier die Abstumpfung gegenüber der Allge-
genwärtigkeit der Verrohung und des Todes ablesbar:
Soldatenbrief:
„18. August 1916, Favreuil; Der Fahrer Renz, der ja gestern Nacht gefallen ist,
wird morgen begraben. Den ganzen Leib hatte er voller Schrappneilkugeln. Ihr
müsst Euch deswegen keine Angst machen, wenn's einen trifft, dann in Gottes
Namen." 14
4) „Liller Kriegsbilderbogen" Nr. 21: Männer, Frauen und Kinder!
(16.02.1915) [S. 34] (Abb. 11). Es liegen kaum Hinweise auf Verbreitungsgrad und
Auflagenhöhe dieser häufig laienhaft gefertigten Publikationen vor. Achim Schnur-
rer nennt für den mit logistischer Unterstützung der Heeresleitung produzierten
„Liller Kriegsbilderbogen" die Zahl von 85.000 Exemplaren 1 ' 1 , was der Auflage
einer mittleren deutschen Tageszeitung der Zeit entspricht („Vorwärts" 150.000,
„Der Wahre Jacob" 163.000). Die meisten Feldzeitungen, die mit primitiven
Druckvorrichtungen produziert werden, bleiben sicherlich weit darunter. Zahlrei-
che Blätter sprechen gezielt das eigene Regiment an, das im Durchschnitt 650
Männer umfasst. Eine „Armee-Zeitung" hätte demgegenüber potenzielle 30.000
Leser ansprechen können (4. Armee an verschiedenen Kriegsschauplätzen in
Flandern) .
Der anonyme Zeichner dieses Comic-Strips spielt mit dem Motiv des Juror teu-
tonicus, der in seiner überspitzten, gewalttätigen Ausprägung auf diesen zehn Bil-
dern wohl komisch wirken soll. Das Deutsche Reich sowie seine Kriegsgegner Bel-
gien, Frankreich, Russland, Japan und England werden in allegorischen Figuren
14 Brief des Divisionsfahrers Otto Maute an seine Familie bei Bailingen, zit. n: Hirschfeld; Krumeich
2006: 97.
15 Schnurrer 2007: 35.
Copyrighted malerial
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
199
verkörpert. Dem uniformierten Japaner wird lediglich ein Bild gewidmet, wahr-
scheinlich, weil der asiatische Kriegsschauplatz um die deutsche Kolonie Kiau-
tschou zu fern für die Soldaten an der Westfront liegt — aber auch im fernen
Orient brüstet man sich mit dem negativen Image: „Nur ein Deutscher ist voll
Niedertracht". Die vier übrigen Nationen werden jeweils auf einem ersten Bild
friedlich verharrend dargestellt, bevor sie auf dem folgenden Bild von einem deut-
schen Soldaten — scheinbar grundlos — attackiert werden: Dem belgischen Mäd-
chen wird schmerzhaft die Nase umgedreht, der französische Soldat wird hinter-
rücks erstochen, der Russe ertränkt, der Engländer seiner Flotte beraubt.
Nummg 21. Lille, den 16. Kri»mr 1915.
Maenner, Frauen und Kinder
aller kultivierten und wilden Voelkerstacmmc.
trt-Lol in die glorreiche englische Armee ein!
Reichliche LoehnUDg! Gute Verpflegung! Liebevolle Behandlung!
Abb. 11: Liller Kriegsbilderbogen.
200
Joachim Sistig
Die eigentliche Botschaft der Bilderreihe soll tatsächlich all diese Bilder und Kli-
schees von „angeblichen" deutschen Kriegsverbrechen ad absurdum führen. Tat-
sächlich kursieren im Frühjahr 1915 beiderseits der Front Gerüchte über deutsche
Greueltaten: „Dass Kindern ,die Hände abgehackt', Frauen ,Brüste abgeschnitten',
Nonnen geschändet würden, gehörte bald zum Repertoire derlei Horrorgeschich-
«16
ten.
Die beiden irischen Historiker John Hörne und Alan Kramer haben in ihrer
Untersuchung „Deutsche Kriegsgreuel 1914" (Hörne; Kramer 2004) zwar nachge-
wiesen, dass Gerüchte über „abgehackte Kinderhände" eine Erfindung der alliier-
ten Propaganda waren, dass aber gleichwohl zahlreiche Kriegsverbrechen durch
deutsche Truppen — besonders an der belgischen Zivilbevölkerung — zwischen
August und Oktober 1914 begangen worden sind. Gerade im Frontabschnitt des
„Liller Kriegsbilderbogens" zwischen Leuwen und Dinant werden in dem besagten
Zeitraum 6427 Zivilisten - auch Kinder und Frauen - Opfer von Massenerschie-
ßungen im Kampf gegen angebliche Freischärler. Im Zuge dieser Propaganda-
schlacht stilisiert sich die deutsche Seite in diesem Comic zum Opfer einer Ver-
leumdungskampagne und nutzt gleichzeitig ihre gespielte Empörung, um sich in
einem Zuge von jeder Schuld freizusprechen. Nach der bewährten Formel
„Negation gleich Affirmation" verkörpert der deutsche Soldat also alle Tugenden,
die auf den Zeichnungen in ihren negierten Versionen erscheinen: Er ist der
„ritterliche" Patriot, der mit offenem Visier kämpft und „natürlich" die Zivil-
bevölkerung verschont. Die eigenen Truppen sollen in ihrer Überzeugung gestärkt
werden, in einer Welt von heuchlerischen Feinden mit fairen Mitteln für die
richtige Sache zu kämpfen. Die Tatsache allerdings, dass diese Gerüchte überhaupt
in einer „halbamtlichen" Frontzeitung angesprochen werden, zeugt davon, dass es
Unruhe in den eigenen Reihen gegeben hat, die hier mit Polemik bekämpft werden
soll.
4 Bunte Kriegsbilderbogen von Walter Trier (1890-1951)
Eckart Sackmann hat für die Wissenschaftsreihe „Deutsche Comicforschung"
(Sackmann 2008) das Weltkriegs spezifische Comic-Genre der Kriegsbilderbogen
wiederentdeckt. Der bekannteste Titel dieses Genres ist der „Bunte Kriegsbilder-
bogen", der in den Jahren 1914 und 1915 im Berliner „Verlag der Vereinigung der
Kunstfreunde Otto Troitzsch" erscheint. Wie die meisten satirischen Publika-
tionen — „Simplizissimus", „Wahrer Jacob", „Lustige Blätter" usw. — widmen sich
auch die Kriegsbilderbogen seit dem Kriegsausbruch im Sommer 1914 ganz der
chauvinistischen Kriegsbegeisterung. Der ideologische Mainstream setzt sich auch
bei den anspruchsvollsten Zeichnern auf ganzer Linie durch: „Niemand mochte
sich offenbar dem nationalen Trend widersetzen; es sind bisher keine Beispiele von
16 Ullrich 2004: 41.
Copyrighted malerial
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
201
comic-künstlerischem Widerstand bekannt. [...] Während die Bogen mit den Bil-
dergeschichten künstlerisch zum Teil hervorragend sind, werden die Inhalte getra-
gen von plattestem Hurra-Patriotismus." Die Comic-Strips umfassen jeweils fünf
bis zehn farbige Bilder, die in drei Zeilen angeordnet sind. Der Farblichtdruck
(Troitzschotypie) beschränkt sich auf vier Grundfarben in konstanter Farbinten-
sität. Die Bildgeschichten folgen einem zusammenhängenden Erzählstrang oder
lassen sich noch einmal in zwei oder drei Einzelepisoden unterteilen, die aber in
einem thematisch übergreifenden Kontext zueinander stehen.
Der „Verlag der Vereinigung der Kunstfreunde Otto Troitzsch" spezialisiert
sich auf die Massenproduktion von eher kitschigen Kunstdrucken (Schutzengel,
keusche Liebesszenen, Landschaftsidyllen), die Einzug in die Wohnzimmer der
kleinbürgerlichen Mittelschichten finden. Dem politischen und moralischen Trend
der Zeit folgend erweitert Troitzsch seine Angebotspalette mühelos um das gewalt-
und vaterlandsverherrlichende Motiv. Es lässt sich nur spekulieren, in welcher
Weise der Kriegsbilderbogen seinen ideologischen Appell in die Privatsphären der
deutschen Familie transportiert, oder vielleicht als „Wegwerfprodukt" - bei einem
Preis von 10 Pfennig je Exemplar - nach einmaligem Lesen entsorgt wird.
1) K.F.A.C. (Kaiserliches Freiwilliges Automobil Corps)
(Nr. 32, 1914) (Abb. 12). Walter Trier gehört neben Paul Wendling, Leo Leipziger,
Ludwig Kainer u.a. während des Ersten Weltkrieges zu den regelmäßigen Mitarbei-
tern der „Bunten Kriegsbilderbogen". 1890 in Prag geboren zieht es ihn zunächst
1906 nach München, bevor er ab 1910 in Berlin für den Verleger Hermann Ull-
stein arbeitet. Rasch wird er dort zu einem gefragten Werbe- und Buchillustrator -
heute sind insbesondere seine Illustrationen für die Werke Erich Kästners (ab
1929) noch in Erinnerung. Gleichzeitig erscheinen seine Zeichnungen und Kari-
katuren im „Simplicissimus", in „Jugend", und in den „Lustigen Blättern" von
Otto Eysler. Im Duktus folgt er während des Ersten Weltkrieges dem herr-
schenden patriotischen Pathos, zeigt in seinem zeichnerischen Stil aber bereits
einen kreativen, eigenen Ansatz. Antje Neuner- Warthorst ordnet seinen Stil als
Produkt des „klimatischen Umfeldes [...] im Redaktionskollegium von Eyslers
Lustigen Blättern" ein, zu dem neben Paul Simmel auch Heinrich Zille zählt. Bis
1946 veröffentlicht Trier rund 350 Bildergeschichten und Einzelbildwitze. Als Gat-
tungsbegriff für den Comic-Strip wählt er die Bezeichnungen „Zeichnerscherz"
bzw. — als jiddische Variante — „Meschuggenes" und verweist damit bereits auf
seine jüdische Herkunft, die ihn 1936 dazu zwingen wird, mit seiner Familie nach
England zu emigrieren.
Bei dieser sechsteiligen Bildfolge fallen sogleich die progressiven Stilmittel
Triers ins Auge: Der monochrome, gelbe Hintergrund für die Aktionsmittelpunkte
der Bilder 3 und 5 erinnert an den berühmten Umschlagentwurf für „Emil und die
17 Sackmann 2007: 45.
18 Neuner- Warthorst 2007: 49. Siehe auch: http://www.walter-trier.de/Lebensdaten.htm.
Copyrighted malerial
202
Joachim Sistig
Detektive" (1929). Speed-lines und stilisierte Wölkchen, die zu diesem Zeitpunkt
bei Zille noch keine Rolle spielen, verleihen den Bewegungen ihre Dynamik.
Inhaltlich soll die Bildgeschichte die technische Überlegenheit der deutschen Trup-
pen gegenüber den Franzosen herausstreichen: Der motorisierte deutsche Offizier
besiegt alleine, als typisch unbesiegbarer Comic-Held, eine ganze Armee von fran-
zösischen Zuaven und Dragonern.
äSitnte
K. F. A. C.
Bin QQIT|[ ■ ■* Hm fri
t>rm aW%u jn rrihiinVji ' .
iNfrarn iw|»riMl<€l mml Iwn
. Uli .Utm
Ar i in #n*ru.W.* wriwjfn .
JlwkWHin4N]hm!.'
-tot* WariMit ! ^»Ji —fiii ! _
> r*n iW Ti-jr .1 i^,.-rn.Mifii L_
Am tniitm au? Vm Xardrr.'
-BrirnBirr* ImNMj
'BrAlfl^'StTfmif.utiji irrÄanJffrraiif
SStrtntioeriitrf» für &iV SHf&rfhW :
«aller rrier k l : A C. <Enberllcrjn Frchrtlii|ri» Aiitrarjobü Unp>l. 1914.
Abb. 12: Walter Trier, Kriegsbilderbogen K.F.A.C.
Die französischen Soldaten wirken in ihren Uniformen aus dem Krieg von 1870
lächerlich rückständig gegenüber der modern ausgestatteten deutschen Armee. Mit
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
203
typisch deutschen Tugenden - Mut und Kaltblütigkeit - ausgestattet, soll der
Endsieg als zwangsläufige Logik erscheinen. Bar aller Realitätsnähe erzählt Trier
eine kleine Action-Episode, bei der die Franzosen am Ende die Verlierer sind,
ohne aber diese propagandistisch über die Maßen zu diffamieren. Durch die Dar-
stellung der Kolonialtruppen gewinnt die Geschichte allerdings eine rassistische
Komponente, die den Wert der französischen Zivilisation insgesamt in Frage
stellen soll.
2) Der Kosake Wladimir
(Nr. 2, 1914). Etwas weniger dynamisch, aber wiederum mit dem gelben Bild-
hintergrund erscheinen die sieben (hier nicht abgebildeten) Zeichnungen, die den
russischen Gegner an der Ostfront porträtieren. Das ungepflegte Konterfei des
„Kosaken Wladimir" karikiert den Gegner sehr detailliert in entstellender Weise.
Um die Überlegenheit der deutschen Truppen herauszustreichen, zitiert Trier das
Motiv des „Ritters von der traurigen Gestalt". Das erste Bild stellt den russischen
Soldaten als lächerliche Gestalt in der Art eines Don Quichotte dar. Sinnbildlich
beschreibt die Darstellung den schlechten Zustand von Ausrüstung und
Verpflegung der russischen Armee, deren Kampfgeist völlig erloschen scheint. In
der Kaviar-Dose befindet sich nur Sand. Sogar das Pferd Olga sehnt sich nach der
deutschen Gefangenschaft: „Futter hofft auch sie zu kriegen, wie ihr Reiter
Wladimir." Die realistische Zeichnung „unsrer schneidigen Ulanen", die dem
freiwillig gefangenen Kosaken eine bessere Verpflegung bieten, als er sie jemals
zuvor genossen habe, suggeriert eine totale deutsche Überlegenheit. Die
Diffamierung gipfelt im vorletzten Bild darin, dass der russische Soldat in
moralisch verwerflicher Unmanier seine deutschen Helfer bestiehlt: „Zu dem
Nachtisch aber schmauste, Wladimir, weil er sie mauste, eine Kerze Stearin." Aus
Dummheit und aus mangelnder Kultiviertheit heraus isst der Russe die
Stearinkerze, weil er wohl nicht weiß, wozu diese eigentlich dient (Stearin wird aus
pflanzlichen und tierischen Ölen und Fetten gewonnen, ist essbar und dient primär
der Kerzen-Herstellung). Auch an der Ostfront scheint der Endsieg einer
zwangsläufigen Logik zu entspringen. Die materielle Überlegenheit der „deutschen
Hochkultur" gegenüber den „barbarischen Russen" ist überdeutlich.
3) Lustige Blätter
Nr. 3, 1915 (zit. n. „Rire", 09-06-1939): La Triplice est dissoute (Abb. 13). Es folgt
nun ein Kapitel tragischer Rezeptionsgeschichte des Werkes von Walter Trier: Die
Karikatur stammt zwar ursprünglich aus den Berliner „Lustigen Blättern", ist hier
aber als Reproduktion aus dem französischen Journal humoristique „Le Rire" vom 9.
Juni 1939 zu sehen. Auf der Titelseite eine Karikatur von Franz Jüttner (1865-
1925): „... und jetzt werden wir dem Bürschchen eine Lektion erteilen!" bezieht
sich auf den Eintritt Italiens 1915 auf der Seite der Entente unter der Führung des
italienischen Königs Viktor Emmanuel III.
Copyrighted malerial
204
Joachim Sistig
Im Mai 1915 widmen sich zahlreiche Karikaturisten ausgiebig dem diffamie-
renden Porträt angeblicher italienischer Untreue gegenüber dem Dreibund- Vertrag
zwischen Österreich-Ungarn, Deutschem Reich und Italien aus dem Jahre 1882
(Abb. 13). Im Original lautet die sprachspielerische Bildunterschrift: „Der Drei-
bund ist aufgelöst. Es bleibt ein Zweibund . . . und ein Vagabund!" Der realisti-
schen Darstellung des österreichischen und deutschen Soldaten in solidarischer
Pose steht die Karikatur des Bersagliere gegenüber, der kleiner gewachsen, mit hämi-
schem Grinsen auf die ehemaligen Verbündeten zielt. Die Chianä-Flasche an seiner
Seite soll Disziplinlosigkeit suggerieren. Ein häufig wiederkehrendes grafisches
Mittel bei Trier ist das Spiel mit dem Bildrahmen. Der in das Nachbarbild hinein-
ragende Gewehrlauf unterstreicht die Gefährlichkeit des scheinbar unvermittelt an-
greifenden Italieners.
Abb. 13: Walter Trier, La triplice est dissoute.
Der Grund für die Reproduktion einer Auswahl von Karikaturen aus den
deutschen „Lustigen Blättern" zum Thema „Les Italiens vus par les Allemands" ist
der soeben beschlossene Stahlpakt zwischen Hitler und Mussolini (22. Mai 1939).
Die Freunde von heute sind die Gegner von gestern — oder frei nach Talleyrand:
Die Wahrheit ist immer eine Frage des Zeitpunktes. Deutsche Karikaturisten wer-
den zwanzig Jahre später als Zeugen angeblicher italienischer Wankelmütigkeit
zitiert. Obendrein wird die Stabilität des zum „Stahlpakt" stilisierten Bündnisses
der beiden faschistischen Regime in Frage gestellt: Wo gerade noch die charakter-
liche Schwäche und UnZuverlässigkeit der Italiener in den deutschen Medien
angeprangert wurde, wird nun plötzlich eine unzerbrechliche Freundschaft be-
schworen. Ohne die Originalkarikaturen zu modifizieren und lediglich mit
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
205
französischen Übersetzungen ausgestattet sprechen die 25 Bilder des „Numero
special du Rire" für sich, indem sie die geheuchelte deutsch-italienische Propa-
ganda entlarven. Im Vorwort heißt es lediglich: „II nous est particulierement
agreable de relire les injures, les calomnies, qui furent jetees, ä cette epoque, sur
nos voisins du sud-est par leurs amis d'aujourd'hui. L'Allemagne, ä la nouvelle que
l'Italie se rangeait du cote de l'Entente anglo-francaise, entra dans une rage
hysterique dont les dessins reunis ici donnent une excellente idee." Ein Hinweis
auf die sehr aufmerksame gegenseitige Rezeption der deutsch-französischen Kari-
katuristenszene, die in der Feststellung gipfelt: „II n'y eut pas, en 1915, un seul
caricaturiste allemand, pas un seul journaliste, pas un seul ecrivain, pas un seul
orateur public qui sut garder quelque mesure." In der Tat verlieren Künstler und
Politiker auf allen Seiten während des Ersten Weltkrieges jedes menschliche Maß —
Walter Trier ist daher sicherlich nicht der einzige und auch nicht der fanatischste
Karikaturist auf deutscher Seite. Fatal, geradezu tragisch ist es aber, dass ausgerech-
net der Jude Trier 1939 in Frankreich indirekt als Agent des faschistischen Regimes
Hitlers zitiert wird. Denn zu diesem Zeitpunkt lebt er mit seiner Familie bereits seit
vier Jahren in London und publiziert Zeichnungen mit einer ganz anderen Aussage
(Abb. 14).
Abb. 14: Londoner Zeichnung von Walter Trier.
Von 1941 bis Kriegsende werden seine Anti-Nazi-Cartoons in der vom englischen
Informations-Ministerium publizierten Zeitschrift „Die Zeitung" regelmäßig veröf-
fentlicht. Trier wird nach dem Krieg britischer Staatsbürger und reist 1949 zu sei-
nen Töchtern nach Kanada aus, wo er 1951 in Toronto stirbt.
Schluss
Die hier vorgestellten Bild- und Textmaterialien zeigen die Vielschichtigkeit der
Einsatzmöglichkeiten von populärliterarischen Medien im DaF-Unterricht. Erstens
illustrieren sie besser als Sachtexte und Fachvorträge einzelne gesellschaftliche und
206
Joachim Sistig
politische Aspekte einer Epoche. Massenpsychologische Stimmungen und Befind-
lichkeiten in der Bevölkerung — als „Volkes Stimme" verdichtet - finden in Bild-
und Textgattungen, die für einen Massenkonsum gedacht sind, einen authentische-
ren Widerhall. Zweitens bieten sie besonders motivierende Sprechanlässe — jedes
Bild stellt sich zunächst als Suchbild und Rätsel dar, das dem Betrachter bei einer
Bildbeschreibung eine gewisse Interpretationsfreiheit lässt und zunächst zum
freien Assoziieren einlädt. Visuelle Eindrücke bieten einen direkten Einstieg auch
in abstrakte Themenfelder. Drittens bietet das Medium gerade für den Aspekt der
interkulturellen Horizont-Erweiterung viele Anknüpfungspunkte bei der Aufarbei-
tung deutsch-französischer Erinnerungsorte aus dem Ersten Weltkrieg. Um im
Medium zu bleiben, würde sich eine Vertiefung des Themas über eine vergleichen-
de Betrachtung französischer Karikaturen und Comic-Strips anbieten. Hier müsste
unbedingt auch auf die Erinnerungsarbeit von Jacques Tardi zurückgegriffen
werden mit seinen epochalen Werken: „C'etait la guerre des tranchees" (1993), „Le
der des ders" (1996), „Varlot soldat" (1999) und den Illustrationen zu Celines
„Voyage au bout de la nuit" (1988). 19 Schließlich stellt das Bildmedium selbst
bereits ein Dokument deutscher Kultur dar, das gerade bei Künstlern wie Zille und
Trier eine eingehendere Würdigung verdient. Gerade für die tendenziell BD-
begeisterteren französischen Deutschlernenden wäre dies sicherlich die Ent-
deckung eines „starken Stückes Deutschlands".
Quellen
Rigolboche, Nr. 7, 20.04.1915 (Bibliotheque Nationale, Cote LC6-144).
Numero special du „Rire", Nr. 1037, 09.06.1939.
Hansi, alias Jean-Jacques Waltz (1918): Le Paradis Tricolore. Paris: Herscher.
Ostwald, Hans (Hrsg.) (1942): Zille 's Hausschaf^. Berlin: Paul Franke Verlag.
Zille, Heinrich (1915/16): Vadding in Frankreich (2 Bde.). Berlin: Verlag „Lustige
Blätter".
Literatur
Francois, Etienne; Schulze, Hagen (Hrsg.) (2001): Deutsche Erinnerungsorie.
München: Beck.
Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd (Hrsg.) (2006): Die Deutschen an der Somme
1914-1918. Essen: Klartext.
» Vgl. Sistig 2002.
Der Erste Weltkrieg in populärliterarischen Medien
207
Hörne, John; Kramer, Alan (2004): German Atroäties 1914. New Häven: Yale
University Press.
Isnenghi, Mario (Hrsg.) (1996/1997): I luoghi de IIa memoria. Roma: Laterza.
Kohlrausch, Martin (2010): Das Reich bin ich - Selbstherrlich, dilettantisch,
modern: Wilhelm IL In: ZEH 'Geschichte, Nr. 4, 2010, 60-63.
Lemmermann, Heinz (1984): Kriegs er^ehung im Kaiserreich. Bremen: Eres Edition.
Neuner- Warthorst, Antje (2007): ,Meschuggenes' von Walter Trier. In: Sackmann
(Hrsg.) (2008), 48-61.
Nipperdey, Thomas (1998): Deutsche Geschichte. München: Beck.
Nora, Pierre (Hrsg.) (1984): Les lieux de memoire Bd. 1. Paris: Gallimard.
Nora, Pierre (Hrsg.) (1986): Les lieux de memoire Bd. 2. Paris: Gallimard.
Nora, Pierre (Hrsg.) (1992): Les lieux de memoire Bd. 3. Paris: Gallimard.
Sackmann, Eckart (2007): Bunte Kriegsbilderbogen. In: Ders. (Hrsg.) (2008), 44-
47.
Sackmann, Eckart (Hrsg.) (2008): Deutsche Comicforschung 2008. Hildesheim:
Comicplus +.
Schnurrer, Achim (2007): Aus der Bildermappe des Meldereiters. In: Sackmann
(Hrsg.) (2008), 34-43.
Sistig, Joachim (2002): Invasion aus der Vergangenheit. Das Deutschlandbild in
frankophonen Bandes Dessinees. Frankfurt/Main: Peter Lang.
Tubergue, Jean-Pierre; Charpentier, Andre (2007): La plume au fusil: 1914-1918. Les
journaux des tranchees. Paris: Editions Italiques.
Ullrich, Volker (2004): Krieg der Worte, Kampf der Bilder. In: Die Zeit,
24.06.2004, 41.
Wehler, Hans-Ulrich (1998): Der erste totale Krieg. In: Die Zeit, 20.08.1998, 35.
Copyrighted malerial
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
Marc Hieronimus
1 Einleitung
Seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert werden deutsche Großstädte mit
Plakaten tapeziert. Ihre Zahl dürfte über die Jahre erheblich gestiegen sein, über
die Qualität lässt sich streiten: „Plakate sind in der Politik wie in der Markenartikel-
Werbung nur noch Sekundanten. So erklärt sich die Armut ihrer Argumentation
und das Bemühen um ästhetischen Schick" , hieß es schon vor über dreißig Jahren
(Arnold 1977: keine Seitenangabe). Ob man angesichts ihrer Allgegenwart wirklich
von einer Zweitrangigkeit sprechen kann, sei dahingestellt; sicher ist, dass Plakate
weit mehr als nur Dekor, nämlich Ausdruck ihrer Zeit sind. Werbebilder und -bot-
schaften — und das heißt auch politische — können „hochsensible Quellen mit gera-
dezu prismatischen Eigenschaften" darstellen, und zwar selbst wenig erfolgreiche.
„Der Idealfall freilich scheint die durch Werbung zustande gekommene sinnfällige
oder gar sinnstiftende Abbreviatur gesamtgesellschaftlichen Selbstverständnisses -
als griffige und formelhafte Bewußtseinsmünze." (Gries; Ilgen; Schindelbeck
1995a: 17f).
Gemessen an ihrer Verbreitung und Bedeutung erfahren Plakate, abgesehen
von einigen semiotischen Studien und populärwissenschaftlichen Motiv- und Fir-
mengeschichten, in der Geschichtswissenschaft allerdings nur wenig Aufmerksam-
keit. 1 Das mag auf internationaler Ebene nicht zuletzt an einer Begriffsverwirrung
liegen: Auf Englisch heißen die Plakate „posters", sind aber keine; denn anders als
1 Einen Überblick gibt Seidensticker 1995: 5f.
Copyrighted malerial
210
Marc Hieronimus
die Poster im deutschen Sinne sind Plakate auf Außengebrauch hin ausgelegt, und
im Gegensatz zum Kunstplakat, das auch unter den englischen Poster-Begriff fällt,
im Deutschen aber meist mit (Original- oder Repro-) „Druck" bezeichnet wird,
sind Plakate, wenn auch oft von Künstlern gestaltet, fast ausschließlich kommer-
zieller oder politischer Natur. 2
So definiert wird die Werbe- und Druckgeschichte zur Vorgeschichte des
Plakats. Hanns Buchli (1962) geht sicher zu weit, wenn er, gestützt auf Beispiele
aus Uruk und anderen alttestamentarischen Grabungs statten, von „6000 Jahren
Werbung" spricht; selbst nach einer weiten Definition wie der seinen fallen bloße
Hinweisschilder doch nicht unter die Kategorie. Wichtig ist sein Hinweis auf die
gleichen Wurzeln von Wirtschaftswerbung und politischer Propaganda. Er spricht
von zwei Erscheinungsformen der Werbung. Wirtschaftswerbung und politische
oder weltanschauliche Propaganda (wie etwa die Mitgliederwerbung [sie!] für
religiöse Strömungen) bedienten sich gleicher Mittel, und das Gbjekt sei in jedem
Falle der Mensch (Buchli 1962: 42). So kommt er zu folgenden Begriffsbestim-
mungen: „Werbung ist eine Beeinflussung des Menschen, die ihn veranlaßt, etwas
freiwillig zu tun", nämlich „sich freiwillig eine Uberzeugung anzueignen und sie als
wahr anzuerkennen" im Falle der politischen Werbung oder Propaganda, oder
„freiwillig ein Geschäft abzuschließen" in dem der Wirtschaftswerbung (Buchli
1962: 64). 3
1.1 Druckgeschichte
Die Geschichte der Druckgrafik als Vorbedingung für die Entstehung des Plakats
beginnt im Spätmittelalter. Auf das Jahr 1390 ist die älteste Urkunde über gewerb-
liche Papierherstellung in Deutschland datiert; erst als der Nürnberger Großkauf-
mann Ulrich Stromer und seine Nachfolger und Konkurrenten massenhaft Papier
herstellten, konnte sich der Buch- und Bilddruck zunächst mit unbeweglichen, seit
Gutenberg dann mit beweglichen Lettern fortentwickeln. Um 1440 kommen Kup-
ferstiche auf, von denen man bis zu 2000 Abzüge machen kann; der gröbere Holz-
schnitt lässt sich beinah unbegrenzt wiederverwenden. Plötzlich gibt es also käuf-
liche Bilder. „Dass von einem einzigen Original, einem Druckrelief, eine Vielzahl
von Abzügen genommen werden konnte, dürfte im frühen 15Jh. so ähnlich be-
staunt worden sein wie die wundersame Brotvermehrung. [...] Solche wundersame
Bildvermehrung bringt einen sozialen wie psychologischen Umschwung mit sich.
2 Warnungen und Hinweise werden in der Regel auf Schildern kommuniziert, und auch „ungeklebte"
Plakatsatire etwa in der Zeitschrift „Titanic" fällt nicht unter den Begriff.
3 Der Zusammenhang war früher geläufiger: Der Werbegrafiker Julius Klinger hat das Titelbild einer
Zeitschrift mit Namen „Propganda" gestaltet; das von Robert Exner herausgegebene Blatt zeigte laut
Eigenwerbung „den Weg zum geschäftlichen Erfolg". Ein anderes Beispiel: Hans Domizlaff, Berater
von Reemtsma, Siemens und der Deutschen Grammophon und vielleicht der „Urfaust" der deut-
schen Werbung, konnte „keinen Unterschied darin erblicken, ob [er] ein Wirtschafts-Untemehmen
berate oder eine Staatsidee" und brüstete sich damit, Goebbels habe sein Buch namens „Die Propa-
gandamittel der Staatsidee" auswendig gelernt, vgl. Schindelbeck 1992: 23f.
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
211
[. . .] Wer beispielsweise den Hl. Christopherus nicht mehr nur an einer bestimmten
Kirchenwand um Fürbitte anrufen muss, ihn stattdessen als gedrucktes Bild belie-
big oft zur Hand und in den Blick nehmen kann, dessen Einstellung zu Seelenheil
und Kunst wird sich grundlegend verändern." (Rebel 2 2009: 14f.). Um 1505 gibt es
in Italien erste Beispiele für Reproduktionsgrafik (statt Originalgrafik). Dürer und
Raffael gelten als die ersten reproduzierten Meister der Kunstgeschichte.
Über dreihundert Jahre blieben Kunstdrucke einem wohlhabenden Publikum
vorbehalten. Litfaßsäulen, Anschlagkästen und „Sandwichmänner" als öffentliche
Bildträger kamen erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf, denn ,,[e]rst seit
1844, als Holzschliff als Rohmaterial für die Papierherstellung eingeführt wurde,
konnte Papier preiswert und in großen Mengen hergestellt werden." (Ingenkamp
1996: 164; vgl. auch Buchli 1966: 223), und noch ein wenig später erlaubte die Ent-
wicklung des Rasterdrucks durch Georg Meisenbach die massenhafte Repro-
duktion jedes beliebigen Bildmotivs. Nun erst entsteht das Plakat als „groß-
formatiges, auf demonstrative Wirkung angelegtes Druckerzeugnis (lat. Placatus
,geebnet, geglättet'). [...] Technisch und wahrnehmungspsychologisch ist das Me-
dium Plakat an die Erfindung der Lithografie geknüpft: an deren beschleunigte,
auflagenstarke, kostengünstige und aktualitätsbegierige Reproduktionsleistung, aber
auch an deren künstlerisch experimentelle Formkraft. Bei Einbeziehung foto-
mechanischer Komponenten wird das Plakat dann im System der industriellen
Druckgrafik, also etwa ab 1890, ein bevorzugter Aufmerksamkeitsfänger und
Werbeträger für politische Propaganda und kommerzielle Reklame." (Rebel 2 2009:
245).
Nun enstehen z.B. die heute noch geschätzten Kunst-/ Werbeplakate Cherets
und Toulouse-Lautrecs. Der Kunsthistoriker Ernst Rebel spricht in diesem Zu-
sammenhang von einer (zweiten) „Transmedialisierung": „Wie um 1500 mit der er-
reichten Gleichberechtigung von Malerei und Druckgrafik eine erste Transmedi-
alisierung stattgefunden hat, so nun um 1900 mit erreichter Gleichberechtigung
von künstlerischem und industrialisiert-öffentlichem Bild der gebrauchsgrafischen
Medien eine zweite." (Rebel 2 20 09: 126). 4 Von den 1890er Jahren bis zur Wie-
marer, vielleicht sogar Bonner Republik sollten Plakate ein bedeutendes Medium
künsderischer Entfaltung sein; es wird sich zeigen, dass die Grafiker und Werbe-
fachleute wenig Bedenken hatten, ihre Kunst in den Dienst von Kommerz und
Propaganda zu stellen.
2 Werbeplakate
Das Phänomen Werbung wird oft unterschätzt. „In den USA hat man schon 1968
in einer Untersuchung festgestellt, daß rund 1600 Werbeimpulse täglich auf den
Verbraucher eindringen. Und das waren schon seinerzeit rund 500% mehr als 20
4 Zu den Werken der (Kunst)Druckgrafik vgl. Rebel 2010.
Copyrighted malerial
212
Marc Hieronimus
Jahre zuvor." (Schönert 1988: 46). Eine Fachindustrie von Grafikern, Psychologen,
Soziologen, Lobbyisten, Marketingstrategen und anderen Experten arbeitet seit
Jahrzehnten beharrlich an der stetigen Ausweitung der werblichen Beeinflussung
des Bürgers durch Vermehrung der Träger und Kanäle und durch Verfeinerung
der Mittel, oder positiv ausgedrückt: „Die Hauptaufgabe der modernen Werbung:
sorgfältig und bedacht die individuelle Persönlichkeit des Konsumenten und seiner
Bezugsgruppen aufzusuchen und anzusprechen." (Huber 1990: 129). Das wich-
tigste Mittel sind dabei die Bilder, denn sie erregen schneller größere und längere
sowie emotionalere Aufmerksamkeit und transportieren ihre Botschaften subtiler
als Texte. Dem entsprechend werden Werbebotschaften nach Einschätzung eines
Werbefachmanns auch nur zu fünf Prozent bewusst wahrgenommen, zu 95 Pro-
zent aber unbewusst emotional (Huber 1990: 15). 5 Dem wird im Unterricht wenig
entgegengesetzt. „Unsere Gesellschaft vermittelt primär Kulturtechniken im Um-
gang mit dem sprachlichen Symbolsystem — Lesen wie Schreiben — und vernach-
lässigt sträflich die Visual Hteracy" (Schierl 2005: 309). 6
Dabei ist die Erkenntnis, in einem visuellen Zeitalter zu leben, umgeben von
halbverstandenen, aber dennoch wirksamen Zeichen, nicht neu. Schon zu Beginn
der 1970er Jahre gab es durchaus Bestrebungen, den klassischen, vermeindich ide-
ologisch aufgeladenen Kunstunterricht durch das Fach „Visuelle Kommunikation"
zu ersetzen, in dem es zum Beispiel darum gegangen wäre, „Gebrauchsgegen-
stände wie: Kleider, Schränke, Parks, Flugzeuge, Autos, Zeitschriften, Gemälde,
Fotos, Reklamematerial, Dias, Filme usw. als Träger von visueller Information (=
vi) und als visuelle Phänomene (vPh) wahrnehmen und begreifen [zu] lernen",
oder das „Angebot an visueller Kommunikation im Bereich des Freizeitverhaltens
als Angebot von Waren interpretieren [zu] lernen". Insbesondere sollte es um eine
„Sensibilisierung für die Möglichkeit, über vi manipuliert zu werden" gehen und
darum, die „Abhängigkeit der Produktion von vi von ökonomischen Bedingungen
erkennen" zu lernen. (Hartwig 1971: 339).
Kunsterziehung und Kunstunterricht als Erziehung durch bzw. zur Kunst
wurde damals, bei aller heute vermeindich obsoleten Rhetorik, völlig zu Recht als
ungenügend kritisiert:
,,a) Bildende Kunst ist seit langem, aber erst recht heute nicht mehr denn ein
Teilbereich optischer Kultur; andere Bereiche optischer Kultur (Fotografie,
Film, Fernsehen) haben ihn schon rein quantitativ weit überflügelt, b) Die
quantitative Dominanz der sog. Massenmedien wird zur qualitativen, da ihre
kommunikative Effizienz durch Masse und Realitätsgrad ungleich höher liegt
als bei der Bildenden Kunst [...] c) Die Darstellung gesellschaftlichen Bewußt-
seins vollzieht sich heute außerordentlich effektiv in den optischen Massen-
5 Wie Imagewerbung (wahrscheinlich) funktioniert erklärt der Evolutionsbiologe Geoffrey Miller
(Miller 2010).
6 Zur Bedeutung der Bilder in der Werbung vgl. a. Messaris 1997.
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
213
kommunikationsmedien; es ist hier von jedermann jederzeit relativ problemlos
erfahrbar und mitvollziehbar." (Möller 1971: 363f.). 7
2.1 Geschichte der Plakatwerbung
In ihrer umfangreichen Dissertation zur Reklame in Deutschland macht Christiane
Lamberty drei Wurzeln der Plakate aus: amdiche Ankündigungen, Buchhändler-
plakate und die illustrierten Plakate der Schausteller. 8 Als um 1850 die ersten
Produktwerbeplakate aufkommen, haben sie noch recht eigentümliche Formen:
„Produktreklame wurde zunächst nur durch so genannte ,Blankoplakate' gemacht;
in fertige Entwürfe wurden nur noch die jeweiligen Firmen- bzw. Markennamen
eingefügt. Reisende der Druckereien legten dazu zweimal jährlich den Kunden fer-
tige Plakate zur Auswahl vor." (Lamberty 2000: 189). Gegen Ende des neunzehn-
ten Jahrhunderts wird das Plakat nun als eigenes Kunst- und Werbemedium ent-
deckt; deutsche Beiträge zur gewerblichen Bildkunst aber lassen zunächst noch auf
sich warten. Die ersten innovativen Plakate deutscher Herkunft — Thomas Theo-
dor Heines „Simplicissimus"-Hund und Ludwig Sütterlins Plakat für die Berliner
Gewerbeausstellung — wurden im „Durchbruchs jähr" 1896 veröffentlicht, nach-
dem die Besucher der Plakatausstellungen in London (Royal Aquarium 1894 und
1896) und Hamburg (Museum für Kunst und Gewerbe 1896) das bereits über
zehn Jahre dauernde Schaffen vor allem britischer, amerikanischer und
französischer Künstler hatten bewundern können. Nach den Jahren des „Miss-
trauen [s] gegenüber der Gebrauchsgraphik" eines Grasset oder Mucha als
vermeintlich minderwertige Kunstform (Ingenkamp 1996: 167) konnten sich nun
München und Berlin als frühe Zentren der jetzt auch über Ausschreibungen
angeregten Kunstform herausbilden.
Zu einer eigenständigen Marke wird das deutsche Plakat aber erst ab 1903, als
Hans Lindenstaedt und Lucian Bernhard beginnen, das „Berliner Sachplakat" zu
entwickeln. „Hierbei ging es vor allem um Verkürzung, Komprimierung und Asso-
ziation. Alles als überflüssig empfundene Beiwerk wurde weggelassen; was übrig
blieb, suchte man in seinem Informationsgehalt weiter zu komprimieren, so dass
vor allem der Textanteil zugunsten des Bildanteils schrumpfte. Assoziative Zusam-
menhänge zwischen Bild und Text wurden bewusst angestrebt, das Prinzip der
,Wort-Bild-Marke' zum obersten Prinzip erklärt. [...] Die Reduktion und Konzen-
tration hatte nicht nur eine völlig neue Bildwelt zur Folge, sondern auch enorme
Auswirkungen." (Grohnert 2007: 78) Zunächst bestand die Auswirkung darin, dass
der Jugendstil überwunden wurde. Man kann im Berliner Sachplakat einen Vor-
läufer der Bauhaus-Werbegrafik sehen, insofern seine Konzeption auf empirische
7 Vgl. a. den Beitrag der Adhoc-Gruppe Visuelle Kommunikation im selben Band: Adhoc-Gruppe
Visuelle Kommunikation 1971.
8 Als kleine Einführung zu Wesen und Geschichte der Plakatwerbung s.a. Haubl 1992.
Copyrighted malerial
214
Marc Hieronimus
Untersuchungen gestützt war und von einer heute nur noch schwer vorstellbaren
Publizistik und öffendichen Diskussion begleitet wurde.
Abb. 1: Kein „Phrasennebel" (Lamberty 2000: 196): Manoli Gibson Girl (Dame mit
Rose). Plakat von Lucian Bernhard, o.J. (vor 1911). Hollerbaum & Schmidt, Berlin
Farblithographie, Steindruck, 69 x 92,5 cm.
Deutsches Historisches Museum Berlin.
1907 rufen je zwölf Künstler und Industrielle zur Gründung des Deutschen Werk-
bundes auf. ,,[D]ie Unternehmer zogen aus dem schlechten Abschneiden des
deutschen Kunstgewerbes auf den Weltausstellungen und dem verheerenden Ur-
teil, dass dieses im Vergleich zum französischen oder englischen besonders stillos
sei und für die Massenproduktion nicht tauge, die Konsequenz, der Einsatz künst-
lerischer Entwürfe sowohl in der Produktion als auch in der Werbung sei
aussichtsreich, um für qualitativ hochwertige Waren Marktchancen zu eröffnen."
Im Werkbund wird ein „Programm allgemeiner Geschmacksbildung als das
gemeinsame Werk von Produzenten, Künstlern, Einzelhandel und Reklamefach-
leuten" entworfen. (Lamberty 2000: 329).
In der Symbiose von Kunst und Gewerbe sollte auch die Volkserziehung nicht
vergessen werden. 1912 fragt Adolf Saager, der Generalsekretär der Vereinigung
Die Brücke: „Wie ist die Reklame zu organisieren, damit das dafür ausgegebene
Plakate im DaF-Unterricht
215
Geld den höchsten Nutzeffekt ergibt und zugleich in den Dienst der Kultur ge-
stellt wird?" (Lamberty 2000: 324) Er stellte sich eine Koppelung zwischen
Reklamezweck und einem kulturgeschichtlichen, gesundheitserzieherischen oder
anders bildenden Text auf der Rückseite aller Reklamebilder vor, „Reklame als
Kulturträger, als die mit Riesenmitteln ausgestattete Volkshochschule." (ebd.: 325).
CIRCUS ALBERT SCHUMANN
*
«I DOPA 9»
SCHUMANN
AUF IHREM
SCHULPFERD
DEWETT'.'
Abb. 2: Mit Ludwig Hohlwein „tritt das Erhabene in die Plakatwelt ein" (Kühnel
2007: 143), 1910. Circus Albert Schumann - Fräulein Dora Schumann auf ihrem
Schulpferd "Dewett", o.J. (um 1910). Vereinigte Druckereien und Kunstanstalten,
München. Farblithographie, Steindruck. 242,5 x 176 cm.
Deutsches Historisches Museum, Berlin.
216
Marc Hieronimus
So lässt sich (auch) anhand der Werbung deutsche Mentalitäts- und Geistes-
geschichte nachvollziehen, und Beispiele sind leicht zu finden. Nach der frühen
Glanzzeit des Werbeplakats haben viele Künstler ihr Können in den Dienst der
politischen Parteien gestellt, weshalb man beim politischen Plakat der Weimarer
Republik, wie sich unten zeigen wird, von einer Blütezeit sprechen kann. Zugleich
wurde die Wirtschaftswerbung perfektioniert.
1919 kam es zur Gründung des Bundes deutscher Gebrauchsgrafiker, denn
„Reklame war vor allem ein Arbeitsfeld dieses Standes geworden, wenngleich nach
wie vor die so genannten freien Künstler auf diesem Felde tätig waren [...]. Das
hatte durchaus beflügelnde Wirkung. Die verschiedenen Strömungen wie Expres-
sionismus, Dadaismus, Futurismus und Neue Sachlichkeit oder Konstruktivismus
hatten Einfluss auf die stilistischen Mittel im Plakat gewonnen." (Kühnel 2007:
143). Im Deutschen Werkbund, im Staatlichen Bauhaus, an der Essener Folkwang-
schule für Gestaltung wurden gestalterische Positionen, Bildaufbauten und
Schriften entwickelt, die zum Teil bis heute von Bedeutung sind.
Für die Zeit von 1933 bis 1945 ist von einer „leichten Faschisierung" der Wer-
bung gesprochen worden (Ingenkamp 1995: 237-245); festzuhalten ist jedenfalls,
dass die Werbewirtschaft im Dritten Reich von der „Gleichschaltung" nicht ver-
schont blieb und klaren nationalsozialistischen Zwecken zu dienen hatte (vgl.
Westphal 1989; Rücker 2000). Typisch für die Nachkriegszeit bis Ende der 1950er
Jahre waren Plakate mit der Aufschrift „Es gibt wieder...". 9
2.2 Neuere Beispiele
Gerade im großen und reichen Deutschland scheint es sich nach wie vor zu
lohnen, landesspezifische und so nirgends sonst verständliche Werbung zu schal-
ten. So gab es kurz nach dem neunten November 1989 im werbemäßig schon
einmal vor-vereinigten Deutschland eine Plakatwerbung von Fiat: Vier offen-
sichdich ostdeutsche Interessierte schauen sich einen Fiat Panda an. 10 Darüber
steht:
„Also mal ehrlich, Erich... äh Egon..., den real existierenden Spätkapitalismus
hatten wir uns wesentlich dekadenter vorgestellt. — Fiat Panda. Die tolle
Kiste." Unter dem Bild heißt es: „Was hatte der Schwarze Kanal nicht alles
über den Westen erzählt: kalte Glitzerwelt, verchromte Herzlosigkeit. Und
dann fährt man rechts ran, kauft Bananen, und plötzlich fällt es einem wie
Glasnost von den Augen: dieser Kleine da, nicht größer als ein Trabi, das soll
der Konsumterror sein, vor dem die weise Führung immer gewarnt hat?
9 Bei der Übernahme der großen Werbefirmen durch amerikanische Konkurrenten sei es zum Verlust
jeglicher Eigenständigkeit und damit zur „Amerikanisierung" der Werbung in Deutschland gekom-
men, schreibt Konstantin Ingenkamp in seiner Dissertation zum Thema (1996: 266-275), bleibt aber
eine genauere Beschreibung des „Amerikanischen" in der deutschen Werbung schuldig.
10 Reproduziert auf dem Titelblatt der Geschichtswerkstatt 25 (1992): Werbung als Geschichte.
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
217
Lächerliche 4,0 1 bleifrei Super [...] - ist das die spätkapitalistische Vergeudung
knapper Ressourcen? 11.990,- DM für 45 PS/33kW, geregelten 3-Wege-Kat.,
verschiebbaren Aschenbecher und wiederverschließbare Türen — das soll Aus-
beutung der werktätigen Massen sein? Der Panda ist lieferbar in Sozialis-
musrot, Preußischblau, Diplomatenschwarz und weiteren United Colors. [...]."
Die „United Colors" spielen natürlich auf die italienische Modefirma Benetton und
die außerordentlich Aufsehen erregenden, wenn auch letztlich nicht unbedingt ein-
träglichen Plakatkampagnen Oliviero Toscanis an, mit der der Parforceritt durch
die Geschichte der Werbeplakate enden soll. Anfang der 1990er Jahre machte eine
neue Art Werbung Furore, die gegen die eiserne Regel der Branche zu verstoßen
schien, niemals Problematisches darzustellen. 11 Toscanis Plakate zeigten keine
Kleidung (jedenfalls nicht von Benetton), sondern nur Problematisches - einen
Säugling voller Schmiere an der Nabelschnur, zwei kopulierende Pferde, eine öl-
verschmierte Möwe, einen Aids-Patienten im Endstadium, ein Opfer eines Mafia-
mords, Kondome — und trafen damit einen Nerv. Als Imagewerbung schien seine
Kampagne zunächst außerordentlich erfolgreich, indem die vormals „brave"
Benettonkleidung nun zu einer Art globaler Protestkleidung avancierte, deren
Träger etwa Toleranz, Entrüstung und Verantwortungsgefühl demonstrierten. Die
Öffentlichkeit war gespalten, schließlich blieben die Plakate kommerziell orien-
tierte Werbung. „Unbehagen bereitete es Kritikern, dass es manchen Benetton-
Plakaten offenbar tatsächlich gelang, eine größere Aufmerksamkeit auf Themen
wie Aids oder Rassismus oder auch den Krieg in Bosnien zu lenken, als es andere
Medien damals vermochten. Mit der Verwendung von Pressefotos in den Kam-
pagnen von 1992 holte Toscani die Realität in ihren negativen Erscheinungsfor-
men in die heüe Welt der Werbung." Pöring 2008: 634).
1994 erschien das wohl berühmteste Plakat: eine blutige Uniform. „Das Foto
rief heftigste Kritiken hervor", Zeitungen lehnten den Abdruck ab. „In Deutsch-
land protestierten Benetton-Händler und meldeten Umsatzeinbußen [...]. Ent-
scheidend für die nachhaltige Wirkung seiner Bilder ist nicht zuletzt, dass Toscani
den Betrachter mit seiner Interpretation allein lässt. Er serviert die Klischees fron-
tal und geradezu klinisch rein und fordert damit fast unvermeidlich eine Reaktion
heraus." (Döring 2008: 635f). In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verzichtete
Benetton auf Imagewerbung, unterstützte aber weiterhin etwa die Formel 1. Zur
Trennung von Toscani kam es im Jahre 2000 in der Kontroverse um eine neue
Plakatserie, die amerikanische Häftlinge in Todeszellen zeigte. In Insgesamt 120
Ländern waren Benetton-Plakate zu sehen, viele wurden zensiert, manche waren
Gegenstand von Gerichtsverfahren, auch in Deutschland.
11 Eine andere, untergeordnete Regel der Werbung ist freilich „Abweichen von der Norm" (so der
Titel des Art-Directors-Club-Jahrbuchs 1998). Hier hat die schwächere die stärkere einmal
geschlagen.
Copyrighted malerial
218
Marc Hieronimus
3 Politische Plakate
„Erste Zeugnisse von Rang verdankte die politische Plakatkunst im kaiserlichen
Deutschland der satirischen Zeitschrift ,Simplicissimus"', vor allem dem schon
zitierten Thomas Theodor Heine. Käthe Kollwitz' Plakat für die Deutsche Heim-
arbeit-Ausstellung von 1906 wurde auf Wunsch der Kaiserin von den Anschlags-
säulen entfernt, weil ihr das Motiv einer abgearbeiteten Frau nicht gefiel (Malhotra
1984: 17). Kollwitz verstand sich als politische Künstlerin: „In solchen Augen-
blicken, wenn ich mich mitarbeiten weiß in einer internationalen Gemeinschaft
gegen den Krieg, hab ich ein warmes, durchströmendes und befriedigendes
Gefühl. Freilich, reine Kunst in dem Sinne wie z.B. die Schmidt-Rottluffs ist meine
nicht. Aber Kunst doch. Jeder arbeitet, wie er kann. Ich bin einverstanden damit,
dass meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen
so ratlos und hilfsbedürftig sind." (zitiert bei Malhotra 1984: 11).
Buchlis Werbe-Definition (s.o) legt eine enge Verwandtschaft von Wirtschafts-
werbung und politischer Propaganda nahe. Ästhetisch und personell sind beide
Arten eng miteinander verwoben, schon weil ab 1916 (fast) dieselben Grafi-
ker/Künstler die Plakate gestalten. Im dritten Kriegsjahr entschied sich die neue
Oberste Heeresleitung unter Ludendorff, nun auch massiv Propaganda zu
betreiben und gewann den Werbegrafiker Lucian Bernhard für die Gestaltung des
Plakats zur fünften Kriegsanleihe. Bis dahin schien es, „als sei das drastische
Feindbild mit einem Tabu belegt. Dieses für uns rätselhafte Verhalten hatte einen
Grund: Auf die alliierte Flugblattpropaganda antwortete die Heeresleitung aus
moralischen Bedenken nicht." (Vorsteher 2007: 124).
3.1 Politische Plakate der Weimarer Republik
1918 begann dann die große Zeit des politischen Plakats: „Gleich nach der
Novemberrevolution wurde das Land nicht nur mit amtlichen Plakaten über-
schwemmt, vor allem die politischen Parteien bemächtigten sich nun dieses Medi-
ums. In einer ereignisreichen Zeit des politischen Umbruchs, in der es weder
Rundfunk noch Fernsehen gab, die Zeitungen entweder nicht erschienen oder für
eine schnelle Information nicht zu gebrauchen waren, sich viele eine solche auch
nicht leisten konnten, kam Plakaten eine besonders große Bedeutung zu. Aber
nicht nur die turbulenten Ereignisse trugen zu ihrer Vermehrung bei, sondern vor
allem die Tatsache, daß die einschränkenden Zensurbestimmungen nun zum
größten Teil weggefallen waren. Das Plakat war als schlagkräftiges Agitations- und
Propagandamittel in der geistigen Auseinandersetzung und im politischen Kampf,
vor allem in den Wahlkampfschlachten, bestens verwendbar." (Bayrisches Haupt-
staatsarchiv München 1996: 9). 12
12 Im Bayrischen Hauptstaatsarchiv sind 40.000 Plakate archiviert, davon 25.000 politische, die v.a.
auf die „Sammlung Rehse" zurückgehen.
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
219
Die Sprache der Plakate war nach über vier Jahren Weltkrieg, Revolution und
alltäglich gewordener blutiger Auseinandersetzung mit politischen Gegnern nicht
mehr dieselbe wie zuvor. „[Ajbgesehen vom agitatorischen Gestus, mit dem nach
1918 für neu entstandene Parteien und deren Ideen geworben wurde, erschienen
oft Schreckensbilder des politischen Gegners, gepaart mit Katastrophenvisionen.
Was bis dahin nur in der Karikatur und Pressezeichnung oder im Flugblatt möglich
gewesen war, zog nun in die Bildwelt des öffentlichen Anschlags ein: Verun-
glimpfung, Spott und Abschreckung; ebenso eine Ikonographie, die sich bestimm-
ter Stereotypen für Gut und Böse bediente." (Kühnel 2007: 142).
Abb. 3: Was will Spartakus?/K.P.D. (Spartakusbund), 1919.
Deutsches Historisches Museum Berlin.
220
Marc Hieronimus
Manfred Hagen ( 2 1984: 49) schreibt zur Bedeutung der Plakate, sie seien „Rufe auf
Papier" gewesen. „Was heute in der westlichen Welt meist kurz vor Wahlterminen
als Plakate von Parteien sichtbar wird, das sind nur blasse Nachkommen einer fast
ein Jahrhundert lang blühenden, äußerst mannigfaltigen und oft aussagestarken
Propagandaform." Wie schon das Berliner Sachplakat ist auch das politische Plakat
auf die Eigenheiten des Passanten der Großstadt zugeschnitten. „Sein Adressat ist
nicht der lesende, zuhörende, in Ruhe nachdenkende Mensch, der sich vorsätzlich
politischen Fragen widmet, sondern der unterwegs Befindliche, der zur Arbeit,
zum Einkauf oder zum Termin eilt. Dieses Vorübergehen nutzt das Plakat. Es soll
den Menschen, der sich mit dem intendierten Appell möglicherweise sonst nicht
befassen würde, mit optimal platzierten und großformatigen Aufrufen gleichsam
im Flug ansprechen, die nur einige Schritte währende Aufmerksamkeitsspanne
maximal nutzen und schnellstens eine ,Botschaft' vermitteln. [...] Die Notwendig-
keit, einen möglichst komprimierten Appell auszusenden, hat in diesem Sinn,
massenpsychologische Meisterwerke hervorgebracht..." (ebd.). Vielleicht ist das
auch der Grund für die Armut so vieler heutiger (Groß-) Plakate; so sie nicht etwa
an Bahnhaltestellen angebracht sind, richten sie sich an Autofahrer, die nur noch
Bruchteile von Sekunden zur Betrachtung haben. Viel lässt sich in dieser Zeit nicht
vermitteln.
Alle während der Weimarer Zeit bedeutenden Parteien (von links nach rechts:
KPD, SPD, DDP, Zentrum, DVP, BVP, DNVP, NSDAP) nutzten auf ihren
Plakaten drastische Bilder und Sprüche. Ein Historiker hat 1939 in seiner Disser-
tation über Wesen und Bedeutung der Plakate in der „Kampfzeit" die „Gesetze
der publizistischen Massen- und Volksführung, zitiert und zusammengetragen
nach Ernst Dovifat und Adolf Hitler" zusammengetragen: 1. Humanität und
Schönheit können wegen des „herrschenden Existenzkampfes der Völker [...] nicht
als Maßstab für Propaganda Verwendung finden"; 2. Propaganda „hat sich ewig
nur an die Masse zu richten". Daraus folgen die Grundgesetze der geistigen Ver-
einfachung, der Stoffbeschränkung, der „hämmernden Wiederholung", der Subjek-
tivität, der gefühlsmäßigen Steigerung etc. (Medenbach 1941: 12-14). Die Bedeu-
tung des Plakats ist für ihn auch nach sechs Jahren Diktatur noch gegeben: Es sei
„eine der der zahlreichen Waffen, die heute der moderne Publizist zur geistigen
Formung und Führung der Massen und Völker einsetzt." Und anders als Film,
Zeitung oder Rundfunk sei es „zu jeder Zeit wirkungsbereit. Es kann jeden erfas-
sen, der auf die Straße hinausgeht, ob zur Arbeit oder zum Spaziergang nach Feier-
abend." (ebd: 1,3)."
3.2 Politische Plakate der Bundesrepublik
Nach dem zweiten Weltkrieg nehmen die politischen Plakate eine andere Gestalt
an; das Umdenken der „Stunde Null" war allerdings nicht ganz so radikal, wie man
13 Zu politischen Plakaten vgl.a. Brommer; Krümmel; Werner 2002.
Copyrighted material
Plakate im DaF-Unterricht
221
heute meinen mag: „Zwar hatte der Holocaust den biologischen Rassismus
weitgehend diskreditiert; ein kultureller Rassismus indes schimmerte weiterhin
durch, wenn Sowjetbürger als Menschen niederer Kultur, als verdreckt, gewalttätig
und eroberungssüchtig präsentiert wurden, und auch Reminiszenzen an den biolo-
gischen Rassismus erhielten sich in einzelnen Darstellungen [...]." (Paul 2008: 95).
In Erinnerung geblieben ist vor allem das CDU-Plakat von 1953.
Abb. 4: Ein „Klassiker" des politischen Plakats: CDU-Werbung von 1953.
Deutsches Historisches Museum Berlin.
222
Marc Hieronimus
„Wie kein anderes Bild transferiert das Plakat das bis dato figürlich angelegte
antikommunistische Feindbild in eine moderne zeitgenössische Bildsprache, indem
es dieses mit dem Bild einer strukturell-totalitären Bedrohung verkoppelt. Ähnlich
wie bei dem Foto vom Torhaus Au schwitz -Birkenau erzeugt das Plakat einen ener-
getischen Kraftraum, der sich sowohl aus der zentralperspektivischen Anordnung
seiner Bildelemente wie aus dem hypnotischen Blick des bolschewistischen Funk-
tionärs ergibt, der die mit dem Sowjetsystem assoziierten Überwachungs- und Be-
spitzelungsängste aktiviert." (Paul 2008: 90)
Die politischen Plakate wurden schon bald nach Gründung der Bundes-
republik nicht mehr aus dem Bauch heraus konzipiert: „Seit Beginn von Adenauers
Kanzlerschaft erforschte das Institut für Demoskopie in Allensbach im Auftrag
der Regierung fortlaufend die öffentliche Meinung über Adenauer; vor Wahlen
wurden diese Untersuchungen durch EMNID-Studien auf Kosten der CDU
ergänzt. Allensbach-Chef Peter Neumann gehörte auch bei der Bundestagswahl
von 1957 zu den wichtigsten Beratern, denn es galt, die Kanzlerdarstellung an die
Umfragen anzupassen. Im Herbst 1956 sprachen sich nur 34 Prozent der Befrag-
ten für eine erneute Wahl Adenauers aus, was gegen eine starke Personalisierung
des Wahlkampfes sprach. Nachdem jedoch seine Beliebtheit nach der Nieder-
schlagung des ungarischen Volksaufstands durch sowjetische Truppen in den inter-
nen Meinungsumfragen wieder steil anstieg, setzte die Wahlkampfleitung erneut
ganz auf den Kanzler. Deutlich negativ schlug in den Umfragen lediglich zu Buche,
dass Adenauer als zu alt angesehen wurde." (Bosch 2008: 196). Also wurde er für
das berühmte Plakat verjüngt.
Hubert Straufs Essener Agentur „Die Werbe", die das Plakat gestaltet hat,
zeichnete auch für den Coca-Cola-Spruch „Mach mal Pause" verantwortlich. „In
ihrer sprichwörtlichen Eingängigkeit wurden [die beiden Sprüche] zu den mentalen
Imperativen der spätem Adenauerzeit." (Gries; Ilgen; Schindelbeck 1995b: 94).
„Das ,Keine-Experimente'-Plakat zeichnet sich zudem durch eine Konzentration
auf das Wesentliche aus. Der Verzicht auf einen Hintergrund und die alleinige
Fokussierung auf Adenauers Kopf waren ebenso auffällig wie die prägnante Kürze
des Slogans. Dies korrespondierte mit Adenauers politischer Gabe, komplexe
Sachverhalte zu vereinfachen, zuzuspitzen oder verschmitzt schön zu färben. Das
Wahlplakat von 1957 war in gewisser Weise ein Ausdruck seiner pointierten Rhe-
torik, die etwa im gleichen Jahr die Aufstellung von Atomwaffen als weiter-
entwickelte Artillerie rechtfertigte." (Bosch 2008: 197). In seiner Einfachheit ist das
Plakat raffiniert gestaltet. „Die semantische Ähnlichkeit mit der Wahlkampfaussage
der Union aus dem Jahr 1986/87 ,Weiter so, Deutschland!' ist frappierend. ,Weiter
so Deutschland' aber entwickelte längst nicht jene dramaturgische Spannung, die
die Text-Bild-Komposition ,Keine Experimente' — auch aufgrund ihres histori-
schen Ortes — auszeichnete: Den aufrüttelnden Worten auf der einen Seite
antwortete das beruhigende Bildnis des Alten auf der anderen, ein in sich geschlos-
senes Zeichensystem, das zugleich Ansprache und Integration leistete. Noch waren
ja die Erinnerungen an Zusammenbruch und unmittelbare Nachkriegszeit in der
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
223
Bevölkerung wach, selbst bei den damals jüngsten Wählern, den Einundzwanzig-
jährigen. Verglichen mit jener Zeit mußten die Zustände nun, im Jahr 1957, als
geradezu paradiesisch empfunden werden. Nur vor dem mentalen Hintergrund
dieses Kontrastes ist es zu verstehen, warum eine Ex-negativo-Formulierung als
die positivste aller Möglichkeiten verstanden werden mußte. Der Gestus, mit dem
,Keine Experimente' auftrat, scheint zudem in sich etwas von der Würde, Qualität
und Festigkeit eines kategorischen Imperativs zu enthalten." (Gries; Ilgen; Schin-
delbeck 1995b: 103).
Die Gestaltung von Wahlplakaten erscheint heute weitgehend uniformiert.
Meist wird mit dem Konterfei eines Politikers geworben, der Schriftanteil ist auf
wenige Wörter beschränkt. Das ist auch bei den Grünen nicht anders; ihr zunächst
„alternativer", farbenfroher Bildcode hat sich mit den Jahren zu einem eher post-
modernen entwickelt. „Während die alternative ,Öko-Ästhetik' der Ursprungs-
wähler sich dadurch auszeichnete, dass man der ,kalten Modernisierung' mit orga-
nischer Buntheit und mit authentischer Individualität begegnete, war der post-
moderne Code der ,No-future'-Generation in den 1980er Jahren von pessimis-
tischer Abgeklärtheit gekennzeichnet." (Fahlenbrach 2008: 480). Nur die Plakate,
die zur Direktwahl des Berliner Bundestagskandidaten Christian Ströbele aufrufen,
haben sich einen eigenen Stil bewahrt. „Die Kreuzberger Wähler werden hier als
Mitglieder einer fröhlich rebellierenden, aber auch pluralistischen Alternativkultur
angesprochen, in der Jung und Alt, Christen und Moslems, schwarzhäutige und
weißhäutige Menschen friedfertig für gemeinsame Werte eintreten. An ihrer Spitze
steht Ströbele, dessen sozialpolitisches Programm für mehr Gerechtigkeit auf
einem Wahlplakat im Plakat verkündet wird: ,Sozial gerecht ist nicht zu teuer mit
Ströbeles Vermögenssteuer!' und: ,Prenzel-, Kreuzberg, Friedrichshain wählen sich
den Christian rein'. Auch der gereimte Duktus dieser Slogans zitiert die Agit-Prop-
Ästhetik der linken Protestkultur. Sowohl in der Ästhetik als auch mit den prokla-
mierten Werten und Zielen spricht Seyfrieds Plakat also u.a. jene Stammwähler an,
die sich nicht nur mit der Politik, sondern auch mit der alternativen Kultur identi-
fizieren, für die die Grünen politisch und symbolisch seit den 1980er Jahren stehen
— wenn auch mit Anpassungen an postmoderne und andere Werteentwicklungen"
(ebd.: 481). Jedes politische Plakat spricht auch von seiner Entstehungszeit: das
SPD-Plakat von 1949 - „Mit der SPD von Bonn über Berlin für ein freies, soziales
und geeintes Deutschland", und zwar in den Grenzen von 1937; das SED-Plakat
von 1950 mit Marx, Engels, Lenin und (noch!) Stalin im Hintergrund; oder, und
das leitet zum „kritischen" Teil über, das Antiplakat der Piratenpartei mit dem
Slogan: „Vertrau keinem Plakat. Informier dich."
4 Analyse, Kritik und Protest
Die Kritik der Werbung in Plakat- oder anderer Form hat eine lange Tradition.
Bereits vor dem ersten Weltkrieg wurde sie vereinzelt als „Zeichen des amerika-
Copyrighted malerial
224
Marc Hieronimus
nischen Kapitalismus" oder gar „jüdischer Erwerbsgier" verschrien, und Preußen
hat 1902 und 1907 Gesetze gegen die „Verunstaltung von Ortschaften und land-
schaftlich hervorragender Gegenden" verabschiedet (Lamberty 2000: 477-490).
Erst in jüngerer Zeit aber wird Werbung als Transportmittel einer Ideologie
verstanden. Im ersten Band seines großen, zwischen 1938 und 1947 entstandenen
Werkes „Das Prinzip Hoffnung" versteht Ernst Bloch die Werbung in Schau-
fenstern und auf Plakaten noch recht unkritisch als „Leimruten für die angelockten
Traumvögel." „Die Reklame macht aus der Ware, auch aus der beiläufigsten, einen
Zauber, worin alles und jedes gelöst ist, wenn man sie nur kauft. Die Dame der
Zeichnung, die Kölnisch Wasser auf die Schläfen tupft, die von Herren eine
Schweizer Schokolade entgegennimmt, ist eben dadurch die Glücklichgewordene
schlechthin." (Bloch 1985: 400). Etwa zur gleichen Zeit notierte Theodor W.
Adorno in den „Minima Moralia":
„Welch einen Zustand muß das herrschende Bewußtsein erreicht haben, daß
die dezidierte Proklamation von Verschwendungssucht und Champagnerfröh-
lichkeit, wie sie früher den Attaches in ungarischen Operetten vorbehalten war,
mit tierischem Ernst zur Maxime richtigen Lebens erhoben wird. Das verord-
nete Glück sieht denn auch danach aus [...]. Die Ermahnung zur happiness, in
der der wissenschaftlich lebemännische Sanatoriumsdirektor mit den nervösen
Propagandachefs der Vergnügungsindustrie übereinstimmt, trägt die Züge des
wütenden Vaters, der die Kinder anbrüllt, weil sie nicht jubelnd die Treppe
hinunterstürzen, wenn er mißlaunisch aus dem Geschäft nach Hause kommt.
Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das
sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der
Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in
Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die
Schmerzensschreie nicht. Das ist das Schema der ungestörten Genußfähigkeit.
Triumphierend darf die Psychoanalyse dem, der es beim Namen nennt, bestä-
tigen, er habe halt einen Ödipuskomplex."
Er empfiehlt eine kathartische Methode, um „die Menschen zum Bewußtsein des
Unglücks, des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen, zu bringen [...]"
(Adorno 2003: 69f). 14
Sein Kollege Herbert Marcuse ging zwei Jahrzehnte später, als Adornos Schriften
von einer neuen medienkritischen Generation wiederentdeckt wurden, so weit zu
sagen, „die bloße Abwesenheit aller Reklame und aller schulenden Informations-
und Unterhaltungsmedien würde das Individuum in eine traumatische Leere stür-
zen, in der es die Chance hätte, sich zu wundern, nachzudenken, sich (oder viel-
mehr seine Negativität) und seine Gesellschaft zu erkennen. Seiner falschen Väter,
14 Der zitierte Teil der Minima Moralia entstand 1944, das gesamte Werk wurde 1951 veröffentlicht.
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
225
Führer, Freunde und Vertreter beraubt, hätte es wieder sein ABC zu lernen. Aber
die Wörter und Sätze, die es bilden würde, könnten völlig anders ausfallen, ebenso
seine Wünsche und Ängste." [...] Mehr noch: „Das Nicht-Funktionieren des Fern-
sehens und verwandter Medien" könnte „den Zerfall des Systems" erreichen.
(Marcuse 1967: 256f.) 15
Ein politisch weniger radikaler, dafür umso auflagenstärkerer Klassiker der
Werbekritik stammt aus den 1950er Jahren. Vance Packard (1962) 16 dokumentiert
in seinem Bestseller über die „Geheimen Verführer" die Anfänge der angewandten
Werbepsychologie mit Befragungen und Motivanalysen, wie sie zur gleichen Zeit
auch in der Politik begannen, Anwendung zu finden. Seine Beispiele betreffen etwa
die (vermeindich) sexuellen Konnotationen des Rauchens und des Milchkonsums,
oder er deckt die heute weitgehend bekannten (wenn auch immer wieder verdräng-
ten) Kaufmotivationen auf: Statt Autos, Schuhen, Apfelmus usw. kaufen wir
Liebes- und Prestigeobjekte bzw. Gefühle und Sehnsüchte wie Verwurzelung, Un-
sterblichkeit, Anerkennung und andere. Auch dass Werbung den Bedarf erst
schafft, den die immer neuen Produkte dann decken, dass sie bewusst auf Kinder
abzielt, Impulskäufe erregt usw. ist heute einerseits so normal, dass es niemand
mehr sieht oder für erwähnenswert hält, andererseits ist auch das Publikum klüger
geworden; der Abstumpfung gegen die Werbung wird also mit mehr Werbung be-
gegnet. 17
Neben der amerikanischen und der „Frankfurter" Richtung gibt es eine facet-
tenreiche französische Tradition der Werbekritik. Spätestens seit Roland Barthes'
„Mythen des Alltags" werden die Werbung und die Dinge, für die sie wirbt, als
gewichtige und kunstvolle Bedeutungs träger verstanden (Barthes 1957). 18 In den
(auch) konsum- und medienkritischen 1960er Jahren haben die Situationisten, be-
sonders Guy Debord, den „Spektakek'-Charakter der Werbung und ihre Bedeu-
tung für das weitgehend reibungslose Funktionieren der kapitalistischen Gesell-
schaften deudich gemacht (Debord 1967, Baudrillard 1970, Debord 1988).
Seit den 1980er Jahren hat unter anderem Francois Brune in zahlreichen
Analysen sprachliche und inhaltliche Einflüsse der omnipräsenten Werbung im
medialen Alltag aufgedeckt, nicht zuletzt in der Politik (Brune 1985; 1996, 2004;
Offensive 2010: 85-93). Für ihn ist Werbung das neue Gesicht des Totalitarismus,
indem sie nach völliger Durchdringung jedes Bürgers strebt, ihm Werte und Vor-
stellungen von Normalität vermittelt, zwischen Besitzern/ Angehörigen und
15 Das Original erschien 1964.
16 Das Original erschien 1957.
17 Schon Aldous Huxley (1958) kritisiert, Packards Entdeckungen (die sexuellen Konnotationen des
Rauchens und andere (tiefen)psychologische Erkenntnisse, die die Werbeindustrie zur Förderung des
Verkaufs anwendet) seien doch lange bekannt. Zu möglichen „Instinkten" hinter unseren Kaufent-
scheidungen vgl. Miller 2010.
18 Die deutsche Ausgabe ist 1964 erschienen. Vgl. auch die anlässlich des 50. Jubiläums erschienene
Sammlung neuer Mythen (Garcin 2007).
Copyrighted malerial
226
Marc Hieronimus
Besitzlosen bzw. Dissidenten teilt, um zu herrschen. 19 Andere Werbegegner werfen
ihr neben Umweltzerstörung und allgemeiner Verschandelung der Landschaft auch
die Unterminierung der Demokratie, die Unterwerfung der Presse und nicht zu-
letzt die Zerstörung kultureller Traditionen vor. 20 Und die Entscheider/innen in
den Machtpositionen sind sich der Bedeutung und Wirkmechanismen der Wer-
bung durchaus nicht ganz unbewusst. Patrick Lelay, ehemals Chef des privati-
sierten französischen Fernsehsenders TF1, hat es für sein Medium in einem
unbedachten Moment auf die griffige Formel gebracht, der Auftrag des Fernsehens
sei es, die Gehirne für Coca-Cola empfänglich zu machen. 21 Trotzdem ist Werbe-
kritik medial nicht präsent, sind die Medien, auch die öffentlich-rechtlichen, doch
zu einem wesentlichen Teil durch Werbung finanziert.
Man muss sich die Ausmaße des Phänomens Werbung einmal verdeutlichen:
die Einwohner industrialisierter Gesellschaften empfangen heute täglich min-
destens 1.500 größtenteils unbewusst wahrgenommene Werbebotschaften, etwa
350.000 in der Kindheit, und Millionen über das Leben verteilt (Ramonet 2000:
38). Ein Informations- und Aktionshandbuch aus dem besonders betroffenen
Nachbarland Frankreich setzt die Tagesdosis sogar doppelt so hoch an und fragt:
„Ist es möglich, dass das völlig harmlos für uns ist?" (Les Desobeissants 2009: 8).
In Frankreich gibt es mehr als eine Million Werbetafeln, davon ist ein Drittel il-
legal. Jedes Jahr landen 35 Kilo Werbeprospekte im Briefkasten. Die Kosten betra-
gen dreißig Milliarden Euro, das bedeutet 500 Euro pro Einwohner, die Kinder
eingerechnet. In einer Umfrage aus dem Jahre 2007 sprachen sich 30% der Fran-
zosen gegen die Werbung aus, die Hälfte fand sie gefährlich, und 58% aggressiv.
Trotzdem gibt es mit Forcalquier nur ein einziges werbefreies Dorf im Nach-
barland (Les Desobeissants 2009: 28) — leuchtendes Beispiel für die Werbegegner
ist die seit 1.1.2007 werbefreie 1 1 -Millionen-Metropole Sao Paulo.
Werbekritik muss nicht Totalablehnung sein, sondern kann sich auch als eine
Art feuilletonistische Kulturkritik verstehen. Ein erster Schritt ist in jedem Fall die
genaue Lektüre. Eine berühmtes, auch als Zeitungsanzeige erschienenes Plakat mit
dem früheren Staatschef Michail Gorbatschow etwa zeigt dem aufmerksamen
Betrachter einige Ungereimtheiten: Der jetztzeitliche „Gorbi" sitzt in einem ZIL-
19 Ulrich Eicke hat in diesem Zusammenhang schon vor zwanzig Jahren von einem „Angriff auf
unser Bewusstsein" und dem „Ausverkauf der Politik" gesprochen (Eicke 1991, v.a. 208-226). Seither
ist der Ton der Kritik beißender geworden.
20 Zu aktueller ökologischer, sozialer, psychologischer, ethischer Werbekritik, -karikatur und -parodie
vgl. das kanadische englischsprachige Magazin „Adbusters", das Jahresheft der französischen Organi-
sation „Casseurs de pub" sowie die an sie angeschlossene Monatszeitung „La decroissance le journal
de la joie de vivre", die auch aktuelle Entwicklungen beobachtet und einschlägige Literatur rezensiert,
sowie im WWW die Seiten casseursdepub.org, ladecroissace.net, deboulonneurs.org, paysagesde-
france.org, antipub.org.
21 Das Zitat im Wordaut: „Le metier de TF1, c'est d'aider Coca-Cola, par exemple, ä vendre son
produit (...). Pour qu'un message publicitaire soit per^u, il faut que le cerveau du telespectateur soit
disponible. Nos emissions ont pour vocation de le rendre disponible: c'est-ä-dire de le divertir, de le
detendre pour le preparer entre deux messages. Ce que nous vendons ä Coca-Cola, c'est du temps de
cerveau humain disponible." Zitiert nach: Les Desobeissants 2009: 4.
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
227
41047, einer russischen Staatskarosse aus der Zeit der Perestroika, ist allein, wirkt
deprimiert. Er fährt die Mauer ab, oder was von ihr noch steht. Sehnt er sich in die
1980er Jahre zurück? Aus seiner Louis-Vuitton-Tasche, für die das Plakat wirbt,
schaut ein Buch über den ehemaligen KGB-Agenten Litvinenko, der 2006 nach
einigen unbequemen Recherchen an einer Pollonium-Vergiftung starb. Gorbat-
schow hat zu diesem Detail geäußert, er habe nicht gewusst, was in der Tasche
stecke. (Oeil-de-Boeuf 2010: 62-67). 22 Beispiele von sexistischer, infantilisierender
oder einfach nur „schlecht gemachter" Werbung lassen sich angesichts der Omni-
präsenz der Plakatwände leicht finden, auch ist es lohnend, sich mit der Arbeit des
deutschen Werberats und anderer selbstregulierender Institutionen zu beschäf-
tigen. 23
5 Protestplakate
Der bekannteste deutsche Protestplakatkünsder ist ohne Zweifel Klaus Staeck, der
sich seit nunmehr vierzig Jahren wie kein anderer mit der Kunstform befasst. 24
Protestplakate stellen gewissermaßen die Synthese zwischen politischem bzw.
Wirtschaftswerbeplakat und der Kritik an ihr dar; der Übergang zum engagierten
Kunstplakat ist dabei fließend: „Die Frage, ob die Plakate denn nun Kunst oder
Politik seien, wird bis heute gestellt. Dieses für Menschen aus dem politischen
Raum eher belanglose Problem beschäftigt vor allem den Kunstbetrieb und sein
weitgehend an traditionellen Kunstauffassungen orientiertes Publikum, das den
Kunstraum gern von jeder politischen Einflussnahme freihalten möchte. Dabei
sind meine Arbeiten stets sowohl Kunst als auch Politik: eine ständige Grat-
wanderung, ein Versuch politisch-gesellschaftlicher Meinungsäußerung mit künst-
lerischen Mitteln, ohne der Diktatur des Ästhetischen unterworfen zu werden."
(Staeck 2008: 111). Energisch vertritt er die Rolle der Kunst. „Dabei geht es nicht
um eine Kunst im Sinne politischer Ergebenheitsbekundungen oder einklagbarer
Sozialhilfe, eher um Herausforderung, Reflexion, um ein Korrektiv, immer aber
um Teilhabe, nicht um eigennützige Verweigerung. [...] Kunst als Vorausschau, als
Warnung, gar als Vision, als Utopie. Was ist aus diesem Anspruch geworden, wo-
her kommt der Hochmut, mit dem manch einer heute verächtlich auf die Politik
herabschaut? Gegenwärtig hat die herrschende Politik von Seiten der Kunst nichts
Ernsthaftes zu befürchten [...]." (ebd.: 133).
22 Die französische Wochenzeitung „Charlie Hebdo" hat eine werbekritische Rubrik; auch die ein-
gangs erwähnten Plakatsatiren der deutschen Zeitschrift „Titanic" lassen sich als Werbekritiken lesen.
23 Vgl. für Deutschland: www.werberat.de; für Großbritannien: www.asa.org.uk (Seite der Advertising
Standards Authority); für Frankreich: www.arpp-pub.de (Seite der autorite de regulation profes-
sionelle de la publicite).
24 Ernst Volland hat eine Zeitlang ähnliche Plakate geschaffen, sich dann aber anderen Medien wie
Karikatur, Comic, Film und historischer Fotografie zugewandt.
Copyrighted malerial
228
Marc Hieronimus
Abb. 5: Das erste Staeck-Plakat (1972).
Weil öffentliche Plakate nicht von jener „künstlichen Aura" der musealen oder in
Galerien ausgestellten Kunst umgeben seien, beschäftigten sich die Betrachter sehr
viel stärker mit dem Inhalt. So will Staeck „Denkanstöße geben, Unbequemes zur
Sprache bringen, Vorurteile erschüttern, die Kritikfähigkeit möglichst vieler Men-
schen schärfen. [...] Meine Arbeiten dienen der Aufklärung. [...] Es geht um ein
neues kritisches Sehen. Mit Bildern kann man dazu beitragen. Es wäre sinnlos, alle
psychologisch ausgeklügelten Bilderlügen etwa in der Werbung einzeln widerlegen
zu wollen. Es genügt, einmal gelernt zu haben, den Bildern zu mistrauen, sie mit
anderen Augen zu sehen, hinter die Bilder zu blicken." (ebd.: 117; 1 18f).
Plakate im DaF-Unterricht
229
Staecks Vorbilder sind John Heartfield und George Grosz, deren Montage-
technik er weiterentwickelt. Seine scharfe Satire wird nicht von jedem verstanden.
„So wurde 1972 das Plakat ,Die Reichen müssen noch reicher werden. Deshalb
CDU' gleich mehrfach juristisch verfolgt, weil viele Mitglieder und Anhänger der
Union glaubten, das Motiv stamme tatsächlich von der Partei. Die CDU fühlte sich
verpflichtet, ihr Klientel zu schützen und es vor einem folgenschweren Irrtum zu
bewahren. Als besonders erfolgreich hat sich die Verwendung fiktiver Bekannt-
machungen, Amtsbezeichnungen, Wappen und Siegel erwiesen." (ebd: 113).
Insgesamt wurden einundvierzig Prozesse gegen ihn geführt, doch er hat alle ge-
wonnen: „Die Hoffnung auf ein Verbot scheint allemal größer als das Vertrauen
auf die Stärke der eigenen Argumente." (ebd.: 121) Uber eine eigene Druckerei, die
er mit seinem Bruder und einem Freund betreibt, bewahrt er sich die größt-
mögliche Unabhängigkeit. 25
Im Zusammenhang von Werbekritik und Protestplakaten bleiben noch die
Aktionen nicht-kommerzieller Nichtregierungsorganisationen zu erwähnen - die
doppelte Verneinung zeigt schon an, dass sie eher die Ausnahme als die Regel sind.
Vor allem die Tierschutzorganisation PETA sorgt regelmäßig mit ihren Plakat-
aktionen für Aufsehen. In Deutschland treten u.a. Thomas D., Bill und Tom
Kaulitz oder Bela B. und Franka Potente für Vegetarismus und gegen das Tragen
von Pelzen ein. 26 Anders (vielleicht) als etwa bei WWF oder Unicef, deren Werbe-
kooperationen u.a. mit Erdölkonzernen als „Greenwashing" kritisiert werden,
greifen die Plakate dieser Tierschutzorganisation sehr viel tiefer. Hier geht es nicht
um Kaufentscheidungen zwischen A und B, auch nicht um Spendenmittel-
werbung, sondern um einen tief greifenden Bewusstseinswandel; als Verzichtaufruf
und Konsumkritik verstanden sind die Plakate sogar potentiell systemgefährdend. 27
6 Anwendungen
Folgendes sollte klar geworden sein:
1. Plakate sind ein eigenständiges visuelles Medium der Beeinflussung.
2. So ist es nach der Werbe-Formulierung Hanns Buchlis (1962: 64) ihr Ziel,
die Menschen zu veranlassen, etwas freiwillig zu tun - zweckfreie Kunst- oder
Dekorationsplakate sind im öffentlichen Raum ausgesprochen selten, und Infor-
mationen werden gemalt („Plakate ankleben verboten") oder in Form von
Schildern vermittelt.
25 Vgl. auch www.staeck.de und die heute nur noch antiquarisch zu erstehenden so genannten
„Staeckbriefe".
26 Vgl. www.peta.de, www.peta.org.
27 PETA ist die bekannteste unter den wenigen Nichtregierungsorganisationen, die überhaupt Plakat-
werbung betreiben; die meisten anderen, nicht wenige von ihnen kirchlich, werben vor Weihnachten
um Spenden.
Copyrighted malerial
230
Marc Hieronimus
3. Kunst-, ereignis- und v.a. mentalitäts- und alltagsgeschichtlich sind Plakate
historische Quellen allererster Güte. Uberall, wo deutsche Geschichte seit etwa der
Thronbesteigung Wilhelms II. vermittelt wird, können und sollten Plakate eine
Rolle spielen, also auch im Landeskundeunterricht.
4. Das politische ist aus dem Werbeplakat hervorgegangen; beide stützen sich
weitgehend auf die gleichen Ausdrucksweisen und „Macher". Eine wichtige Aus-
nahme stellen die Protestplakate Klaus Staecks und einiger Nichtregierungsorga-
nisationen dar, die Großkonzerne, Korruption und/oder die Konsumgewohn-
heiten der Gesellschaft anprangern und ein Umdenken erzwingen wollen.
5. Kritiker bezeichnen (Plakat)Werbung als hässlich, sexistisch, umwelt-
feindlich, systemerhaltend, totalitär u.v.m, mit unterschiedlichen Schwerpunkten je
nach intellektueller Herkunft. Es bleibt festzuhalten, dass ohne ein generelles
Verbot offenbar nur überlebt, wer klebt: Firmen und Organisationen, die keine
Werbung betreiben, haben es schwer, gegen die Omnipräsenz der großen Spieler
anzukommen; das gilt selbst für wohltätige oder „wohlmeinende" Organisationen.
Für den Einsatz von Plakaten im DaF-Unterricht lassen sich alle pädago-
gischen, lernpsychologischen und landeskundlichen Argumente geltend machen,
die generell für den Einsatz von Bildern sprechen, 28 darüber hinaus aber weitere
medienspezifische, indem sie über die fast immer Aufmerksamkeit heischenden,
oft darüber hinaus auch tief greifenden, interpretationsfreudigen Bilder hinaus
auch Text bieten.
Die thematischen Anwendungen liegen wohl auf der Hand. Zahllose Aspekte der
deutschen Geschichte von der Kaiserzeit bis heute lassen sich mit Werbe- und (ab
1916) politischen Plakaten illustrieren und dokumentieren. Das gilt für die
Ereignisgeschichte, vor allem aber für oft nur schwer oder wenig unterhaltsam zu
unterfütternde Themen wie Wirtschaftsentwicklung, Handel, Technik, die den
Hauptgegenstand viele spezialisierter Kurse darstellen; um das Thema Werbekritik
herum lassen sich politische und philosophische Diskussionen führen: Die
Gedankenwelt der Frankfurter Schule und der Situationistischen Internationale
etwa ist nur vor dem Hintergrund der Geistes-, und das heißt auch: Konsum- und
Werbewelt der Weimarer bzw. Vierten und jungen Fünften Republik zu verstehen;
Bildanalyse und -kritik sollten, wie oben zitiert, einmal ein Teil eines eigenen
Unterrichtsfachs werden, man könnte also eine entsprechende Unterrichtsreihe als
eine Art zivilbürgerliche Aufklärung im visuellen Zeitalter verstehen: Lehrkraft und
Lernende würden gemeinsam die Sprache der Bilder lesen lernen... die Beispiele
sind Legion.
Wichtig ist, zu verstehen, das Plakate auch im engeren Sinne sprachdidaktisch
zum Einsatz kommen können, und zwar von der „Stunde Null" an. Ein paar
Anregungen:
28 Vgl. u.a. Bücken 1985, Lieskounig 1988, Kaminski 1990, Scherling; Schuckall 1992, Macaire; Hosch
1999, Biechele 2004.
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
231
Man werfe ein möglichst buntes Plakat an die Wand (bzw. teile Kopien aus)
und schreibe die deutschen Farbbezeichnungen in der unflektierten Form an die
Tafel. Jeder Lerner mit Englischkenntnissen wird sie zuordnen können. Etwas
später nutze man das gleiche Plakat bzw. Handout für die Genera und die
Adjektivdeklination. Wenn es gut gewählt ist, lassen sich darüber hinaus einige
Substantive erlernen und vielleicht auch Details zur Entstehungszeit klären.
Imperative werden in Lehrwerken des Öfteren mit Werbung in Verbindung
gebracht; 29 warum nicht authentische Werbe- und Politslogans verwenden: „Mach
mal Pause", „Pack den Tiger in den Tank", „Wählt kommunistisch", „Schützt
Bayern" o.ä., um so zugleich etwas Landes- bzw. Regionalgeschichte zu vermitteln?
Lektionen zu Lokaladverbien und Wechselpräpositionen werden in aller Regel
illustriert. Auch hier gilt: warum nicht Plakate oder andere historische Quellen
nutzen, wie auch bei Vokabelübungen, etwa zu Adjektiven oder Alltagsgegen-
ständen?
Mit Werbeplakaten lässt sich auch Umgangssprache vermitteln. So warb
Mercedes-Benz vor einigen Jahren für die Taxibranche mit den Worten: „Bisschen
breit? Kein Problem: Wir haben Platz" und „Gerade hinstellen, Hand raushalten —
fertig ist die Haltestelle." (Art Directors Club für Deutschland 1998: keine
Seitenangabe). An Wortschöpfungsbeispielen wie „unkaputtbar" oder „Nogger dir
einen" lassen sich selbst morphologische bzw. morphosyntaktische Eigenheiten
des Deutschen erklären. 30
Plakate sind auch hervorragende Sprechanlässe („was sehen Sie, für welches
Produkt/welche Partei wirbt dieses Bild, aus welcher Zeit stammt das Plakat"
etc.). 31 Wahrscheinlich ist jedes bedeutendere sprachliche Phänomen auch über
Plakate zu verdeutlichen. Am besten aber kombiniert man den reinen Sprach-
unterricht mit dem inhaldichen (d.h. landeskundlich-geschichtlichen, aber auch
technischen, wirtschaftlichen etc.): Warum nicht einmal Produktwerbungen aus
verschiedenen Jahrzehnten in die richtige Reihenfolge bringen lassen (die Lösung
ist zu begründen), Fachvokabular über Werbeplakate vermitteln und gleichzeitig,
wie im Fiat-Beispiel oben, landeskundliche oder andere relevante Aspekte ins Spiel
bringen? Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Und: Anders als früher sind heute
zahllose Plakate im Internet abrufbar und daher auch sofort einsatzbereit. Not-
wendig für die Suche ist allerdings eine gewisse Vorbildung über Künstler, Parteien
und dergleichen mehr, die zu vermitteln das bescheidene Ziel des vorliegenden
Beitrags war.
29 Etwa in „Tangram" (Alke; Dallapiazza; Jan; Maenner 1998).
30 Der „Witz" bei „unkaputtbar" ist freilich der Verstoß gegen die Regel. Ein anderes Beispiel ist
„Hier werden Sie geholfen", das man als falsches Beispiel für das unpersönliche Passiv verwenden
kann.
31 Zur Arbeit mit Plakaten im DaF-Unterricht: Laveau; Nicolas; Sprenger 1988; Werbung im DaF-
Unterricht: Macaire; Hosch 1999: 138-148.
Copyrighted malerial
232
Marc Hieronimus
Literatur
Adhoc-Gruppe Visuelle Kommunikation (1971): Visuelle Kommunikation —
Zur gesellschaftlichen Begründung eines neuen Unterrichtsfaches. In: Ehmer,
Hermann K. (Hrsg.): Visuelle Kommunikation. Beiträge ^ur Kritik der Bewußt-
seinsindustrie. Köln: DuMont Schauberg, 367-373.
Adorno, Theodow W. (2003): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.
Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Alke, Ina; Dallapiazza, Rosa-Maria; Jan, Eduard von; Maenner, Dieter (1998):
Tangram. Deutsch als Fremdsprache 1A. Ismaning: Max Hueber Verlag.
Arnold, Friedrich (1977): Anschläge. Politische Plakate in Deutschland 1900-1970.
Ebenhausen bei München: Langewiesche-Brandt.
Art Directors Club für Deutschland (1998): Jahrbuch 1998. Frankfurt/Main:
Art-Directors - Club-Verlag.
Barthes, Roland (1957): Mjthologies. Paris: Seuil.
Baudrillard, Jean (1970): Ea societe de consommation. Paris: Editions Denoel.
Bayrisches Hauptstaatsarchiv München (1996): Plakate als Spiegel der politischen Par-
teien in der Weimarer Republik. München: Ausstellungskataloge der Staatlichen
Archive Bayerns Nr. 36.
Biechele, Barbara (2004): Lernen mit Bildern im Fremdsprachenunterricht: kog-
nitiv-konstruktivistisch und interkulturell. Anmerkungen zu aktuellen Para-
digmen. In: Meiji University International Exchange Programs Guest Eecture Series 3,
1-38.
Bloch, Ernst (1985): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Bosch, Frank (2008): „Keine Experimente". Adenauer als alternder Staatsmann. In:
Paul, Gerhard (Hrsg.) (2008): Das Jahrhundert der Bilder. Band 2: 1949 bis heute.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1 94-201 .
Brommer, Peter; Krümmel, Achim; Werner, Wolfram (2002): Geschichte plakativ.
Das 20. Jahrhundert am Mittelrhein in Plakaten und Plugblättern. Koblenz: Görres.
Bücken, Hajo (Hrsg.) (1985): Bilderund was man damit machen kann. Offenbach:
Burckhardthaus-Laetare.
Brune, Francois (1985): Ee bonheur conforme. Essai sur la normalisation publicitaire. Paris:
Gallimard.
Brune, Francois (1996): „Les medias pensent comme moil" Fragments du discours anonyme.
Paris/Montreal: L'Harmattan.
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
233
Brune, Francois, (2004): De l'ideologie, aujourd'hui. Analyses, parfois desobligeantes, du
„discours" mediatico-publicitaire. Paris: Parangon.
Buchli, Hanns (1962): 6000 Jahre Werbung. Geschichte der Wirtschaftswerbung und der
Propaganda. Band 1 : Altertum und Mittelalter. Berlin: de Gruyter.
Buchli, Hanns (1966): 6000 Jahre Werbung. Geschichte der Wirtschaftswerbung und der
Propaganda. Band 3: Das Zeitalter der Revolutionen. Berlin: de Gruyter.
Debord, Guy (1970): La societe du spectacle. Paris: Editions Buchet-Chastel.
Debord, Guy (1988): Commentaires sur la societe du spectacle. Paris: Gallimard.
Döring, Jürgen (2008): Die blutige Uniform. Oliviero Toscani und die „Benetton-
Plakate". In: Paul, Gerhard (Hrsg.) (2008), 629-637.
Eicke, Ulrich (1991): Die Werbelawine. Angriff auf unser Bewußtsein. München:
Knesebeck & Schuler.
Fahlenbrach, Katrin (2008): Die Grünen. Neue Farbenlehre der Politik. In: Paul,
Gerhard (Hrsg.) (2008), 474-481.
Garcin, Jerome (Hrsg.) (2007): Nouvelles mjthologies. Paris: Seuil.
Gries, Rainer; Ilgen, Volker; Schindelbeck, Dirk (1995a): Einleitung. Kursorische
Überlegungen zu einer Werbegeschichte als Mentalitätsgeschichte. In: Dies.
(Hrsg.) (1995), „Ins Gehirn der Masse kriechen!" Werbung und Mentalitätsgeschichte.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 1-28.
Gries, Rainer; Ilgen, Volker; Schindelbeck, Dirk (1995b): Magische Formeln.
„Mach mal Pause" ? „Keine Experimente!". Zeitgeschichte im Werbeslogan.
In: Dies. (Hrsg.) (1995), 92-105.
Grohnert, Rene (2007): „Unsere Epoche ist die Plakatischste!"? Das deutsche
Plakat vor 1914. In: Ders. (Hrsg.) (2007): Ein Leben nach den Kleben.
ZEITZEIGER. Plakate aus %wei Jahrhunderten. Essen/Mainz: Verlag Hermann
Schmidt, 76-79.
Hagen, Manfred ( 2 1984): Werbung und Angriff - Politische Plakate im Wandel
von hundert Jahren. In: Bohrmann, Hans (Hrsg.): Politische Plakate. Dortmund:
Harenberg, 49-70.
Hartwig, Helmut (1971): Visuelle Kommunikation. Methodologische Bemer-
kungen zur Ableitung von Lernzielen aus dem sozialen Bereich „Freie Zeit".
In: Ehmer, Hermann K. (Hrsg.) (1971), 334-339.
Haubl, Rolf (1992): „Früher oder später kriegen wir euch". In: Hartmann, Hans A.;
Haubl, Rolf (Hrsg.) : Bilde flut und Sprachmagie. Fallstudien %ur Kultur der Werbung.
Opladen: Westdeutscher Verlag, 9-32.
Copyrighted malerial
234
Marc Hieronimus
Huber, Kurt (1990): Image. Global-Image, Corporate-lmage, Marken-Image, Produkt-Image.
Landsberg/Lech: Verlag Moderne Industrie.
Huxley, Aldous (1958): Brave New World Revisited. New York: Harper & Row.
Ingenkamp, Konstantin (1996): Werbung Gesellschaft. Hintergründe und Kritik der
Kulturwissenschaftlichen Reflexion von Werbung. Frankfurt/Main: Peter Lang.
Kaminski, Diethelm (1990): Lernideen mit Bildern. Ismaning: Verlag für Deutsch.
Kühnel, Anita (2007): Zwischen Innovation und Profes sionalisierung. Plakate der
1920er und -30er Jahre. In: Grohnert, Rene (Hrsg.) (2007), 142-145.
Lamberty, Christiane (2000): Reklame in Deutschland 1890-1914. Wahrnehmung,
Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung. Berlin: Duncker & Humboldt.
Laveau, Inge; Nicolas, Gerd; Sprenger, Margret (1988): Bild als Sprechanlaß.
Werbeanzeigen. München: Goethe Institut.
Les Desobeissants (2009): De'sobe'ird la Pub. Le Pre-Saint-Gervais: Le passager
clandestin.
Macaire, Dominique; Hosch, Wolfram (1999): Bilder in der Landeskunde. Berlin u.a.:
Langenscheidt.
Lieskounig, Juergen (1988): Durch Bilder zur Sprache? — Überlegungen zur Pro-
blematik visueller Mittel in Lehrwerken Deutsch als Fremdsprache. In:
Zielsprache Deutsch 9, 2-8.
Malhotra, Ruth (1984): Künstler und politisches Plakat. In: Bohrmann, Hans
(Hrsg.) (1984), 11-48.
Marcuse, Herbert (1967): Der eindimensionale Mensch. Studien %ur Ideologie der fort-
geschrittenen Industriegesellschaft. Neuwied und Berlin: Luchterhand.
Medebach, Friedrich (1941): Das Kampfplakat. Aufgabe, Wesen und Gesetzmäßigkeit des
politischen Plakats, nachgewiesen an den Plakaten der Kampfjahre von 1 91 8-1 933.
Limburg: Limburger Vereinsdruckerei.
Messaris, Paul (1997): Visual Persuasion. The Role of Images in Advertising. London:
Sage.
Miller, Geoffrey (2010): Must-Have. The Hidden Instincts Behind Everything We Buy.
London: Vintage Books.
Möller, Heino R. (1971): Kunstunterricht und Visuelle Kommunikation. Sieben
Arbeitsthesen zur Konzeption eines neuen Unterrichtsfaches. In: Ehmer,
Hermann K. (Hrsg.) (1971), 363-366.
Oeil-de-Boeuf, Josee (2010): Marketing disent-ils. Dix-huit analyses navrees de la publicite
contemporaine. Paris: Le Tigre.
Copyrighted malerial
Plakate im DaF-Unterricht
235
Offensive (Hrsg.) (2010): Divertir pour dominer. Ta culture de masse contre les peuples.
Montreuil: Editions l'Echappee.
Packard, Vance (1962): Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewußten in jeder-
mann. Berlin: Ullstein.
Paul, Gerhard (2008): „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau". Schlag-
bilder antikommunistischer Bildrhetorik. In: Ders. (Hrsg.) (2008), 88-97.
Ramonet, Ignacio (2000): Propagandes silencieuses. Masses, television, cinema. Paris:
Gallimard.
Rebel, Ernst ( 2 20 09): Druckgrafik. Geschichte und ¥ achbegriffe. Stuttgart: Reclam.
Rebel, Ernst (2010): Meisterwerke der Druckgrafik. Stuttgart: Reclam.
Rücker, Matthias (2000): Wirtschaftswerbung unter dem Nationalsozialismus. Rechtliche
Ausgestaltung der Werbung und Tätigkeit des Werberats der deutschen Wirtschaft.
Frankfurt/ Main: Peter Lang.
Scherling, Theo; Schuckall, Hans Friedrich (1992): Mit Bildern lernen. Handbuch
Fremdsprachenunterricht. Berlin u.a.: Langenscheidt.
Schierl, Thomas (2005): Werbungsforschung. In: Sachs-Hombach, Klaus (Hrsg.)
(2005): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt/Main:
Suhrkamp, 309-319.
Schindelbeck, Dirk (1992): Hans Domizlaff oder die Ästhetik der Macht. Eines
Werbeberaters Geschichte. In: Geschichtswerkstatt 25: Werbung als Geschichte,
13-30.
Schönert, Walter (1988): Werbung, die ankommt. 1 99 Beispiele, Erfolgsregeln, praktische
Folgerungen. Düsseldorf: Econ.
Seidensticker, Mike (1995): Werbung mit Geschichte. Ästhetik und Rhetorik des
Historischen. Köln u.a.: Böhlau.
Staeck, Klaus (2008): Wie alles anfing. In: Ders. (2008): Plakate. Göttingen:
Steidl, 109-136.
Vorsteher, Dieter (2007): Bilder für den Sieg. Das Plakat im Ersten Weltkrieg.
In: Grohnert (Hrsg.) (2007), 123-125.
Westphal, Uwe (1989): Werbung im Dritten Reich. Berlin: Transit.
Copyrighted malerial
Copyrighted malerial
Autoren
Jens Grimstein, M.A.
Universite Paris Est Creteil (UPEC)
UFR Lettres et Sciences Humaines
Departement d'allemand
F-94010 Creteil Cedex
jens.grimstein@u-pec.fr
Dr. Marc Hieronimus
Universite de Picardie Jules Verne
Faculte de Langues
Section d'Allemand
F-80025 Amiens
marc.hieronimus@u-picardie.fr
Wolfgang Koller, M.A.
Lutherstr. 7
D-34117 Kassel
wolfgangkoller@yahoo.de
Prof. Dr. Uwe Koreik
Universität Bielefeld
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft
D-33501 Bielefeld
uwe.koreik@uni-bielefeld.de
Dr. Arndt Kremer
University of Malta
Department of German
MSD-2080 Malta
kremer.arndt@web .de
Copyrighted malerial
Autoren
PD Dr. Jürgen Nielsen-Sikora
Universität zu Köln
Historisches Institut
Abteilung Didaktik der Geschichte und
Geschichte der Europäischen Integration
D-50931 Köln
juergen.sikora@uni-koeln.de
Dr. Thomas Roth
NS-Dokumentationszentrum
EL-DE-Haus
Appellhofplatz 23-25
D-50667 Köln
thomas.roth@stadt-koeln.de
Dr. Joachim Sistig
Ruhr-Universität-Bochum
Romanisches Seminar
GB 8/140
D-44780 Bochum
sjsistig@aol.com
Beatrice Wiegand, M.A.
Doktorandin am Seminar für Sprechwissenschaft und Phonetik
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
D-061 14 Halle
bwiegand@gmx.net
Copyrighted malerial
Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine Fachtagung des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes (DAAD) im März 2011 zurück. Ihr lag eine simple Überlegung zugrunde: Im
Sprach- und Landeskundeunterricht sind Medien unerlässlich - warum nicht auf historische Quellen
zurückgreifen? Sie sind vielseitig einsetzbar, haben einen hohen Wiedererkennungswert und bieten
unzählige Anknüpfungspunkte an landeskundliche und medienwissenschaftliche Themen. Die Beiträge
einschlägiger Fachwissenschaftler stellen zunächst die wichtigsten Sammlungen und Portale im Internet
vor und fragen nach Aussagekraft und Praxiswert historischer Quellen. Eingehender behandelt werden
sodann die Quellen Tondokument, Spielfilm, Karikatur und Plakat sowie Straßennamen und Texte der
Arbeiterliteratur.
| w » ■ » » » m » g ■ » » a j
• •••••••••••• •
ISBN: 978-3-86395-061-3
(>• GEORG-AUGUST-UNIVERSITÄT
J[~y GÖTTINGEN
Universitätsdrucke Göttingen